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ein.lesewesen
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ZW

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Insgesamt 99 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2023
Blinde Tunnel
Alsterdal, Tove

Blinde Tunnel


ausgezeichnet

Als das schwedische Paar Sonja und Daniel sich in Böhmen einen Weinberg kaufen, sollte es für beide ein Neuanfang werden. Die Kinder sind aus dem Haus, um ihr Ehe steht es nicht zum Besten, und Sonja fragt sich mehr als einmal, warum es ausgerechnet Tschechien sein musste und nicht Portugal oder Spanien.
Das dazugehörige Haus ist ziemlich marode und als Daniel eine Mauer im Keller einreißt, entdecken sie dahinter nicht nur staubige Weinflaschen, sondern ein altes Tunnelsystem. Doch in dem Kellergewölbe finden sie auch die mumifizierte Leiche eines Jungen, der eine weiße Armbinde trägt. Die Polizei scheint sich nicht für die Identität des Jungen zu interessieren. Sie werden sogar aufgefordert, nicht darüber zu reden.
Zur gleichen Zeit lernen sie Anna kennen, eine englische Anwältin mit ostdeutschen Wurzeln. Kurz darauf wird sie tot auf dem Weinberg gefunden und Daniel als Verdächtiger verhaftet. Was hat Anna, die angeblich als Touristin unterwegs war, früh morgens auf ihrem Grundstück zu suchen?

Der Tod des Kindes ist der Auslöser für Sonjas Recherche, die sie in einn dunkles Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte führt. Alsterdal konzentriert sich zunächst darauf, die angespannte Stimmung in dem kleinen Ort zu zeichnen. Denn sobald die Sprache auf die Vergangenheit kommt, zeigen sich die meisten ziemlich zugeknöpft oder äußern unverhohlen ihre Meinung über die Sudetendeutschen von damals. Sonja findet bei Marta in der einzigen Buchhandlung im Ort erste Antworten, die Grausames offenbaren. Sonja ist schockiert, auch ihr Weingut hatte ehemals einer deutschen Familie gehört.

Die Geschichte der Sudetendeutschen reicht bis ins Mittelalter zurück und endete mit der grausamen Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Menschen wurden verprügelt, gefoltert, getötet, mussten ihr Hab und Gut aufgeben und wurden aus dem Land getrieben.

Es war mein erstes Buch der schwedischen Krimiautorin und ich hatte einen soliden Krimi erwartet – bekommen habe ich einen spannenden, tiefgründigen und gut recherchierten Kriminalroman, der bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Obwohl mir viele der historischen Fakten bekannt waren, konnte sie mich mit einigen neuen überraschen, denn die grausame Vertreibung hinterließ ihre Spuren auch in der Gegenwart.

Mir gefällt Alsterdals unaufgeregte, ruhige Art des Erzählens. Wer einen rasanten Krimi vermutet, liegt hier falsch und wird enttäuscht sein. Wer sich aber für das Thema der Sudetendeutschen interessiert, findet eine fundierte, gut recherchierte Story wieder. Das damals brutale, grausame Vorgehen der Tschechen wird ungeschönt geschildert, dass ich manchmal echt schlucken musste. Aber auch alle Folgen, die daraus erwachsen sind, der heutige Umgang damit haben mich stellenweise echt erschüttert.
Es geht um Vergangenheitsbewältigung und den daraus entstandenen Traumata, Wegschauen und Schweigen, Herkunft und Heimatlosigkeit.
Gegen Ende des Buches zieht sie das Tempo noch mal merklich an und bringt meine ganzen Vermutungen ins Wanken. Für mich war es eine sehr gelungene, überraschende Lektüre, die ich allen gern empfehle, die tiefgründige Geschichten mögen und keinen Pageturner suchen.

Bewertung vom 10.09.2023
Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden
Mvogdobo, Melara

Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden


ausgezeichnet

Ehrlich, hattet ihr auch schon mal böse Fantasien, als ihr von sexuellen Missbrauch, vor allem von Kindern, gehört habt? Die Autorin Mvogdobo geht noch einen Schritt weiter und erzählt von den Mordfantasien der fünf Schwestern, die von ihrem Vater missbraucht wurden.

»Ich werde meinen Vater umbringen. Ich werde ihn töten, auslöschen, hinrichten, eliminieren, ins Gras beißen lassen, ihn über den Jordan schicken, das letzte Stündlein für ihn schlagen lassen. Ich werde mit ihm abrechnen und mich dabei endlich selbst befreien.« S.13

... denkt sich die schwangere Céleste und ersinnt mit ihrer Schwester Sheshe und ihren Halbschwestern Lea und Marion äußerst kreative Tötungsarten, die sehr detailliert geschildert werden.
Nach vielen Jahren in der Schweiz – und nach vielen Frauen – kehrt der Vater im Alter in sein Heimatland Kamerun zurück, wo er von der ältesten Tochter Séraphine pflichtbewusst umsorgt wird. Die vier Schwestern planen also ihre Reise nach Kamerun und wollen Séraphine ins Boot holen, die Afrika nie verlassen hat und in einem traditionellen Rollenbild verhaftet ist. Doch den Alten umzubringen, gestaltet sich dann doch schwieriger als gedacht.

Mvogdobo lässt alle Frauen, einschließlich der Mütter zu Wort kommen. Und während ich mich noch über den »Klitoriszertrümmerer« und den Wunsch nach »mit Zähnen bewehrten Schamlippen« amüsiere, wird der Ton zunehmend ernster. Jede der Schwestern hat mit den Folgen des Missbrauchs durch den Vater zu kämpfen und will sich nun endlich aus der Selbstzerstörung befreien. Der Autorin sind hier wunderbare, tiefgründige Figuren gelungen, die nicht in die Opferrolle fallen, sondern durch das geplante Ereignis Kraft schöpfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Der Autorin ist hier ein sehr kontrastreiches Buch gelungen, das trotz des ernsten Themas mit vielen humorvollen Szenen aufgelockert und mit Sarkasmus angereichert ist, sodass sich auch einige schonungslos geschilderte Passagen gut verkraften lassen. Am Ende präsentiert sie uns noch eine Wendung, ganz eines guten Krimis würdig.
Sie wirft einen kritischen Blick auf die traditionelle Rollenverteilung, auf die seelischen Folgen von Missbrauch und den heilsamen Zusammenhalt der Schwestern, der ihnen Kraft und Mut gibt, sich aus ihren Dilemmata zu befreien. Sie spricht unverblümt über Gewalt und Betrug, spricht auch über Herkunft, Kultur und Aberglaube – und das alles auf 200 Seiten, ohne das ich das Gefühl hatte, etwas bliebe ungesagt oder angerissen.

Aber auch ihr Nachwort gibt mir zu denken. Sie schreibt, dass sie die Idee zum Roman bereits vor 20 Jahren hatte, ihr Manuskript aber immer abgelehnt wurde. Erst nach MeToo war die Verlagswelt scheinbar reif für diesen außergewöhnlichen Emanzipationsroman. Und bitte werft einen genaueren Blick auf das Cover, das übrigens von der Autorin selbst gestaltet wurde. Ich musste auch zwei Mal hinschauen.

Inhaltlich ebenso wie sprachlich konnte mich ihr Racheroman vollkommen begeistern. Und wer sich jetzt fragt, ob ernstes und makaberes nebeneinander funktioniert, dem kann ich nur sagen – ja, sogar wunderbar.

Bewertung vom 06.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

„Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen. Wir waren die, denen es schlecht ging! Ich hatte mich daran gewöhnt, ich hatte mir die ewig gleiche Platte seit dem Tag meiner Geburt angehört. Schon in der Fruchtblase hatte ich mich eingeschwungen: Schlecht geht es uns. Jetzt ging es ihr auf einmal gut.“ S.7

Bei dem neusten Buch des österreichischen Autors ist die Covergestaltung spartanisch – ein verrutschter Exlibrisstempel auf Packpapier – und einen Klappentext sucht man vergeblich, dafür steht auf der Innenseite: »Nichts wie sparen, sparen, sparen.« Und darum geht es auch hauptsächlich. Die 95-jährige Mutter des Ich-Erzählers hat noch drei Tage zu leben und »ist nicht mehr ganz da«. Aus der ehemaligen Geburtenklinik, wo Wolf und seine Brüder zur Welt kamen, wurde ein Altersheim. Ein Kreis scheint sich zu schließen und Haas nimmt die letzten Tage zum Anlass, über das Leben seiner Mutter zu resümieren. »Kann man übers Leben schreiben?«, fragt er sich zu Beginn.

1923 im Jahr der Hyperinflation geboren, ist sie ihr ganzes Leben bestrebt, Eigentum, also Wohneigentum zu erwerben. Doch ihr Traum verflüchtig sich mit dem sinkenden Wert des Geldes, was sie dem kleinen Wolf, kaum, dass er den Kopf heben konnte, fast mantraartig bei jeder Gelegenheit vorbetet.

»Die drei Phasen des Bausparvertrages hielt ich für einen Kinderreim. Die Berechnung der Bewertungszahl beherrschte ich im Schlaf. Als ich in die Volksschule kam, war ich bereits Professor für Inflationstherorie.« S.37

Daraus wird über die Jahre eine Litanei, die Wolf bald im Schlaf daher beten konnte. Nun will er diese Gedanken ein für alle Mal loswerden und schreibt die Geschichte nieder. Dabei lässt er seine Mutter im heimatlichen Dialekt zu Wort kommen, samt nit und gell. Als Kind einer armen Familie wurde sie weggeben, da man nicht alle Kinder ernähren konnte, später als Kellnerin in der Schweiz, schickt sie fast alles Geld nach Hause – für den Hausbau der Eltern. Ihr Lebensmotto – schuften, schuften, schuften. Doch es soll ihr ein Leben lang nicht gelingen, lediglich 2 Quadratmeter – mit Absenklift – wird sie ihr eigen nennen, die letzte Ruhestätte auf dem Friedhof.

„Sie konnte blind tippen mit dem Zehnfingersystem, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte einem Kind die Inflation erklären, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte Englisch, sie konnte Französisch, sie konnte Generationen von Wirtskindern durch die Schule tragen, aber sie konnte nicht mit den Leuten“ S.117

Das Leben der Mutter war ein unspektakuläres, gezeichnet von Entbehrungen, wie wohl das, vieler anderer Frauen ihrer Generation. Mit viel grimmigen Witz und typischer Haas-Sprachironie peppt es der Autor immer wieder auf. Mal genervt, mal lakonisch aber letztendlich doch liebevoll schaut er auf das ambivalente Verhältnis zwischen ihnen zurück und setzt somit seiner Mutter, die 2018 starb, ein Denkmal.
Tropft auch aus einigen Gedanken des Ich-Erzählers der pure Sarkasmus (»Sie besaß nichts, aber sie war ein bisschen besessen«), so ist das wohl dem Umgang mit dem dauernden Lamento der Mutter geschuldet, sieht er sich doch als »Festplatte« ihrer Erinnerungen. Und so scheint das, was er ein für alle Mal vergessen wollte, nun doch zu überdauern.
Es ist ein kurzes, schnelles Buch, das trotz des sensiblen Themas nicht bedrückend wirkt oder das Leben der Mutter herabwürdigt. Seine unverkennbare Erzähl- und Ausdrucksweise, die ich in seinen Brenner-Krimis so mochte, ist auch hier eindeutig erkennbar, was das Buch für mich zu einem Genuss machte, auch wenn es von einigen Wiederholungen durchzogen war.
Kann er nun vom Leben schreiben – ja, er kann.

Haas ist ein Jongleur der Alltagssprache par excellence, ein bisschen sprachwahnsinnig nennt man ihn auch und ihn freut’s, wenn er nicht immer Subjekt und Prädikat schreiben muss, wie er sagt.

Bewertung vom 05.09.2023
Der Schleuser
Coste, Stéphanie

Der Schleuser


ausgezeichnet

»Ich habe die Hoffnung zu meiner Handelsware gemacht. Solange es Verzweifelte gibt, werden auf meinem Strand Hühner aufkreuzen, die goldene Eier legen. Hühner, die blöd genug sind, von besseren Zeiten am gegenüberliegenden Ufer zu träumen.«

So beginnt die Geschichte des Schleusers Seyoum, der an der Küste Libyens seine Geschäfte mit Menschen macht, die die glühende Sahara durchquert haben und nun die andere Seite des Mittelmeers erreichen wollen. Keine dreißig Jahre alt zählt er zu den einflussreichsten Männern in seinem »Business«, doch innerlich ist er tot, so scheint es.
Es soll die letzte Fahrt des Jahres werden, von der er sich hunderttausend Dollar Gewinn verspricht. Das ist alles, was für ihn zählt, die Menschen bringt er unter unwürdigen Bedingungen wochenlang in einer stickigen Lagerhalle unter, Wasser bekommen sie nur ein Mal am Tag. Was aus ihnen wird, ist ihm egal, ihn ärgert nur, dass er sein Geld mit anderen teilen muss – die ihm die maroden Boote verkaufen, den Drogendealern, korrupten Bankern und Polizisten. Zehn Jahre ist er bereits im Geschäft und unzählige Leichen gehen auf sein Konto. Jetzt entdeckt er seine Jugendliebe Madiha auf der Liste und entscheidet sich, das Boot selbst durchs Mittelmeer zu steuern.

Das höchstaktuelle Thema wird aus einer anderen Perspektive erzählt, eines menschverachtenden Mannes, der skrupellos ist, zerfressen von einer inneren Wut, die er mit Khat und Gin betäubt. Coste lässt uns in Rückblenden in Seyoums Vergangenheit blicken, woher diese Wut und dieser Hass kommen. Seyoum stammt aus Eritrea, wo seit 1993 bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, Menschen aus dem Weg geräumt werden und verschwinden. Wir erfahren, dass er bereits 10 Jahre zuvor mit Madiha flüchten wollte und warum diese Flucht scheiterte.

Dieser Roman ist schonungslos, brutal und direkt. Auf nur knapp 130 Seiten gelingt es der Autorin, uns einen tiefen Einblick hinter das System von Schleusern und Menschenhändlern zu geben und das damit verbundene Leid der Flüchtenden. Sie zeigt aber auch auf, wie dieses Dilemma entsteht, dass Menschen zu so etwas grausamen fähig sind und ihre Menschlichkeit verlieren. Diese tiefe innere Zerrissenheit wird von Kapitel zu Kapitel spürbarer und schafft eine bedrückende Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Coste will hier keine Taten entschuldigen oder rechtfertigen aber zeigen, dass hinter all dem auch eine leidvolle Vergangenheit steckt, die Wurzeln des Übels sozusagen.
Denn wenn mir diese Geschichte wieder einmal etwas zeigt, dann, dass wir das unsägliche Leid der Flüchtenden erst beenden können, wenn die Ursachen bekämpft werden.

Stellenweise liest sich das Buch spannender als ein Krimi und überrollt einen förmlich und die Wendung im letzten Kapitel hat es wirklich in sich. Dicht erzählt und sprachlich herausragend, dafür sorgt auch die tolle Übersetzung aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald.

Ausgezeichnet wurde Costes Debütroman in Frankreich u.a. mit dem Prix de la Closerie des Lilas. Ich bin froh, dass ich wieder auf so einen kleinen feinen unabhängigen Verlag aufmerksam wurde, der mir mit diesem Buch fesselnde Lesestunden beschert hat.

Ich weiß, es ist kein leichtes Thema, aber das Buch bekommt eine absolute Leseempfehlung von mir.

Bewertung vom 03.09.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

1971 stellt ein Gericht fest, dass die an öffentlichen Schulen noch immer geltende Rassentrennung verfassungswidrig ist. Letzteres bedeutet, dass ab Herbst 1974 städtische Busse Schwarze Kinder zu Schulen transportieren, die bisher durchgehend „weiß“ waren und umgekehrt. Und das führt in Boston zu gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Afroamerikanern.

Mitten in diese Unruhen gerät der Autor Dennis Lehan als Neunjähriger und erzählt uns nun eine Geschichte, die echt unter die Haut geht.

Im irischen Stadtteil »Southie« werden Protestkundgebungen gegen den Gerichtsbeschluss geplant, denen sich auch Mary Pat anschließen will, denn sie hat ihre Gründe, warum alles so bleiben soll, wie es ist.
Mary Pat sie Hilfspflegerin und bringt sich und ihre 17-jährige Tochter Jules gerade so durch. Ihr erster Mann ist tot, ihr zweiter hat sie verlassen und ihr Sohn, ein Vietnamheimkehrer, ist an einer Überdosis Heroin gestorben. Jules war das Einzige, was ihr noch geblieben ist. Doch eines Nachts ist Jules mit ihren Freunden unterwegs und kommt nicht wieder nach Hause.
Es ist die gleiche Nacht, in der ein junger Schwarzer Mann in der U-Bahnstation bei einem Überfall zu Tode kommt, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Und nicht nur Mary Pat ahnt, dass Jules und ihre Freunde darin verwickelt sind.
Mary Pat macht sich mit all ihrem Schmerz auf die Suche nach ihrer Tochter und der Wahrheit. Doch sie rennt vor eine Mauer des Schweigens, was sie rasend vor Wut werden lässt.
Sie scheut auch nicht davor zurück, sich mit der mafiösen Butler-Crew anzulegen, die die wahre Macht in Southie haben. Doch was sie findet, ist auch ihre eigene Schuld, die sie bereit ist zu begleichen.

Lehan ist hier ein literarischer Krimi mit soziologischem Tiefgang gelungen, der detailliert, brutal, blutig und absolut stimmig die Spannungen und Persepektivlosigkeit damals in Boston zeigt.
Mary Pat ist keine sympathische Heldin, die aber mit der Zeit sehr viel Mitgefühl von mir bekam. Aufgewachsen mit Armut, fehlender Bildung und Gewalt kennt sie nichts anderes, als sich mit ihren Fäusten zu verteidigen. Sie weiß, dass die Cops auf der Gehaltsliste von Marty Butler stehen, also lässt ihr gesamtes Umfeld ihr gar keine andere Wahl, als als Selbstjustiz zu üben.
Ihr Gegenpart ist der Polizist Bobby Coyne, ein Vietnamveteran, der seine Drogensucht überwunden hat und Mary Pat aufhalten will. Er verurteilt ihre Vorgehensweise, sieht aber auch, dass das Justizsystem wenig mit Gerechtigkeit zu tun hat.

Lehane zeigt plausibel, wie rassistische Vorurteile entstehen, wie sie von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden und allgegenwärtig sind. Wer sich schwertut, rassistische Beleidigungen zu lesen, sollte die Finger von dem Buch lassen, denn Lehane ist gnadenlos authentisch in seiner Figurensprache.

Es war mein erstes Buch von Lehane, obwohl er mir durch seine Verfilmungen wie »Shutter Island« oder »Mystic River« bekannt ist. Und ich muss zugeben, dass ich mich am Anfang etwas schwertat mit den vielen Namen. Aber als ich drin war, hat mich die Geschichte nicht mehr losgelassen.
Lehane zwingt uns hinzusehen, und legt den Finger in die klaffende Wunde seines Landes, die auch 50 Jahre später nicht verheilt ist – und nicht nur in den USA. Er will, dass wir den strukturellen Rassismus verstehen und die damit verbundene Gewalteskalation.
Fazit
Die Story ist tempogeladen, absolut filmreif und von erschütternder Aktualität. Atmosphärisch dicht erzählt, absolut lesenswert, ganz klare Empfehlung von mir.

Bewertung vom 30.08.2023
Und hinter mir das Nichts
Obermanns, Berthe

Und hinter mir das Nichts


sehr gut

»Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.« S.120

Sara Becker ist Psychotherapeutin und ihr Leben entgleitet ihr in dem Moment, als sie vom Suizid ihres Patienten Herrn Mangold erfährt. Sie trifft keine Schuld, doch was für alle anderen nur bedauerlich zu sein scheint, stürzt sie in eine tiefe Sinnkrise. Ausgerechnet Mangold, der ein langweiliger Mensch war, der »seine Unscheinbarkeit bis zur Perfektion exponiert hatte«. Ist auch ihr Leben belanglos? Nur eine Aneinanderreihung von unwichtigen Ereignissen?
Sara gelingt es nicht, loszulassen, alles in ihrem Leben scheint ungewollt, sinnlos. Genauso wie der Umzug zu ihrem Freund. Ist es überhaupt ihr Leben?

»… und wieder fiel mir auf, wie unbarmherzig die Zeit einen durchs Leben scheuchte. Ich konnte sie hören, die Zeit, ihre Stimme drang in meine Ohren. Los jetzt, ein Kind, zwei Kinder, drei. Heiraten, erwachsen werden, du bist schon über dreißig, viel Zeit bleibt dir nicht mehr, schien sie zu rufen.« S.184

Alles um Sara herum wird enger, ihr wird klar, dass sie nicht mehr einfach so weitermachen kann. Gedanklich gleitet sie immer wieder zurück in die Vergangenheit – in ihr Elternhaus, wo es immer so still war, wo man den Schein wahrte, zurück zu Yannick, ihrem ersten Freund. Es wirkt fast so, als suche sie nach dem Punkt in ihrem Leben, an dem sie falsch abgebogen sei.
Realität und Fiktion verschwimmen zunehmend, als sie Nikto begegnet, die offenbar alles von ihr weiß.

Ich habe beim Lesen lange nach einer Handlung, einem roten Faden gesucht, bis ich verstanden habe, dass ich Saras Gedankenkarussell folgen soll. Nachfühlen, nachspüren. Dieser Moment, der plötzlich alles infrage stellt, der den Boden unter den Füßen wegzieht. Wie kann es sein, dass der Tod eines Menschen in allen nur ein kurzzeitiges Mitgefühl auslöst, die Welt sich aber weiterdreht und das eigene Leben aus der Verankerung reißt?

»Da ist dieser Drang bei den Menschen, alles zu verstehen, alles klassifizieren zu wollen – aber das lähmt nur, das schläfert das Gehirn ein.« S.196

Es ist, als suche Sara nach Halt, findet keinen und gleitet immer tiefer in einen Strudel aus Zweifeln und Angst. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss, Saras Gedankenwelt, die letztlich aus mehr Fragen als Antworten besteht, das keiner Logik folgt und bis ins Surreale driftet, Gedanken, die repetitiv an Mauern stoßen.
Berthe Obermanns gelingt es, eine tiefe innere Auseinandersetzung mit dem Sinn des Daseins spürbar in ganz eigene Worte zu fassen. Sie zeigt, dass dies auch mit einem inneren Diskurs über den eigenen Tod einhergeht – oft ein Tabu-Thema, über das wir nicht gern nachdenken.
Es ist kein Buch, das man eben mal so wegliest, denn immer wieder fand ich Parallelen zu meinem eigenen Leben, zu Fragen, die auch ich mir an manchen Wendepunkten meines Lebens gestellt habe. Fragen, die nicht immer Antworten haben. Aber manchmal nur eine Lösung zulassen.
Sprachlich habe ich die Autorin wiedergefunden, klar, präzise, auf einem hohen Niveau. Ihre Fragestellungen und Essenzen haben mich oft innehalten und reflektieren lassen. Zudem arbeitet sie mit vielen Symbolen und Elementen, die wie ein Anker wirken und letztlich für mich zu etwas wie dem anfangs vermissten rote Faden wurden.
Sie schafft eine zunehmend beklemmende, düstere Atmosphäre, die einen mitzureißen droht und in einem dramatischen Ende gipfelt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.08.2023
Kalmann und der schlafende Berg
Schmidt, Joachim B.

Kalmann und der schlafende Berg


ausgezeichnet

„Wenn mein Vater diesen Brief nie geschrieben hätte, dann hätten mir die FBI-Beamten nicht den Arm verdreht und mein Gesicht auf die Motorhaube des schwarzen Cherokee-Jeeps geknallt. Und das Silvesterfeuerwerk in Raufarhöfn hätte ich auch nicht verpasst. Das habe ich nämlich noch nie verpasst, das ist hier Tradition, und Traditionen sind wichtig, auch wenn man manchmal gar nicht mehr weiß, wie sie angefangen haben. So wie diese Geschichte.“ S.9

Auf kein Buch habe ich mich in diesem Monat so gefreut wie auf das. Endlich ist Kalmann wieder da!
Und seine Abenteuer sind diesmal echt nicht ohne. Puh, manchmal kann er wohl ganz froh sein, dass er nur »Fischsuppe« im Kopf hat, wie er selbst sagt. Aber der Reihenfolge nach.
Kalmann hat endlich eine Einladung von seinem Vater bekommen und reist nach Virgina. Corona hat zwar die Welt im Griff, aber er ist ja quasi irgendwie amerikanischer Staatsbürger. Ganz schön aufregend für ihn dort, denn er landet doch glatt nach einem »Familienausflug« in der Verhörzelle des FBI in Washington. Aber »kein Grund zur Sorge«, denn die hübsche Agentin will von ihm nur wissen, was ihn hierher geführt hat. Also erzählt uns Kalmann die Geschichte seines Großvaters, denn damit hat ja wohl alles angefangen.

„Ich war sehr stolz, der Enkel eines Mannes zu sein, über den die Leute sprachen. Und ich bin es noch immer, ich brauche nur an Großvater zu denken, denn Stolz ist wie ein Döschen voll Gammelhai, das man in der Hosentasche mit sich trägt. Proviant für die Seele.“ S.57

Tja, in welches Schlamassel Kalmann da wieder hineingerät, ist echt zum Schmunzeln. Kalmanns Heimreise kommt für ihn schneller als gedacht.
Zu Hause in Raufarhöfn wird’s wieder brenzlich für ihn, denn jemand ist der Meinung, dass Kalmanns Großvater vielleicht keines natürlichen Todes gestorben ist. Und eh er sich versieht, muss er tatsächlich wieder einen Mord aufklären und das ganz ohne seine Waffe, denn die hat man ihm ja nach seinem letzten »Fall« abgenommen.

Was für eine klug konstruierte Geschichte. Mich hat wirklich jede Wendung eiskalt erwischt. Aber als Tipp vorweg, ich empfehle, den ersten Teil zu lesen, da Kalmanns doch sehr spezielle Art und Weise dort bestens verständlich gemacht wird. Auch einige Figuren haben einen erneuten Auftritt, die man hier allein vielleicht nicht ganz einordnen kann. Schaden kann es jedenfalls nicht, denn Band 1 war echt toll.

Für alle, die Kalmann noch nicht kennen, er ist geistig in manchen Dingen auf dem Niveau eines Grundschülers stehengeblieben, lebt und denkt nach seinen eigenen Regeln und ist hin und wieder von der Außenwelt emotional überfordert. Schmidt schlüpft beim Erzählen in die Ich-Perspektive seines Protagonisten und als Leser*innen lernen wir, die Welt aus Kalmanns Augen zu betrachten. Das ist zunächst gewöhnungsbedürftig, da sich der Schreibstil entsprechend anpasst, hat man sich aber erst mal eingegroovt, ist es oft zum Schmunzeln, manchmal auch sehr nahegehend. Auch in diesem Buch hat mich der Autor für Kalmanns Wesen einnehmen können und Verständnis wecken können, dass der Umgang ein anderer ist, der manchmal etwas Zeit und Einfühlungsvermögen benötigt. Jedenfalls ist mir Kalmann jetzt noch mehr ans Herz gewachsen.

Schmidt schreibt sehr unterhaltsam, dass es mir auch diesmal schwerfiel, das Buch aus der Hand zu legen. Ihm gelingt es spielerisch, politische Ereignisse einfließen zu lassen, die aus Kalmanns Sicht nochmals einen anderen Touch bekommen. Corona spielt zwar als zeitlicher Hintergrund eine Rolle und wir erinnern uns sicher alle, dass wir manchmal daran verzweifelt sind, aber Schmidt zeigt auch, wie diese Einschränkungen sich auf Menschen wie Kalmann auswirken.
Zum Ende zieht die Spannung richtig an, ganz eines guten Krimis würdig. Alle Stimmungsbilder von Island katapultierten mich auch diesmal sofort ans Ende der Welt, wo (wie wir lesen können) eigentlich doch mehr passiert, als gedacht. Für mich war der zweite Teil sogar noch einen Tacken besser und ich hoffe sehr auf einen dritten.
Fazit
Wie anders doch die Welt aussieht, wenn man mal die Perspektive wechselt. Eine gelungene Fortsetzung – spannend, unterhaltsam und humorvoll.

Leider kursieren bereits einige Rezis im Netz, die die interessanteste Wendung spoilern, worüber ich mich echt ärgern könnte. Wer es also noch lesen will, sollte vielleicht einen Bogen um manche Rezis machen.

Bewertung vom 26.08.2023
WUT
Thelen, Raphael

WUT


gut

Es gab einen bestimmten Grund, weshalb ich das Buch lesen wollte, nämlich die Aktionen der »Letzten Generation zu verstehen, die überall zu hitzigen Diskussionen führen. Deshalb fange ich meine Rezension heute mal von hinten an. Raphael Thelen ist ein ehemaliger SPIEGEL- und ZEIT-ONLINE-Jounalist, der seinen Job an den Nagel gehangen hat und sich seit Januar in der Letzten Generation engagiert. Er begleitet schon seit Jahren die Klimabewegung, hat ein Sachbuch dazu geschrieben und setzt sich in seinem Debüt »Wut« mit der emotionalen Seite des Klimawandels und der Klimabewegung auseinander. Wie weit darf oder muss ziviler Ungehorsam heute gehen? Wie entsteht Wut und kann sie die Welt verändern?

Kommen wir zum Inhalt.
Drei junge Menschen sind mitten in einer »Latschdemo« in der Gluthitze Berlins. Sie fragen sich, ob diese Art von Protest überhaupt noch zu Ergebnissen führt. Aus einem spontanen Aktionismus heraus stürmen sie die Zentrale der DE (Deutschen Energie) und nehmen die Chefin als Geisel. Doch dann wissen sie nicht weiter. Parallel läuft die Demo weiter durch Berlin, wird von der Polizei verfolgt und besetzt die Baustelle einer Pipeline. Wut und Verzweiflung treibt die Aktivisten an und hat natürlich Folgen.

Hauptsächlich folgen wir den Geschehnissen und Gedanken aus der Perspektive von Vallie, aber auch Sara, ihrer Freundin, und Wassim kommen zu Wort, indem uns Thelen die Vergangenheit der jungen Protagonisten beleuchtet, ihren unterschiedlichen Backgrounds, ihre ganz persönlichen Gründe, sich der Klimabewegung anzuschließen. Das ist für mich sehr schlüssig dargestellt. Auch den spontanen Affekt, die DE zu stürmen. Nur würde ich es nicht Wut, sondern Verzweiflung nennen.

Thelen will zeigen, dass Wut alte Denkmuster aufbrechen und zu neuen Lösungen führen kann, so sein O-Ton in einem Interview. Er ist der Meinung, es braucht mehr Wut, um die großen Ziele zu erreichen.

Bin ich ganz bei ihm und ich finde, das alles hat er bis auf eine Ausnahme, die für mich inakzeptabel war (Robert, der nicht schlüssig bis zum Ende gezeigt wurde), auch plausibel dargestellt.
Über das Buch zu schreiben ist mir nicht leicht gefallen, denn dafür ist es einfach zu nah an den aktuellen Geschehnissen dran, die ich nur schwer ausblenden kann. Soll es nun eine reine Fiktion sein oder sollen hier Möglichkeiten aufgezeigt werden? Jetzt im Nachhinein bleibt seine Geschichte für mich zweigeteilt. Bis zum Ende der Demo, die übrigens in einem filmreifen Ende gipfelt, fühlte es sich für mich sehr glaubhaft an, nah an einem denkbaren Szenario. Allerdings ist seine abschließende Zukunftsutopie aus der Luft gegriffen, auch wenn es für ihn persönlich vorstellbar ist. Das hat die durchweg gute Story für mich zerstört.

»Was wir brauchen, ist nicht ihr Weiterso, sondern einen Neuanfang. Was wir brauchen, ist nicht ständige Angst, die uns eng, klein und hilflos macht, sondern Mut, Weite und Liebe.« S.152

… schreibt er kurz vor dem Ende. Ja, da stimme ich ihm zu. Aber Neuanfang bedeutet für mich eine Veränderung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, denn nur so lassen sich auch viele andere Missstände, für die heute gekämpft wird, angehen und überwinden. Hätte das Buch etwas mehr Umfang gehabt und wäre ein Weg dorthin sichtbar gewesen, hätte ich ihm gern auch seine utopischen Ausblicke abgenommen. Aber so steht dieser Blick auf eine komplett andere Gesellschaftsordnung, die aus illusorischen Lebensmodellen besteht, isoliert am Ende. Aber gut, jeder Generation hat ihre Träume, ich lasse sie träumen.
Allgemein hätte das Buch gern etwas wütender sein dürfen, weniger verzweifelt. Für mich ist das Buch leider kein Hoffnungsträger, auch wenn ich voll hinter den zu erreichenden Zielen stehe. Das mag aber an meiner Erwartung gelegen haben.

Fazit
Ich würde das Buch gern allen empfehlen, die sich mit der Thematik auseinandersetzen wollen, denn es bietet in jede Richtung kritischen Diskussionsstoff.

Bewertung vom 23.08.2023
Übertretung
Kennedy, Louise

Übertretung


ausgezeichnet

1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und bedient im Pub ihres Bruders Eamonn überwiegend protestantische Gäste. Zu Hause muss sie sich um ihre Mutter kümmern, die seit dem Tod ihres Mannes trinkt.
Vormittags arbeitet Cushla an einer Grundschule, wo die Unterrichtsstunde mit den neusten Nachrichten und deren Gräueltaten beginnen. Sprengfallen, Brandsätze, Plastiksprengstoff – gehören zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes.
Den kleinen Davy hat Cushla besonders in Herz geschlossen, da er von den anderen Mitschülern gemobbt wird und aus schwierigen Verhältnissen kommt, denn seine Eltern haben unterschiedliche Konversionen und sind immer wieder Ziel von Anfeindungen. Als wäre ihr Leben nicht schon kompliziert genug, verliebt sie sich in den älteren, protestantischen, verheirateten Anwalt Michael, der auch IRA-Mitglieder verteidigt.
Es ist erschütternd zu lesen, wie Cushla in diesen unsicheren Zeiten versucht, einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, den Kindern in der Schule trotz allem Sicherheit und Mitgefühl zu geben.
Im Vordergrund steht aber Cushlas verbotene Liebe zu Michael. Welche Konsequenzen das für sie haben kann, wird mit dem Fortgang der Geschichte immer deutlicher. Lehrerinnen sind schon für weniger entlassen worden. Doch auch ihre Hilfsbereitschaft für Davys Familie ist anderen ein Dorn im Auge und wird ihr, aber vor allem Davy, schneller zum Verhängnis, als gedacht.
Ich kenne diese Phase des Nordirlandkonfliks nur noch als Kind, aber es haben sich einige Bilder bei mir eingebrannt, die durch diese Geschichte wieder lebendig wurden.

Kennedy schafft eine zunehmend bedrückende Atmosphäre, denn die tägliche Gewalt zieht sich fast beiläufig und nüchtern durch den Roman. Wir erleben, wie der Alltag mitten im Nordirlandkonflikt aussieht, wie gewöhnliche Menschen sich nicht einschüchtern lassen und versuchen eine gewisse Normalität beizubehalten, ihr Leben trotz allem zu genießen, eine Hochzeit zu feiern, auch wenn diese verlegt werden muss, weil auf das gebuchte Hotel am Vortag ein Brandanschlag verübt wurde. Die Angst lauert hinter jeder Ecke, schaut man mit bangem Blick doch laut Verhaltensregeln morgens erst unter sein Autor, bevor man zur Arbeit fährt. Selbst auf dem Weg zur Party muss man mit den Schikanen britischer Soldaten rechnen.
Trotz ständig gegenwärtiger Gewalt pflanzt Kennedy immer wieder kleine Momente der Hoffnung ein, oder humorvolle, herzerwärmende Szenen, ohne kitschig zu werden. Doch alles weist von Beginn an darauf hin, dass die Geschichte nicht gutausgehen kann. Ständig zieht die Spannungsschraube an, aber auf die Wendung, die Kennedy am Ende einbaut, war ich nicht gefasst, auch wenn die Anzeichen die ganze Zeit da waren.
Ihr Schreibstil ist betont nüchtern und sachlich, auch die Liebesgeschichte wird wenig romantisch erzählt. Trotzdem schafft es Kennedy, uns die Charaktere, insbesondere Cushla und Davy, sehr nahezubringen und uns an sie zu binden. Und das war auch der Grund, weshalb mir das Ende sehr naheging.
Ich hatte zwar das Gefühl, dass Kennedy hier einiges an Geschichtswissen voraussetzt, das mir fehlte und mir dadurch vielleicht ein paar Kleinigkeiten entgangen sind, aber es bleiben trotzdem alle Zusammenhänge verständlich. Hilfreich sind auch die Anmerkungen im Anhang, die einige politische Details erklären.
Ein aufwühlender und intensiver Roman voller scharfsinniger Beobachtungen und brillanten Details, der absolut lesenswert ist und mich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.
»Übertretung« ist der erste Roman der irischen Autorin Louise Kennedy und stand auf der Shortlist des Women‘s Prize for Fiction.

Bewertung vom 20.08.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


ausgezeichnet

Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. Denn die sind ein recht sonderbares Völkchen, das gern seine Ruhe vor der Außenwelt hat.

Ach wo soll ich nur anfangen bei dieser wunderbaren Geschichte? Am besten mit Erna Rohdiebl, die mit ihren fast 80 Jahren und zwei Plastikhüften nachts bei der verreisten Nachbarin über die Hecke steigt und im Pool baden geht. Wie in jedem Dorf üblich, wissen morgens alle davon. Auch der Bürgermeister, denn genau so eine freiheitsliebende und mutige Mitstreiterin hat ihm noch gefehlt. Zu dritt überzeugen sie Erna bei Pusztafeigenschnaps und Speckbroten, den Oblivisten beizutreten. Seit Monaten entfernen sie Ortsschilder, löschen Wikipediaeinträge, manipulieren sogar Navis und besprühen auswärtige Radfahrer mit Jauche, damit um Himmelswillen keiner den Weg nach Nincshof findet. Denn sie wollen am liebsten von allen vergessen (lat. oblivisci) werden und zurück in ihr heimeliges, eigenbrötlerisches Dorfleben – so, wie es früher laut einer Legende einmal war. Wären da nicht die Zuagrasten mit ihren leuchtenden Irrziegen, die daraus am liebsten eine Touristenattraktion machen wollen.

Man sollte hier keine oberflächliche nur auf Humor abzielende Dorfgeschichte erwarten. Ja, ich hatte ein Dauergrinsen im Gesicht, denn das kauzige Personal hat das Herz am rechten Fleck und die Autorin ist nie drüber mit ihren skurrilen Schilderungen. Außerdem lehnt sie sich an den österreichischen Sprachgebrauch an, was ich wirklich gern lese. Hinter ihrer fast märchenhaften Geschichte verbirgt sich einiges. Wünschen wir uns nicht alle gern mal in dieser medial aufmerksamgeilen Welt ein ruhiges Plätzchen? So ganz ohne Verpflichtungen, Steuern, Oberhäuptern und Religion?

Was das Buch aber so liebenswert macht, sind die herzigen und aberwitzigen Details. Hier vererben die Frauen ihren Nachnamen und zetteln die kleinste Revolution der Welt an, hier gibst ein Jesusschwein im Krippenspiel, Pusztafeigen, mit denen man zwar monatelang überleben kann, aber auch schnell Gespenster sieht. Bisschen Asterixfeeling hat man schon beim Lesen, das gebe ich zu. Und wer sich jetzt an die Leky erinnert fühlt – ja, mir ist es auch ein bisschen so gegangen.
Hin und wieder sind ein paar Passagen zu langatmig geworden, wie zum Beispiel die Erörterung des Oblivismus. Auch Selma hätte es nicht in der Ausführlichkeit gebraucht, da es sehr von der Geschichte ablenkte. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.
Es ist einfach herrlich schräg, ich kann es nur jedem als DAS SOMMERBUCH ans Herz legen. Und wenn es abends bisschen kühler ist, lässt sich auch über das eine oder andere nachdenken. Erna Rohdiebl hat jetzt einen festen Platz in meinem Herzen. Ich hoffe, wir bekommen noch mehr von der jungen Autorin zu lesen.