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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 757 Bewertungen
Bewertung vom 18.07.2016
Darwin heute
Neukamm, Martin;Lesch, Harald;Schuster, Peter

Darwin heute


ausgezeichnet

„Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Lichte der Evolution“

In „Darwin heute“ steht das interdisziplinäre Konzept der Evolution im Fokus. Die Bioevolution deckt in diesem Sinne nur einen Teilbereich der Entwicklung neuer Systemeigenschaften ab. Evolution gilt heute als tragendes Element eines modernen Weltbildes und so benennt Gerhard Vollmer in seinem Beitrag eine Vielzahl wissenschaftlicher Bereiche, die unter dem Begriff Evolution subsumiert werden können. (19)

Gibt es eine allgemeine Evolutionstheorie, Prinzipien, die interdisziplinär gültig sind? Vollmer stellt kurz Theorien von Daniel Dennett, Enrico Coen, Gerhard Schurz und Peter Mersch vor, wobei ihm letztere am ehesten zusagt, da Mersch ein geeignetes Abstraktionsniveau für eine universelle Evolutionstheorie gefunden hat.

Josef M. Gassner und Harald Lesch stellen das aktuelle kosmologische Weltbild vor. Sie beschreiben den Urknall als empirisch gesicherte Tatsache, wenngleich es in den Belegen wesentliche Lücken gibt (Dunkle Materie, Dunkle Energie). Dennoch gilt der Urknall mangels erklärungsmächtigerer Alternativen als Standardmodell der Kosmologie.

Die Evolutionäre Entwicklungsbiologie, kurz Evo-Devo, untersucht, wie sich die Steuerung der Individualentwicklung der Lebewesen (Ontogenese) in der Evolution entwickelt hat. Martin Neukamm beschreibt, was Evo-Devo heute leistet. Er liefert Erklärungen für den evolutionären Gestaltwandel.

„Weshalb ist die mineralische Zusammensetzung von Blut und Meerwasser auffallend ähnlich?“, ist eine der Fragen, denen Martin Neukamm und Peter M. Kaiser in ihrem Beitrag zur chemischen Evolution auf den Grund gehen. Eine plausible Erklärung bietet einzig die Evolution.

Eine relativ neues Wissenschaftsgebiet ist die Evolutionäre Bioinformatik. (126) Mittels computergestützter Modelle werden stammesgeschichtlich alte DNA- und Protein-Sequenzen rekonstruiert. Ziel ist es u.a., die Bedingungen in den früheren Ozeanen zu ermitteln, die aufgrund bisheriger Gesteinsanalysen kein einheitliches Bild abgeben.

Ein weiteres Themengebiet ist die Evolutionäre Biotechnologie, mit der sich Peter Schuster in seinem Beitrag beschäftigt. Im Fokus stehen molekulare Modellsysteme, die experimentell realisiert und theoretisch analysiert werden können.

Ressourcenknappheit führt zu Konflikten hinsichtlich der Investments in die drei Lebensbereiche Selbsterhalt, Wachstum und Reproduktion. Umwelteinflüsse beeinflussen die Entscheidungen und diese die Lebensverläufe. Charlotte Störmer und Eckart Voland beschäftigen sich mit der Theorie zur Evolution der Lebensgeschichte.

Andreas Beyer erläutert anhand des rückläufigen Kehlkopfnervs, der nicht den direkten Weg nimmt, sondern über einen Umweg vom Hirn zum Kehlkopf verläuft, wie Anpassung in der Evolution funktioniert.

Ein übergreifendes Thema bearbeitet Bernulf Kanitscheider, wenn er eine Brücke schlägt zwischen Ethik und Naturalismus. Er macht deutlich, dass ein starres Festhalten an Regeln, welche angeblich transzendenten Ursprungs sind, vielfach ins Unheil geführt hat. Werte sind keine autonomen Entitäten, sondern dienen dem Überleben. Der Mensch ist aus evolutionärer Sicht kein unbeschriebenes Blatt und Ethik ist zeitabhängig und situativ zu sehen.

In „Darwin heute“ liegt der Fokus auf dem interdisziplinären Konzept der Evolution. In einer Rezension können nur einige wenige Gedanken angerissen werden. Zu Wort kommen Experten ihrer Disziplinen, denen es auch gelingt, das Konzept der Evolution prägnant zum Ausdruck zu bringen. In den verschiedenen Beiträgen wird nicht nur deutlich, dass die Wissenschaft natürliche Erklärungen sucht, sondern auch, dass diese die plausibelsten Erklärungen sind.

Bewertung vom 18.07.2016
Quantentheorie in 30 Sekunden
Clegg, Brian

Quantentheorie in 30 Sekunden


sehr gut

Die erfolgreichste Theorie aller Zeiten

Können die Leser die Quantentheorie in 30 Sekunden erlernen? Sicherlich nicht. Die zugrunde liegende Physik ist so merkwürdig, dass Albert Einstein, einer der Wegbereiter dieser Theorie, sich Zeit seines Lebens weigerte, die Quantentheorie als gültige Beschreibung der realen Welt anzuerkennen. Dennoch gilt, dass die Quantentheorie bis heute allen Versuchen der Falsifikation standgehalten hat.

Brian Clegg unternimmt mit diesem Buch den Versuch, die Effekte der Quantenphysik einem breiten Publikum verständlich zu machen. Es geht um die Grundlagen der Theorie und der praktischen Anwendung in der Technik. Die Leser lernen die Protagonisten der Quantentheorie kennen einschließlich ihrer Lehren. Die Einzelthemen werden jeweils übersichtlich und gleichartig strukturiert auf einer Seite zusammengefasst.

Die Leser werden mit Begriffen konfrontiert wie „Superposition“, „Komplementarität“, „Quantenverschränkung“, „Dekohärenz“ und „Tunneleffekt“, um nur Beispiele zu benennen. Sie lernen das paradoxe Verhalten der Wellen bzw. Teilchen im Mikrokosmos kennen einschließlich verschiedener Interpretationen der Quantentheorie. Fakt ist, die Wirklichkeit liegt außerhalb unserer Vorstellungswelt.

Auch wenn das Buch wohl strukturiert ist und einen guten Überblick gibt, ähnelt es eher einem Lexikon und weniger einem Werk, welches Wissen im Zusammenhang vermittelt. Ohne Vorkenntnisse ist die Verwirrung groß. Daher empfehle ich zum gleichen Thema eher die zusammenhängende Darstellung „Auf der Suche nach Schrödingers Katze“ von John Gribbin. Hier fließt die historische Entwicklung ein, die für das Verständnis erforderlich ist.

Bewertung vom 18.07.2016
Die Macht des Guten
Goleman, Daniel

Die Macht des Guten


ausgezeichnet

Visionen eines Weltbürgers

Tenzin Gyatso, der Vierzehnte Dalai Lama, gilt als Wiedergeburt des Dreizehnten Dalai Lama, durchlief in seiner Kindheit eine Ausbildung als tibetischer Mönch und wurde im Alter von fünfzehn Jahren als geistiges und weltliches Oberhaupt Tibets ernannt. Nach dem Einmarsch der chinesischen Truppen floh er 1959 nach Indien. Seitdem versucht er aus dem Exil heraus die Situation seiner Landsleute in Tibet zu verbessern.

Daniel Goleman, Psychologe und Wissenschaftsjournalist, ist ein Freund des Dalai Lama und hat zu dessen 80. Geburtstag ein Buch geschrieben, in dem er die Visionen des Dalai Lama für die Menschheit vorstellt. Im Zuge der letzten 50 Jahre ist aus dem tibetischen Führer und Gelehrten ein Weltbürger mit zahlreichen Kontakten geworden.

„Es ist unrealistisch zu meinen, die Zukunft der Menschheit ließe sich mit Gebeten und guten Wünschen gestalten – wir müssen vielmehr aktiv werden und Hand anlegen.“ (7) Diese Meinung des Dalei Lama überrascht, aber zum Einen erweist er sich damit als undogmatischer Denker und zum Zweiten als handlungsorientierter Gestalter. Landesgrenzen sowie Grenzen religiöser oder kultureller Art spielen für ihn nur eine untergeordnete Rolle.

Das Buch ist in vier Abschnitte und zahlreiche Kapitel gegliedert. Im ersten Abschnitt erläutert Goleman, was der Dalai Lama für ein Mensch ist und welche historische Entwicklung ihn geprägt hat. Der Mensch wird anschaulich beschrieben, die Gründe für die chinesische Besetzung Tibets kommen zu kurz. Hier hätte ich mir tiefer gehende Hintergrundinformationen gewünscht.

Der zweite Abschnitt handelt von der Erforschung der Emotionen, von dem Spannungsverhältnis zwischen Gefühlen und Vernunft, von Selbstbeherrschung und Mitgefühl sowie von der wissenschaftlichen Erforschung der Emotionen. Auf diesen Gebieten ist Goleman als Psychologe ein Experte [1] und der Dalai Lama ein einzigartiges Studienobjekt. Für Mitgefühl gibt es gute Gründe und der Autor erklärt warum.

Der Dalai Lama pflegt Kontakte mit politischen Führern, mit sozialen Gruppen, mit Geschäftsleuten und mit Wissenschaftlern, wie im dritten Abschnitt beschrieben wird. Der Wissenschaft steht er sehr aufgeschlossen gegenüber und seit er den Friedensnobelpreis erhalten hat, interessiert sich die Welt auch für ihn. Er erkennt, wie auch schon Stefan Klein [2], dass die Zufriedenheit einer Gesellschaft umso höher liegt, je gleichmäßiger das Vermögen verteilt ist.

Der Dalai Lama denkt und plant langfristig, auch wenn er die Ergebnisse seiner Arbeit selbst nicht mehr erlebt. Er möchte einen Wandel in Richtung Humanismus. „Solange wir uns sagen, dass wir nichts tun können, bleibt alles, wie es ist ....“ (245) Seine Methode ist der gewaltfreie Protest, ein Weg, der Geduld erfordert. „Wer die Welt ändern möchte, …, muss erst einmal in sich selbst etwas ändern.“ (251) Das ist die Quintessenz aus dem vierten Abschnitt.

Der Dalai Lama ist grenzenlos, fast schon naiv, optimistisch. Er glaubt an das Gute in der Welt, auch wenn die Rahmendaten in politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Sicht düster sind. Goleman stellt den Dalai Lama so vor, einschließlich seiner Visionen, wie man ihn aus den Medien kennt. Insofern gibt es keine Überraschungen, eher vertiefende Einsichten. Es handelt sich um ein lesenswertes Buch über eine markante Persönlichkeit der Zeitgeschichte.

[1] Daniel Goleman: „Emotionale Intelligenz“
[2] Stefan Klein: „Die Glücksformel“

Bewertung vom 18.07.2016
Die Reise des Ibn Fattuma
Machfus, Nagib

Die Reise des Ibn Fattuma


ausgezeichnet

Utopie vom Glück

Ibn Fattuma, ein aufmerksamer Junge, wächst als Moslem auf. Er wundert sich bald über viele Ungerechtigkeiten in seinem Land. Eines Tages hört er von dem weit entfernten Gaballand, welches das einzige vollkommene Land sei. Aber niemand weiß Genaues über dieses geheimnisvolle Land. Er ist neugierig und so begibt er sich mit einer Karawane auf eine lange Reise durch die Wüste. Er will Weisheit erlangen und der Erste seines Volkes sein, der das geheimnisvolle Gaballand tatsächlich erreicht.

Auf seiner Reise lernt er viele Menschen und unterschiedliche Gesellschaftssysteme kennen. Manche Systeme favorisieren die Freiheit, andere Gerechtigkeit und wieder andere Spiritualität. Zu seinem Kummer stellt er fest, dass keine Gesellschaftsform perfekt ist. Die Reise zum Gaballand ist lang und beschwerlich. Die Reisenden müssen eine Wüste durchqueren und eine Bergkette überwinden. Eines Tages ist in der Ferne das Gaballand erkennbar.

„Die Reise des Ibn Fattuma“ ist eine Parabel über die Möglichkeiten und Schwächen der Menschheit. Das Gaballand entspringt der Sehnsucht nach Vollkommenheit. Der Mensch formt die Welt und schafft Ideologien, die er als Wahrheiten verkauft. Hierfür werden Kriege geführt und Morde begangen. Kein von Menschen entworfenes System ist vergleichbar mit der mystischen Vorstellung des Paradieses. Jede Ideologie vergewaltigt menschliche Wesenszüge und führt zu Unterdrückung und Krieg. Der Krieg verfolgt Ibn Fattuma durch alle Kulturen. Erst auf seiner letzten Station entwickelt er eine Ahnung von einem friedlichen Leben.

Nagib Machfus erweist sich, wie auch bereits in „Spiegelbilder“, als distanzierter Beobachter und Menschenkenner, der mit unterschiedlichen aber gleichwertigen Perspektiven umgehen kann. Vollkommenheit ist im Diesseits nicht erreichbar. Diese fundamentale Erkenntnis ist die Quintessenz aus diesem großartigen Buch, welches man, einmal angelesen, nur ungern zur Seite legt.

Bewertung vom 18.07.2016
Der nackte Affe
Morris, Desmond

Der nackte Affe


ausgezeichnet

Was ist der Mensch?

Wenn ein Mensch aus dem Blickwinkel eines Zoologen und Verhaltensforschers beobachtet wird, sind amüsante Antworten zu erwarten. Aus zoologischer Sicht ist der Mensch die einzige von 193 Affenarten, die nackt ist. Aber das ist nicht die einzige Besonderheit. Neben diesem ins Auge stechenden Detail gibt es Gemeinsamkeiten mit den Primaten, die verblüffend sind.

Desmond Morris untersucht in seinem Buch „Der nackte Affe“ die Herkunft und die Verhaltensweisen der Gattung Mensch. Er schlägt Brücken zur Tierwelt, wo sie aus dem Blickwinkel der Evolution geboten sind. So vergleicht er die Menschen mit seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen. Bei den Untersuchungen wird deutlich: Die gleichen biologischen Grundlagen führen zu ähnlichen Verhaltensweisen.

Autor Morris ist seiner Zeit weit voraus, so schreckte er 1967 nicht davor zurück, die menschliche Sexualität aus zoologischer Sicht emotionslos zu analysieren. Nicht nur, aber auch durch diesen Tabubruch wurde das Buch bekannt. Es ist längst zu einem Klassiker geworden. Morris' Einsichten führen auch bei aufgeklärten Menschen unweigerlich zu einer anderen Wahrnehmung.

Ernüchternd auch die Erkenntnis, wie die Religionen aus evolutionärer Sicht entstanden sind. Als Folge des Übergangs von einer absoluten Autokratie eines Führers einer Gruppe (Affenhorde) hin zu einer beschränkten Herrschaft, musste Ersatz geschaffen werden. Diese Lebensweise lässt eine Lücke offen, die durch die Erfindung eines Überwesens geschlossen wurde. Die Religion wurde geboren und zu einer wertvollen Hilfe für den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe.

Desmond Morris bringt auf den Punkt, was den Menschen ausmacht. Er besticht durch eine sachliche aber auch unterhaltsame Analyse der Verhaltensweisen des Menschen aus dem Blickwinkel der Evolution. Morris muss nicht mit allem was er schreibt recht haben, dennoch muss er erst einmal widerlegt werden. „Der nackte Affe“ ist auch heute noch sehr zu empfehlen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.07.2016
Die Tochter des Buchhändlers (eBook, ePUB)
Schenk, Sylvie

Die Tochter des Buchhändlers (eBook, ePUB)


gut

Die Suche nach sich selbst

Buchhändler Christoph Stamm ist gestorben. Seine Tochter Alice ist unschlüssig, ob sie den verschuldeten Buchladen übernehmen soll. Auf der Beerdigung trifft sie die Menschen, die ihrem Vater nahe gestanden haben und auch ihr selbst nahe stehen. Die Beziehungen dieser Menschen zueinander und zum Buchhändler bilden den Kern der Geschichte.

Es sind die Gedanken, Erinnerungen und Dialoge der Personen im Umfeld des Buchhändlers, die dem Roman Leben einhauchen. Aus diesen Beschreibungen lassen sich die Charaktere der Protagonisten rekonstruieren. Deutlich wird, dass der Buchhändler eine wichtige Integrationsfigur war. Sein Tod verursacht bei einigen seiner Freunde Unsicherheiten und Lebensängste.

Alice ist eine zentrale Figur in dieser Geschichte. Aus Andeutungen geht hervor, dass sie einen Roman verfasst. In einer Art Selbstinszenierung ist „Die Tochter des Buchhändlers“ quasi ihre eigene Geschichte im Spiegel ihre Umgebung. Dabei verschwimmen Roman und Geschichte im Roman ohne erkennbare Grenzen.

Sylvie Schenk setzt sich mit dem Thema Selbstfindung auseinander. Sie beschreibt ein komplexes Beziehungsgeflecht sinnsuchender Menschen. Das Gemeinsame der Protagonisten ist ihre Liebe zur Literatur. Diese Liebe generiert eine Scheinwelt, in deren Mittelpunkt der Buchhändler stand. Sein Tod löst eine Sinnkrise aus. Auch deshalb soll Alice den Buchladen weiterführen.

Es gibt in diesem Roman keinen roten Faden. So offen wie die Frage nach dem Lebenssinn ist auch der Roman.

Bewertung vom 18.07.2016
Erklärt Pereira, Großdruck
Tabucchi, Antonio

Erklärt Pereira, Großdruck


sehr gut

Pereira erklärt ... erklärt Pereira

Der Tod eines Journalisten, der zur Zeit der Salazar-Diktatur in Portugal einen kritischen Artikel gegen die Regierung veröffentlichte und danach ins Exil nach Frankreich gehen musste, inspirierte Tabucchi, diesen Roman zu schreiben. Die Geschichte spielt in Lissabon im Jahr 1938. Sie beschreibt einen Ausschnitt aus dem Leben des portugiesischen Journalisten Pereira, der den Kulturteil einer Lissaboner Zeitung redigiert. Pereira ist ein gebildeter älterer Herr. Er übersetzt mit Vorliebe Bücher französischer Autoren ins Portugiesische. Die aktuelle Politik interessiert ihn nicht. Seine Zeitung ist ein regimetreues Blatt, aber das nimmt er nicht wahr. Eines Tages lernt er den jungen Monteiro Rossi kennen, der dringend Geld benötigt und Arbeit sucht. Pereira stellt ihn als Praktikanten ein. Rossi schreibt ein paar Artikel, die Pereira allesamt für zu revolutionär hält und daher nicht veröffentlicht. Statt sich von ihm zu trennen, entwickelt er eine gewisse Sympathie für den jungen Mann und gibt ihm immer wieder eine neue Chance. Im Laufe der Zeit wird Pereira allmählich klar, dass Rossi ein Regimegegner ist, der ihn in Schwierigkeiten bringen kann. Aber Pereira hilft ihm und seiner Freundin und macht dabei einen persönlichen Wandel durch. Seine inneren Konflikte diskutiert er mit Doktor Cardoso, einem Arzt der Klinik, in der er sich zeitweilig aufhält und Pater Antonio, einem Franziskaner, den er manchmal aufsucht. Eines Tages muss Rossi sich bei Pereira verstecken. Er bekommt Besuch von der Geheimpolizei. Die Situation spitzt sich zu.

Auffallend ist der stilistische Aufbau des Romans. Passend zum faschistischen Umfeld im Portugal unter Salazar hat Antonio Tabucchi seinen Roman in Form einer Erklärung, wie sie für ein Verhör typisch wäre, abgefasst. Eindrucksvoll, wie die Atmosphäre zunehmend beklemmender wird. Als Erkenntnis aus diesem Roman kann der Leser mitnehmen, dass ein totalitäres Regime erst dann spürbar wird, wenn man seine freie Meinung zum Ausdruck bringen will. Unkritische Zeitgenossen, so auch anfänglich Pereira, sind sich dieser Situation nicht bewusst. Von diesem Roman, dessen Spannungskurve langsam wächst, geht eine gewisse Faszination aus.

Bewertung vom 17.07.2016
Ausgebrannt
Eschbach, Andreas

Ausgebrannt


ausgezeichnet

Das Ende des Erdölzeitalters

Wie wird die Weltwirtschaft reagieren, wenn die Erdölreserven zur Neige gehen? Diese Frage greift Andreas Eschbach in seinem Thriller „Ausgebrannt“ auf. Der Roman gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil entwickelt Autor Eschbach die Charaktere der wichtigsten Romanfiguren und zeichnet durch Retrospektiven deren Lebenswege nach. Die Energiekrise bahnt sich an. Im zweiten Teil geht es um das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und um Alternativen für die Energieversorgung.

Die Handlungsorte liegen in den USA, in Deutschland und in Saudi-Arabien. Eschbach beleuchtet ein weit verzweigtes Beziehungsgeflecht. Die Hauptrolle spielt der ehrgeizige und zielstrebige junge Wirtschaftswissenschaftler Markus Westermann, der zusammen mit anderen jungen Leuten aus verschiedenen europäischen Ländern nach New York fliegt, um bei einer Softwarefirma einen zeitlich befristeten Auftrag zu erledigen.

Eschbach erzählt parallel mehrere Handlungsabläufe, zwischen denen es Abhängigkeiten und Verbindungen gibt. Unter anderem geht es um eine bedeutende Erfindung, die Markus Westermanns Vater einst gemacht hat. Musste er dafür sterben? Zusammen mit seinen Geschwistern versucht Markus die Umstände des Todes zu klären und das Rätsel um die Erfindung zu lösen. Für wichtige Erfindungen interessiert sich auch der amerikanische Geheimdienst. Taggard, Mitarbeiter des CIA, beobachtet das Treiben von Westermann und seinem Partner. Seine Motive sind vielschichtig und bleiben nebulös.

Die Ölgeschäfte und den Expansionstrieb der Macht beschreibt Eschbach glaubwürdig. Wer große Geschäfte machen will, darf keine Hemmungen haben. Es ist faszinierend anzusehen, wie die Gier nach Geld und Macht Menschen verändern kann. Aber es geht nicht nur um windige internationale Geschäfte. Eschbach beleuchtet auch die Auswirkungen der Ölkrise auf Menschen, die auf dem Land leben. Hier ist Kreativität gefragt. Auf einmal wird es wichtig zu wissen, wie man Gemüse im eigenen Garten anbaut.

Der Roman ist angereichert mit Fachwissen aus der Ölindustrie. Die Leser erfahren einiges über die Entstehung und Verteilung der Ölvorkommen der Erde, über Methoden der Förderung und über die wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten der Ölwirtschaft. Die politische Situation von Saudi-Arabien wird ausführlich erläutert. Ein flüssiger Schreibstil und eine verständliche Sprache sorgen dafür, dass der rote Faden erkennbar bleibt. Für gelungen halte ich, wie Eschbach die Auswirkungen der Krise aus verschiedenen Perspektiven darstellt. Neben globalen Szenarien betrachtet er auch Einzelschicksale. Die Entwicklung der Charaktere wirkt glaubwürdig. Eschbach bringt zahlreiche Facetten menschlicher Verhaltensweisen ins Spiel. Da fossile Energieträger nur in begrenztem Umfang vorhanden sind, ist eine Ölkrise im realen Leben nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich. Der Roman wirkt erschreckend real.

Bewertung vom 17.07.2016
Lustigs Flucht
Mensching, Steffen

Lustigs Flucht


gut

Satire auf die Medien- und Konsumwelt

Ernst Lustig, promovierter Germanist und Literaturhistoriker, kommt mit seinem letzten Auftrag, einer Schillerbiographie, nicht voran. Auch sonst hat er Probleme. Seine Freundin hat sich von ihm getrennt, seine Lektorin wartet ungeduldig auf sein neues Buch und seine Freunde und Verwandten nerven ihn. So schließt er sich in seiner Berliner Wohnung mit dem Vorsatz ein, sie nicht zu verlassen, bevor sein Buch vollendet ist.

Die Abkopplung von der Gesellschaft erweist sich als schwierig. Unentwegt suchen Familienmitglieder, Auftraggeber und Freunde den Kontakt zu ihm. Protagonist Lustig zimmert sich eine Scheinwelt zusammen, um seine Abwesenheit von der Gesellschaft plausibel erklären zu können. Sein Rückzug bewirkt, dass er spleenig wird. Seine Ausreden werden zunehmend abenteuerlicher. Wann bricht das Kartenhaus in sich zusammen?

Protagonist Ernst Lustig (sein Name kann als Metapher für seine eigene Widersprüchlichkeit gedeutet werden) ist der tragische Anti-Held der Geschichte. Die Trennung von der Welt, gemeint ist die verlogenen Konsum- und Medienwelt, kann ihm nur gelingen, wenn er sich eine eigene verlogene Scheinwelt aufbaut. Somit lauern „Jenseits der Illusionen“ neue Illusionen. Menschings Roman ist eine Satire auf „Schein und Sein“ unserer Medien- und Konsumwelt.

Der Autor versteht es, seinen Roman mit zahlreichen Querverweisen zur Literatur anzureichern. Dennoch handelt es sich um zähen Stoff. Die Wende kommt mit der Figur des vietnamesischen Fahrradboten, Restaurantbesitzers und Händlers Minh. Dieser sorgt für Unterhaltung und dient als Quelle der Inspiration. Auch wenn der Plot ungewöhnlich klingt und neugierig macht, hat mich die Umsetzung nicht wirklich überzeugt.

Bewertung vom 17.07.2016
Kabarett der Täuschungen
Gardner, Martin

Kabarett der Täuschungen


ausgezeichnet

Ein Aufklärungsbuch

Das Buch ist mittlerweile über 30 Jahre alt und wird von vielen Lesern nicht mehr entdeckt oder beachtet. Dabei ist die behandelte Thematik aktuell, zumal der Büchermarkt mit Literatur über Esoterik überschwemmt wird. Dagegen gibt es nur wenige Bücher, die aufklären, die die Spreu vom Weizen trennen und Pseudowissenschaften als solche entlarven. Martin Gardner hat ein solches Buch geschrieben.

Auch wenn heute niemand mehr von Velikovskys Buch „Welten im Zusammenbruch“ spricht, in dem eine hanebüchene kosmische Theorie die orthodoxe jüdische Interpretation der Geschichten des alten Testaments verteidigen soll, so ist Kreationismus, also die Lehre von einer 6000 Jahre alten Erde, heute (vor allem in den USA) ein aktuelles Thema.

Gleiches gilt für den Löffelbieger Uri Geller. Bereits vor über 30 Jahren wurden seine Tricks entlarvt; keine Spur von Psi-Kräften. Trotzdem tritt er heute wieder mit dem gleichen Programm im Fernsehen auf. Wenn er als Zauberer auftreten würde, gäb es kein Problem mit seinen Shows, dann würde es sich um reine Unterhaltung handeln. Aber so zu tun, als ob hier Psi-Kräfte wirken würden, ist Scharlatanerie.

Weil Einstein einst das Vorwort zu der deutschen Ausgabe des Werks „Mental Radio“ von Upton Sinclair (ein Freund von Einstein) geschrieben hat (ein Buch über Telepathie), wurde ihm von manchen Zeitgenossen unterstellt, er glaube an Parapsychologie. In dem Buch sind mehrere Briefe von Einstein abgedruckt, die diese Auffassung revidieren.

Andere Themen, die Gardner aufarbeitet, sind Hautsehen, Begegnungen der dritten Art, sprechende Affen und diverse Katastrophentheorien. Auch der Interpretation der Quantentheorie ist ein Kapitel gewidmet.

Nach eigenem Bekunden im Vorwort glaubt Gardner nicht, dass wertlose Hypothesen der Gesellschaft großen Schaden zufügen. Für die Gebiete Medizin, Gesundheit und Anthropologie gelte dies allerdings nicht. Bevor man Geistheilern auf den Philippinen vertraut (deren Methoden hat schon Hoimar von Ditfurth in der legendären Sendereihe Querschnitte analysiert), sollte man lieber den Hausarzt aufsuchen.

Vielleicht trägt diese kleine Rezension dazu bei, dass Martin Gardners Buch „Kabarett der Täuschungen“ nicht in Vergessenheit gerät.