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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 743 Bewertungen
Bewertung vom 16.07.2016
Theorie der Unbildung (eBook, ePUB)
Liessmann, Konrad Paul

Theorie der Unbildung (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine Streitschrift wider den Zeitgeist

Konrad Paul Liessmann setzt sich kritisch mit der Wissensgesellschaft und dem Reformeifer im Bildungsbereich auseinander. Er provoziert mit der Aussage, dass Unbildung die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes sei. Wie ist es heute um die Bildung bestellt? Findet der Wechsel von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft statt?

Im ersten Kapitel verdeutlicht der Autor den Unterschied zwischen lexikalischem Wissen und einem tiefgehenden Wissen um Zusammenhänge. Wenn es um Sinn, Bedeutung oder Zusammenhänge geht, so seine Erkenntnis, wird lexikalisches Wissen nicht weiterhelfen. Ist im Zeitalter einfacher Internetabfragen tiefgehendes Wissen noch erforderlich, um gesellschaftliche Anerkennung und wirtschaftlichen Erfolg verbuchen zu können?

Was hartnäckig Bildung genannt wird, orientiert sich an knallharten Wirtschaftsfaktoren, die jene Standards definieren, die der „Gebildete“ erreichen soll. Unter dieser Prämisse erscheinen Allgemein- und Persönlichkeitsbildung verzichtbar. In einer sich rasch wandelnden Welt scheint der Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen zu einer Tugend geworden zu sein.

Die Konkurrenz zwischen Bildungseinrichtungen spielte sich bislang zwischen unterschiedlichen Weltdeutungen, Methoden und Modellen ab und zwar als Konkurrenz um Zugänge zur Wahrheit. Im Gegensatz dazu führt das betriebswirtschaftliche Ranglistendenken zu einer Gleichschaltung der Strukturen und letztlich der Kulturen.

Das Wissensmanagement agiert wie ein Betrieb und der Wissensmanager versucht, unabhängig von Wahrheits- und Geltungsfragen, herauszufinden, welche Art von Wissen sein Unternehmen zur Lösung seiner Probleme benötigt. Dass Universitäten, die über eine tausendjährige Erfahrung im Umgang mit Wissen verfügen, sich in ihrer Umstrukturierung an solchen Unternehmensideologien orientieren, hält der Autor für Dummheit.

Es ist Liessmann gelungen, gezielt zu provozieren. Das Buch enthält zahlreiche Thesen gegen den allgemeinen Trend, es liefert aber keine Antworten. Ich vermisse konstruktive Antworten auf die Zukunftsfragen der Bildungssysteme.

Bewertung vom 16.07.2016
Die Jenseitsmythen der Menschheit
Steinwede, Dietrich / Först, Dietmar (Hgg.)

Die Jenseitsmythen der Menschheit


gut

An was glauben Menschen?

Vor 100 000 Jahren begannen Menschen ihre Toten zu bestatten und die Gräber kunstvoll auszuschmücken. In fast allen Kulturen der Welt war der Glaube verbreitet, dass der Tod kein Ende sei, sondern ein Durchgang. Es entstanden Jenseitsbilder, die das Verhalten der Menschen geprägt haben. Dies geschah nicht immer zum Wohl der Menschen, sondern oftmals wurde ein Geschäft mit der Angst betrieben.

Es gibt grundsätzliche Unterschiede zwischen dem linearen Weltbild der Juden, Christen und Muslime und dem zyklischen Weltbild der Hindus und Buddhisten. Dem Glauben an „ein“ irdisches Leben und dem ewigen Leben als Erlösung steht ein irdischer Kreislauf von Wiedergeburten gegenüber, dem es gilt, durch „Befreiung“ oder „Verlöschen“ zu entkommen.

Was glauben die Menschen in anderen Kulturen? Dietrich Steinwede und Dietmar Först beschreiben nicht nur Glaubensvorstellungen der bekannten Weltreligionen, sondern beziehen ethnische Religionen ein. So erfahren die Leser etwas über sibirische Schamanen, über das Totenlied der Pygmäen und über das dreigestufte Weltbild der Eweer in Südtogo.

Die Jenseitsmythen werden in übersichtlichen kleinen Kapiteln beschrieben. Komprimiert auf 160 Seiten, erhalten die Leser einen leicht verständlichen Einstieg in eine vielfältige Thematik – nicht mehr und nicht weniger. Es handelt sich nicht um eine kritische Reflexion über das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft oder über die Ursachen des Glaubens aus dem Blickwinkel der Evolution.

Bewertung vom 15.07.2016
Der Krankheitsermittler
Schäfer, Jürgen

Der Krankheitsermittler


ausgezeichnet

Ein Ärzteteam für schwierige Fälle

„Eine falsche Diagnose ist wie eine falsche Verdächtigung: Sie kann ratlos machen oder verzweifelt, wütend, hilflos, einsam.“ (17/18)

Jürgen Schäfer gibt Einblick in etwa ein Dutzend mysteriöse Krankheitsgeschichten. Diese erinnern teilweise an Fälle des ruppigen Fernseharztes Dr. House. Sie machen deutlich, wie schwierig die Diagnose bei seltenen Krankheiten sein kann. Autor Schäfer beschreibt die Fälle so, dass sie für Laien verständlich sind. Er lässt Perspektiven der Betroffenen, ihre Vorgeschichten und die Perspektiven der behandelnden Ärzte einfließen. Die Geschichten sind spannend aufbereitet. Es handelt sich nicht um Arztbriefe, sondern um mit wörtlicher Rede angereicherte Kurzgeschichten.

Der Autor trägt mit diesem Buch dazu bei, dass der Fokus auf seltene Krankheiten gerichtet wird. Er relativiert den Begriff „selten“ und erläutert, dass allein in Deutschland rund 5 % der Bevölkerung mehr oder weniger stark an einer seltenen Krankheit leiden. Dieser Bereich wird in der Forschung unterschätzt und in der Abrechnung vernachlässigt, wie der Autor deutlich macht.

Professor Schäfer ist Leiter eines speziellen Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen an der Universitätsklinik Marburg. Er möchte durch dieses Buch „auf unterhaltsame Art und Weise für ungewöhnliche Krankheiten sensibilisieren“. (10) Das ist ihm gelungen. Nicht nur aus der Danksagung am Ende des Buches geht hervor, dass der Autor ein humorvoller Mensch sein muss.

Bewertung vom 15.07.2016
Denkanstöße 2016

Denkanstöße 2016


sehr gut

Hintergründe – Perspektiven - Einsichten

Von den acht Aufsätzen der „Denkanstöße 2016“ habe ich vier ausgewählt, auf die ich kurz eingehe.

Ein Lichtblick sind die Erinnerungen von Frau Tietjen über die Demenz ihres Vaters. Wer die Krankheit aus seinem Umfeld kennt, weiß, dass Betroffene und Angehörige eine schwere Zeit durchmachen. Ihr gelingt es auf unnachahmliche Weise, die Erlebnisse humorvoll darzustellen und macht damit anderen Menschen in ähnlichen Situationen Mut.

Mutig sind auch die Ausführungen von Cornelia Stolze, die sich mit den Nebenwirkungen von Medikamenten beschäftigt. In der Pharmaindustrie geht es um sehr viel Geld und da werden negative Studien zu Lasten der Patienten schon mal unterschlagen. Auch sind viele Testverfahren insbesondere im Hinblick auf Dauerbehandlungen unzureichend. Die Autorin beschreibt systematische Mängel bei der Freigabe von Medikamenten und erläutert ein paar Fälle, die in der Vergangenheit in der Presse zu finden waren.

Jeanne Rubner macht deutlich, dass wir nur wenig über das menschliche Gehirn wissen und bei Erkrankungen des Gehirns im Nebel stochern. „Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet, wie es die Welt in seinem Inneren so abbildet, dass neue Erfahrungen und gespeichertes Wissen eine Einheit werden, wie wir zukünftige Handlungen planen – all das verstehen wir noch nicht einmal in Ansätzen.“ (148) Die Autorin macht an Hand von Beispielen deutlich, wie wir aus Erkrankungen lernen und dass psychische Krankheiten letztlich körperliche Leiden sind. Diese Erkenntnis hat sich auch heute noch nicht allgemein durchgesetzt.

„Dostojewskis Gelächter. Die Entdeckung eines Großhumoristen“ von Eckard Henscheid wirkt auf mich ein wenig abgehoben. In den Büchern, die ich von Dostojewski kenne (z.B. „Schuld und Sühne“), geht es primär um die tiefen Abgründe der menschlichen Seele und nicht um Humor. Das ist jedenfalls meine Wahrnehmung. Es mag sein, dass Dostojewski ein humorvoller Mensch war und der Autor als Dostojewski-Kenner diese Facette seiner Persönlichkeit im Fokus hat. Dennoch ist sein Beitrag mühsam zu lesen, selbst nicht humorvoll und spricht mich nicht an.

Meine Favoriten sind die Beiträge von Bettina Tietjen (über Demenz) und Cornelia Stolze (über die Nebenwirkungen von Medikamenten). Frau Tietjen überzeugt durch Offenheit und Frau Stolze durch ihren Mut, ein heikles Thema aufzugreifen. Letztlich gehören dazu auch eine Herausgeberin und ein Verlag, die das mittragen.

Bewertung vom 15.07.2016
In der Nähe des Meeres
Rasker, Maya

In der Nähe des Meeres


sehr gut

Zweifel an der Liebe

Die Zwillingsbrüder Job und Jona wohnen zusammen mit ihrer Mutter in einem Haus am Meer. Sie wachsen ohne Vater auf. Ihre Mutter ist eine gefeierte Schauspielerin. Die beiden Jungen sehen sich sehr ähnlich, unterscheiden sich aber in ihrem Verhalten und ihren Hobbys voneinander. Job ist interessiert und aufgeschlossen. Jona verbringt seine Zeit in der freien Natur und hat seltsame Sammelgewohnheiten. Die beiden Jungen sind aufeinander fixiert. Es gelingt ihrer Mutter nicht, in diese fast symbiotische Beziehung einzudringen. Eines Tages gibt sie Jona zu Pflegeeltern, mit der Begründung, er müsse zur Ruhe kommen und sie brauche mehr Zeit für Job. Mit dieser Entscheidung setzt sie eine dramatische Entwicklung in Gang, die niemand gewollt haben kann.

Der Roman gliedert sich in die zwei Hauptteile „Requisiten“ und „Monologe“. Der Begriff „Requisiten“ deutet darauf hin, dass die Autorin die Protagonisten des Romans als Figuren einer Inszenierung betrachtet, einer Inszenierung, deren Regisseur unbekannt ist. Die Erzählperspektive ist die des Zwillings Job. Der lineare Handlungsablauf wird durch Retrospektiven am Anfang und am Ende der Erzählung ergänzt. Ein Wechsel der Perspektive erfolgt in „Monologe“. Hier bezieht die Mutter in einer Art Gerichtsverhandlung zu ihrem Lebenslauf Stellung.

Die Beziehungen sind vielschichtig und die Charaktere widersprüchlich und tiefgründig. Jeder Versuch einer einfachen Deutung schlägt fehl. Die Autorin schreibt eindringlich, ohne endgültige Antworten zu geben. Sie umkreist die Themen „Liebe“ und „Leben“ und es wird deutlich, dass die Psyche des Menschen nicht ergründbar ist. Maya Rasker schreibt flüssig und verständlich. Trotzdem handelt es sich bei diesem Roman um schwere Kost.

Bewertung vom 15.07.2016
Die Methusalem-Lüge
Kistler, Ernst

Die Methusalem-Lüge


sehr gut

Wie mit demographischen Mythen Politik gemacht wird

Nicht alles, was unter dem Deckmantel der demographischen Entwicklung als zukunftsweisend beschlossen oder veröffentlicht wird, hält einer kritischen Überprüfung stand. Ernst Kistler, hauptberuflich mit dem demographischen Wandel und seinen Folgen beschäftigt, trennt die Spreu vom Weizen.

Der Geburtenrückgang ist ein Phänomen, das nicht nur in Deutschland, sondern europaweit beobachtet werden kann. Kistler thematisiert die Frage, ob Bevölkerungswachstum, insbesondere im Hinblick auf ökologische Folgen, stets positiv zu bewerten ist. Wenngleich in unserer globalen Wirtschaftswelt Wachstum als Wert an sich wahrgenommen wird, dürfen die Zusammenhänge zwischen Umweltbelastung und Bevölkerungsdichte nicht ausgeblendet werden. Begrenzte Ressourcen bedingen ein begrenztes Wachstum.

Im Hauptteil des Buches behandelt Kistler Mythen zum demographischen Wandel, in denen unter anderem zum Ausdruck kommt, dass die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Arbeitsmarktsituation falsch oder perspektivisch verzerrt dargestellt werden. So ist nicht belegbar, dass der demographische Wandel zu einem spürbaren Arbeitskräftemangel führen wird. Auf Basis des vorliegenden Zahlenmaterials ist es eher wahrscheinlich, dass auch in den nächsten Jahrzehnten ein Überangebot an Arbeitskräften vorhanden sein wird.

Kistlers sozialwissenschaftliche Kompetenz wird beim Thema Altersdiskriminierung deutlich. Der Jugendwahn in unserer Arbeitswelt hält an und ältere Arbeitnehmer haben auch bei hoher Qualifikation kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wie unter diesen Voraussetzungen die prognostizierte Kaufkraft der älteren Bevölkerung entstehen soll, bleibt das Geheimnis derer, die diese These unreflektiert in den Medien vertreten.

Im letzten Kapitel unterbreitet der Autor Vorschläge, wie die Politik mit dem Thema Demographie umgehen sollte. Er fordert langfristig angelegte Konzepte, die mehr umfassen müssen als Elterngeld und das Erschweren eines vorzeitigen Renteneintritts. Provokant ist sein Vorschlag, analog zum Umweltrecht, ein demographisches Verursacherprinzip zu etablieren, durch welches Unternehmen stärker in die Verantwortung genommen werden sollen.

Beim Blick auf den Buchumschlag entsteht der Eindruck, als ob der demographische Wandel nicht stattfinden würde. Aber dieser erste Eindruck wird beim Lesen revidiert. Autor Kistler beleuchtet alle Facetten dieses vielschichtigen Themas. Dreißig Seiten Anmerkungen und Literaturhinweise unterstreichen seine gründlichen Recherchen. Dass er tendenziell die Interessen der (alternden) Arbeitnehmerschaft im Fokus hat, macht ihn sympathisch.

Bewertung vom 15.07.2016

"Von Inseln weiß ich . . ."


sehr gut

Geschichten von den Färöern

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Anthologie, bestehend aus Klassikern der färöischen Literatur bis hin zu Erzählungen der Gegenwart. Zu den 25 Autoren/innen gehören Pioniere wie Sverra Patursson und Andrea Reinert, Klassiker wie Heðin Brú und William Heinesen sowie junge Literaten der Gegenwart wie Elias Askham und Marjun Kjelnæs.

Da das Buch nur aus Kurzgeschichten besteht, sind nicht alle Autoren mit ihren bekanntesten Werken vertreten. Erkennbar in den Geschichten ist, wie Themen und Motive über die Jahrzehnte weitergegeben und aus anderen Perspektiven betrachtet wurden. Für deutschsprachige Leser wird eine bislang kaum übersetzte Literatur in ihrer gesamten Bandbreite zugänglich.

Im Laufe der Jahrhunderte ist auf den Färöern auf Basis mündlicher Überlieferungen von Balladen, Sagen und Märchen eine eigenständige, experimentierfreudige Literatur entstanden, die sich mit den großen Themen der Menschheit beschäftigt. Die Geschichten sind nicht chronologisch angeordnet, jedoch befinden sich die Klassiker in der ersten Hälfte und die jüngeren Werke in der zweiten Hälfte des Buches.

Der bekannteste färöische Autor ist William Heinesen, dessen Werk „Nasse Heimat“ dem Buch als Vorwort vorangestellt ist. Heinesen ist mit der unterhaltsamen Geschichte „Don Juan vom Tranhaus“ vertreten, in der ein Schiffbrüchiger Malteser die Herzen vieler junger Inselfrauen bricht. Südländisches Temperament und färöische Traditionen prallen hier aufeinander und beschwören nach einigen Intrigen eine Tragödie.

Besonders gefallen hat mir die Parabel „Der Schmetterlingsverkäufer“ von Rakel Helmsdal, die von einem alten Mann handelt, der vom Verkauf seiner präparierten Schmetterlinge lebt. Diese bietet er im Winter bei eisigen Temperaturen auf der Straße an. Seine Identifikation mit den Tieren nimmt ungeahnte Ausmaße an.

Verena Stössinger und Ana Katharina Dömling weisen in einem Nachwort darauf hin, dass junge färöische Künstler sich lieber der Musik zuwenden als der Literatur, weil diese keine engen nationalsprachlichen Grenzen kennt. Die Geschichten liefern einen farbenfrohen Querschnitt färöischer Kultur.

Bewertung vom 14.07.2016
Islamismus
Seidensticker, Tilman

Islamismus


sehr gut

Die Wurzeln des islamischen Fundamentalismus

Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft, definiert zu Beginn seiner Ausführungen den Begriff „Islamismus“. (9) Anhand dieser Definition wird deutlich, dass es beim Islamismus um mehr geht, als um die Ausübung von Religion. Ziel ist die Umgestaltung der Gesellschaft anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden. An dieser Stelle werden zwei Probleme erkennbar und zwar ein inneres und ein äußeres. Hinsichtlich der Werte und Normen besteht innerhalb des Islam keine Einigkeit und die Werte und Normen sollen für die gesamte Gesellschaft, also auch für andere religiöse Gruppierungen, gelten. Beide Probleme führten in der Vergangenheit und führen auch heute zu Konflikten.

Der Islam ist nur auf Basis seiner geschichtlichen Entwicklung zu verstehen. Seidensticker erläutert daher den geschichtlichen Hintergrund, erklärt Wahhabismus und Salafismus, beschreibt die Entwicklung des Osmanischen Reiches, thematisiert den Kolonialismus und geht exemplarisch auf die Situation in Ägypten ein. Wer glaubt, dass hier ein einfaches Bild gezeichnet werden kann, wird eines besseren belehrt. Die Entwicklung ist vielschichtig, so wie auch die islamischen Führer, deren Biografien Seidensticker vorstellt, unterschiedlich sind. Einer der bekanntesten Führer ist Khomeini, der Gründer der Islamischen Republik Iran.

In den Medien wird man ständig mit Organisationen, Parteien und Gruppierungen aus der islamischen Welt konfrontiert, deren Entstehung und Ziele nicht allgemein bekannt sind. In den ausführlichen Beschreibungen werden die unterschiedlichen Strömungen deutlich und die Leser erhalten Informationen, ob es sich um radikalislamistische Gruppierungen oder eher um gemäßigte politische Gruppen handelt. Der Autor relativiert den Zusammenhang zwischen Selbstmordattentaten und der islamischen Religion, da solche Attentate der klassischen islamischen Tradition widersprechen. (113)

Das Buch ist sachlich, kompakt, informativ, aber auch ein wenig trocken. Auf nur 128 Seiten wird viel Inhalt geboten, wenngleich im Hinblick auf die Vielschichtigkeit des Themas Schwerpunkte gesetzt werden. So liegt der Fokus auf der arabischen Welt. Vermisst habe ich Ausführungen zu IS und Syrien, Themen, die in einem Buch von 2014 hätten behandelt werden können. So entsteht der Eindruck, dass das Gefahrenpotenzial des Islamismus nicht hinreichend behandelt wird.

Bewertung vom 14.07.2016
2° C
Rapley, Chris;Macmillan, Duncan

2° C


gut

„Ich setze meine Hoffnung auf die Ingenieure“

Seit 2014 führt Chris Rapley, zunächst in London und später in Hamburg, das diesem Buch zugrunde liegende Bühnenstück auf. "Ich finde es wichtig, dass Wissenschaftler neue Wege beschreiten, um die Ergebnisse ihrer Arbeit unter die Leute zu bringen“, sagt er in einem Interview. Diese Vorinformationen ergeben sich nicht unmittelbar aus dem Buch, sind aber für das Verständnis dessen Aufbaus wichtig zu wissen. Es handelt sich nicht um ein typisches wissenschaftliches und auch nicht um ein typisches populärwissenschaftliches Werk. „2° C“ ist eher die Präsentation eines Vortrages, in dem der Sachverhalt prägnant auf den Punkt gebracht wird.

Der Klimawandel ist real und heute spürbar. Als Professor für Klimawissenschaft ist Rapley ein Experte auf dem Gebiet. Das dynamische Gleichgewicht der Energie in unserem Klimasystem ist gestört. Das Meerwasser wird wärmer, das Eis der Polarkappen schmilzt, die Temperatur der Erdoberfläche steigt und der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre hat aktuell einen seit Menschengedenken noch nie da gewesenen Spitzenwert erreicht. Die Ursache liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit im menschlichen Handeln begründet. Die Auswirkungen sind existenzbedrohend.

Rapley lässt biografische Elemente in den Text einfließen. Die Umsetzung erfolgt in der Ich-Perspektive. Das verleiht dem Buch einen recht persönlichen Charakter. Dennoch dominieren die wissenschaftlichen Fakten. Rapley macht deutlich, dass selbst in seiner im Verhältnis zur Erdgeschichte kleinen Lebensspanne, große Veränderungen im Klima erkennbar sind. Der größte Teil des Temperaturanstiegs seit der vorindustriellen Zeit erfolgte in den letzten Jahrzehnten.

Selbst wenn die Kohlenstoff-Emissionen auf null begrenzt werden, senkt das die Temperatur noch nicht. Daran wird deutlich, dass zur Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen erforderlich sind. „Die Wissenschaft kann informieren, aber nicht urteilen, nicht entscheiden. Die Wissenschaft kann nicht sagen, was richtig und was falsch ist.“ (204) Doch, sie kann urteilen und sie kann auch sagen was richtig und was falsch ist. Das sollte die Wissenschaft nicht ausschließlich der Politik überlassen. Im Grunde genommen sieht der Autor das genauso, denn er schreibt: “Ich setze meine Hoffnung auf die Ingenieure.“ (194)

Das Buch ist angereichert mit Bildern und Grafiken. Eine Strukturierung in Kapitel ist nicht vorhanden, dennoch ist das Buch strukturiert aufgebaut. Leere und fast leere Seiten fallen auf und sind wohl ein Zugeständnis an die Form der Bühnenpräsentation. Potenzielle Leser sollten vorab einen Blick in das Buch werfen, um hinsichtlich des Aufbaus und des spärlichen Inhalts abschätzen zu können, ob das Buch die eigenen Ansprüche erfüllt. „2° C“ ist schnell gelesen, der Inhalt macht nachdenklich und liegt schwer im Magen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.07.2016
Der Nobelpreis
Eschbach, Andreas

Der Nobelpreis


ausgezeichnet

Gekaufter Ruhm

Andreas Eschbach erläutert zu Beginn seines Romans ausführlich die Entstehungsgeschichte und die Modalitäten für das Auswahlverfahren und die Vergabe des Nobelpreises. Das uralte höfische Zeremoniell beeindruckt Preisträger und Weltöffentlichkeit gleichermaßen. Eschbach bereitet die Leser mit diesem Einstieg auf das Unerhörte vor: Ist es möglich, die Preisvergabe zu manipulieren?

Damit ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich die Geschehnisse abspielen. Eschbach beschreibt ein Szenario, das die Vergabe der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung in einem anderen Licht erscheinen lässt. Entstanden ist ein lesenswerter spannender Psychothriller.

Professor Andersson, Mitglied der Nobelversammlung, wird Geld angeboten für die Wahl einer bestimmten Kandidatin. Er lehnt entrüstet ab. Daraufhin wird seine Tochter entführt. Bei seinen Nachforschungen wird Andersson schnell klar, dass es um ein viel größeres Komplott geht, in das Mitarbeiter der Polizei und zahlreiche Mitglieder des Nobelkomitees verstrickt sind. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Wer könnte Andersson helfen, die Erpresser ausfindig zu machen und seine Tochter zu befreien?

Eschbach schreibt flüssig und verständlich. Es handelt sich um eine durchgängige Erzählung. Im Laufe des Romans wechselt er von einer berichtenden Erzählform zu einer Ich-Form, ein Wechsel, der nur im ersten Moment verwirrt. Eschbach arbeitet zahlreiche Konflikte der Protagonisten einschließlich ihrer Vorgeschichten heraus, was den Roman besonders interessant macht. Die Beschreibungen der Handlungen und Beziehungen stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Der Roman ist zu empfehlen.