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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 21.03.2016
Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau
Feuchtwanger, Lion

Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau


sehr gut

Vitam impendere vero

Zum Spätwerk von Lion Feuchtwanger, einem der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller im vergangenen Jahrhundert, zählt der 1952 erschienene Roman «Narrenweisheit», dessen Untertitel «Tod und Verklärung des Jean-Jaques Rousseau» seine Thematik verdeutlicht. Er gehört zur Gattung der historischen Romane, mit denen der Autor, beginnend mit «Jud Süß», weltweit großen Erfolg hatte, und umfasst zeitlich die letzten Monate vor dem Tod des großen französischen Denkers und Schriftstellers 1778 bis zur feierlichen Überführung seines Leichnams ins Pariser Panthéon im Jahre 1794.

Bereits der Titel spielt darauf an, dass Rousseau, der im Roman fast nur Jean-Jaques genannt wird, neben seiner unbestrittenen Weisheit auch ein Narr war mit psychotischen Ängste und wahnhaften Abwehrreaktionen. Unbeholfen zudem, was seine privaten Lebensumstände betraf, sein Unvermögen beispielsweise, aus seinen Werken den ihm gebührenden finanziellen Nutzen zu ziehen. Wie so oft in seinem Leben war er auch 1778 nach heftigen Querelen in Paris wieder mal auf die Gastfreundschaft eines seiner Gönner und grenzenlosen Bewunderer angewiesen, des Marquis de Girardin, Seigneur von Ermenonville. Der aber konnte sich nicht lange im Ruhme des gefeierten Gastes sonnen, Rousseau verstarb ganz plötzlich, nach offizieller Version an einem Schlaganfall. Feuchtwanger, der sein Buch einen «Detektivroman mit historischem Hintergrund» nannte, ergänzt die Fakten jedoch um eine Mordgeschichte, der Liebhaber von Rousseaus Ehefrau Théresè habe den berühmten Denker aus Geldgier erschlagen, der Mord aber wurde aus den verschiedensten Gründen vertuscht und als haltloses Gerücht abgetan. Ebenfalls in die Handlung eingebettet ist die Romanze von Girardins Sohn Fernand mit Gilberte, eine Jugendliebe, die sich erst auf vielen Umwegen zu erfüllen scheint, wenn da nicht die Einberufung zur republikanischen Armee wäre, die ein mögliches Happy End für die Beiden letztendlich in Frage stellen könnte.

Das Besondere dieses stilistisch ausgezeichneten Romans ist die Fülle von historischen Ereignissen und berühmten Zeitgenossen, die hier eingebaut sind und die eigentliche Handlung immer wieder überlagern, die oft sogar im Zentrum des Erzählten stehen. Man erlebt als Leser den Beginn der französischen Revolution aus der Perspektive der Aristokratie, als deren geistiger Vater Rousseau angesehen wird, von Robbespiere, der ihn in Ermenonville besucht, grenzenlos bewundert. Im Verlauf der Revolution jedoch werden auch Girardin und sein Sohn denunziert und geraten ins Visier des republikanischen Tribunals, Fernand landet in Untersuchungshaft, sei Vater steht unter Hausarrest, beide trotz ihrer republikanischen Gesinnung. Gilberte, die durch Heirat in den Adelsstand erhoben wurde, muss sogar erkennen, dass die frisch errungenen Privilegien nun eher nachteilig, sogar hochgefährlich sind in Zeiten der Revolution mit ihren unvorhersehbaren Auswüchsen an Gewalt. Rousseaus eigentlich ja unpolitische Thesen erweisen sich als widersprüchlich und fragwürdig angesichts des jakobinischen Terrors, den er mit heraufbeschworen hat, Fernands einst felsenfeste Überzeugungen jedenfalls sind gewissen Zweifeln unterworfen.

Der flüssig lesbare Roman veranschaulicht durch seine historische Thematik, trotz mancher fiktiven Ergänzungen, recht eindrucksvoll und ohne wissenschaftlichen Anspruch die Wirkungen des Werkes von Jean-Jaques Rousseau auf den Gang der Geschichte. Insoweit bietet die Lektüre neben ihrem Unterhaltungswert en passant eine Auffrischung, wenn nicht sogar einen nicht unbeträchtlichen Zugewinn an Geschichtswissen für den Normalleser, bei mir war es jedenfalls so. Weit mehr als der ihm zugeschriebene, wirkmächtige Aufruf «Zurück zur Natur» überzeugt mich Rousseaus Wahlspruch «Vitam impendere vero», sein Leben der Wahrheit weihen scheint mir ein nachahmenswerter Vorsatz, auch wenn genau das, wie wir in diesem Roman erfahren, allzu schnell als Narretei abgetan wird.

Bewertung vom 11.03.2016
Die größere Hoffnung
Aichinger, Ilse

Die größere Hoffnung


sehr gut

Gedichte nach Auschwitz

In ihrem einzigen Roman «Die größere Hoffnung» thematisiert die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger das Schicksal eines halbjüdischen Mädchens während der Nazizeit. Der 1948 erschienene Band ist eine vehemente Absage an die nach dem Zweiten Weltkrieg weitverbreitete Kahlschlagliteratur, die darauf abzielte, die politische Vergangenheit ein für alle mal zu überwinden, einen radikalen Neubeginn zu erzwingen. Unbeirrt der Wahrhaftigkeit verpflichtet, schreibt die literarisch vielseitige Autorin mit diesem teilweise autobiografischen Roman nicht nur gegen die Verdrängung einer unliebsamen historischen Vergangenheit an, sie hinterfragt auch geschickt deren reale Vorbedingungen und analysiert ebenso scharfsinnig wie misstrauisch die wirksamen seelischen Triebkräfte, eine entschiedene Absage an jede Form von Konformismus.

Protagonistin des Romans ist Ellen, ein halbjüdisches Mädchen im Backfischalter, die bei der Großmutter lebt, weil die jüdische Mutter in die Emigration gehen musste und der Vater als Offizier die Familie verlassen hat, um seine Karriere nicht zu gefährden. Ellens große Hoffnung ist, der Mutter nach Amerika folgen zu können, dafür aber braucht sie ein Visum. In zehn Kapiteln entwickelt Ilse Aichinger ihre allegorische Geschichte über die Judenverfolgung am Beispiel von verfolgten Kindern mit «falschen Großeltern», die einen Judenstern tragen müssen, denen vieles verboten ist und die ständig mit der Angst vor der «geheimen Polizei» leben. Als der Krieg schließlich die Stadt erreicht, weitet sich der zunächst nur politische Wahnsinn zum absoluten Inferno, das sich jeder Deutung entzieht. Die traumatischen Erlebnisse und abenteuerlichen Begegnungen Ellens mit absurden Figuren sind konsequent aus Teenagersicht erzählt, deren Naivität literarisch als Vehikel genutzt wird, um das Unsagbare in Worte fassen zu können. Damit wird der Schrecken der Geschehnisse abgemildert, werden ihm fast märchenhafte Züge verleiht, eine konträre «Alice im Wunderland», ins Grauenhafte transformiert.

Die aus dieser speziellen Perspektive erzählte Geschichte bildet ein kunstvolles Konstrukt aus Träumen, Ängsten, Mythen und historischer Realität, chronologisch ungeordnet einer mal personalen, mal auktorialen Erzählhaltung folgend. Der lyrische Text dieser Gefühlswelt ist weitgehend unkonkret, bleibt beharrlich unbestimmt, ist geradezu surreal, in den Ängsten und Zwangsvorstellungen entfernt an Kafka erinnernd, aufgeladen mit reichlich Symbolismus. Er vermeidet konsequent jede Nennung von Namen und Orten des historischen Hintergrunds, umschreibt ganz bewusst reale Begriffe aus der Welt dieser schlimmsten Bösewichte der Menschheit. Die im ersten Drittel dominierende, ebenso märchenhafte wie konfuse Erzählweise wird später etwas abgemildert in ihrer Unstetigkeit, die wirren Gedankensprünge weichen einem etwas mehr auf Kontinuität im Erzählfluss setzenden Schreibstil, der gleichwohl die stete Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Wer sich jedoch einlässt auf diese sehr spezifische sprachliche Form, wer sich den erzeugten Bildern überlässt, der schwimmt schon bald mit auf einem Wörterstrom von beeindruckender imaginativer Kraft, dessen Wirkung man sich kaum noch entziehen kann.

Die zur Verknappung neigende Ilse Aichinger hat sich über ihren wenig gelesenen Roman wie folgt geäußert: «Ich wollte zunächst eigentlich nur einen Bericht über die Kriegszeit schreiben. An ein Buch habe ich gar nicht gedacht, ich wollte nur alles so genau wie möglich festhalten. Als das Buch dann bei Fischer erschienen ist, stand noch immer viel zuviel drin. Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen, nicht in zwanzig». Die so entstandenen Lücken muss der geneigte Leser füllen in diesem Klassiker, der auf beeindruckende Weise das Verdikt von Theodor W. Adorno über die Gedichte nach Auschwitz widerlegt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.03.2016
Memento Mori
Spark, Muriel

Memento Mori


gut

Ein Denkanstoß

Der deskriptive Titel «Memento Mori» weist lateinkundige Leser sogleich unverkennbar auf die ziemlich spezielle Thematik von Muriel Sparks 1960 erschienen Roman hin: «Denke daran, dass du sterben musst». Die in Schottland geborene Schriftstellerin löste mit diesem frühen Werk einst eine Kontroverse innerhalb des Feuilletons aus. Kann man, darf man, wurde da gefragt, Alter, Sterben und Tod, diese Zumutung für eine vernunftbegabte Menschheit, so locker und ironisch als Groteske darstellen? Man darf! Und seither wurde Muriel Spark als wichtige Autorin von Rang angesehen, nicht nur im englischsprachigen Raum. 1993 wurde ihr der Titel «Dame» des Order of the British Empire verliehen, die Liste aller ihrer Preise und Ehrungen ist imposant.

«Alter schützt vor Torheit nicht» könnte man dem Roman als Motto voranstellen, und vor Bosheit erst recht nicht, muss man hinzufügen. Drei alte Sünder sind die Protagonisten, Godfrey, seine Frau Charmian und seine Schwester Lettie, alle jenseits der siebzig, um sie herum ein illustres Völkchen der gleichen Altersklasse, die sich an Kuriosität gegenseitig zu übertreffen scheinen. Äußerer Rahmen für die Handlung sind mysteriöse Telefonanrufe, bei denen ein anonymer Anrufer immer wieder «Denken Sie daran, dass sie sterben müssen» sagt und dann auflegt. Die Frage, wer dahintersteckt, wird übermächtig, als neben Lettie, die als erste damit belästigt wurde, immer mehr der Senioren solche Anrufe erhalten, aber weder die Polizei noch ein zusätzlich engagierter Privatdetektiv können den Fall klären. Kunstvoll ineinander verwoben erzählt die Autorin von Testamentsänderungen, Erbschleicherei, Erpressungen, Heimtücke, Rachegelüsten, Bosheiten, Schrulligkeiten und Lebenslügen der Greise, die auch im hohen Alter alles andere als altersweise sind, die im Gegenteil hartnäckig ihre egoistischen Pläne verfolgen, gierig ihren finanziellen Vorteil suchen, ihre schuldbeladene Vergangenheit vertuschen wollen.

Einen breiten Raum nimmt dabei auch die körperliche Hinfälligkeit der Hochbetagten ein, ihr täglicher Kampf gegen ihre diversen Gebrechen, ihre Vergesslichkeit. Die Bühne dafür ist bis ins Altersheim und die geriatrische Klinik erweitert, wo Bettlägerige und Senile von Ärzten und Schwestern betreut werden, die nicht zu beneiden sind angesichts der Kampfeslust der Patienten. Mit schwarzem Humor schildert die Autorin ironisch die Aussetzer und mentalen Fehlleistungen ihres skurrilen Personals, eine zuweilen maliziöse Satire, die nicht selten ins Makabre abgleitet. Todesfälle und Beerdigungen sind dabei nicht ausgenommen, und so etwas wie Trauer kommt einfach nicht vor in dieser rabenschwarzen Geschichte. Wobei der englische Humor mich hier etwas enttäuscht hat, viel mehr als dass der wohlhabende Godfrey aus Geiz seine Streichhölzer aufspaltet habe ich nicht gefunden, stattdessen tea time bis zum Abwinken, very british eben. Die Story ist in der gesellschaftlichen Mittelschicht der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, man lebt recht auskömmlich ohne wirkliche Geldsorgen.

Der dialogreiche Text ist in einem leicht lesbaren Stil verfasst, bei der Fülle von Figuren ist allerdings erhöhte Aufmerksamkeit erforderlich, Lesern mit ausgesprochen schlechtem Namensgedächtnis sei ein Spickzettel angeraten. Nicht jeder wird mit der unverblümt sarkastischen Perspektive der Autorin einverstanden sein, Gott, Jenseits und Anderes aus der religiösen Wundertüte fehlt hier völlig, der Tod ist etwas so Normales, dass man kein Aufhebens davon macht, unbeeindruckt wieder zur Tagesordnung übergeht. Und so gibt es auch für die kriminalistische Frage eine einfache Antwort: «Ich bin davon überzeugt, dass der Urheber der anonymen Anrufe der Tod selbst ist, wenn man das sagen darf. Ich weiß nicht, was Sie dagegen unternehmen könnten, Dame Lettie. Wenn Sie sich nicht an den Tod erinnern, erinnert der Tod Sie an sich». Kann man das alles als Denkanstoß im Umgang mit dem Tod auffassen? Aber sicher doch!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.03.2016
Montauk
Frisch, Max

Montauk


sehr gut

Mein Name sei Frisch

Das epische Werk des Schweizer Schriftstellers Max Frisch ist autobiografisch geprägt, so auch die 1975 erschienene Erzählung «Montauk», die jedoch nicht fiktiv, sondern authentisch sei. Vorbild für diese Erzählhaltung ist Michel de Montaigne, aus dessen Einführung zu seinen weltberühmten «Essais» Frisch im vorangestellten Motto zitiert: «Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die örtliche Schicklichkeit erlaubt». Auf die Schicklichkeit komme ich noch zurück, Frisch selbst verdeutlich seine Absicht an einer der Stellen im Buch, an denen er die Entstehung des Textes von «Montauk» selbst thematisiert. «Ich möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position» merkt er dazu an.

Äußerer Rahmen der Erzählung ist ein Wochenendausflug zu dem titelgebenden Dorf Montauk an der Ostspitze von Long Island, mit dem eine Lesereise des Autors durch die USA endet. Der kurz vor seinem 63ten Geburtstag stehenden Frisch wurde durch eine 30jährige Angestellte des Verlages betreut und hatte mit Alice Locke-Carey, die im Buch Lynn heißt, eine Affäre. Beiden ist klar, dass ihr kurzes Techtelmechtel mit diesem gemeinsamen Ausflug enden wird. Geradezu dokumentarisch berichtet der Autor nun von den zwei zusammen verbrachten Tagen mit der jungen Amerikanerin, die keine Zeile von ihm gelesen hat. Mit scharfem Blick erfasst er die wenig spektakuläre Landschaft und die eher trostlose dörfliche Atmosphäre auf ihrem Kurztrip, der wegen Unpässlichkeit und temporärer Impotenz auch in sexueller Hinsicht nicht gerade ein Highlight ist. In vielen eingeschobenen Rückblicken erzählt Frisch von seinen Frauen, von den beiden gescheiterten Ehen ebenso wie von diversen Liebschaften. Wesentlich jedoch ist die Rückschau auf sein Leben, die Fragen des Alters und den Tod ebenso einschließt wie seinen berufliche Werdegang vom Architekten zum freien Schriftsteller oder seine anfangs prekäre finanzielle Situation. Eine lange Episode widmet er der besonderen Beziehung zu seinem langjährigen, als dominant empfundenen Mäzen und Jugendfreund, außerdem thematisiert er wiederholt auch seine literarische Arbeit als Dramatiker und Epiker. Dabei treibt ihn permanent die Sorge um, dass er mit seinen Texten dem realen Leben nicht wirklich gerecht wird, keine zureichend erscheinende Erzählform dafür gefunden hat.

Eine solch rigorose Selbstentblößung kann natürlich auch peinlich wirken auf die Leserschaft oder die realen Personen ziemlich verärgern; Abtreibungen zum Beispiel sind vermutlich eher ein allseits beachtetes Tabu als ein gern goutiertes literarisches Thema. Aber auch wenn sie die «Schicklichkeit» verletzen in Montaignes Sinne, sind die ungeschönten Geständnisse, bedrängenden Selbstzweifel und grenzenlosen Reflexionen von Max Frisch ein ebenso neuartiger wie bereichernder Erzählansatz abseits üblicher, aber unverbindlicher Fiktionalität.

Mit einer Fülle von trefflich beschriebenen Figuren gliedert sich diese collageartige Erzählung in fast zweihundert assoziationsreiche Einzelszenen unterschiedlichen Umfangs, die ohne kausalen Zusammenhang abrupt vom Gegenwärtigen zum Erinnerten springen. Das erfordert vom Leser viel Aufmerksamkeit, zum vollen Verständnis aber auch Kenntnisse der Vita des Autors. Die Erzählperspektive wechselt mit dem Erzählgegenstand, in den direkt erzählten Szenen wird in der dritten Person erzählt, in der Rückschau berichtet ein Ich-Erzähler. Was allerdings die apostrophierte Wahrhaftigkeit dieser Erzählung anbelangt, so wird man enttäuscht, es stimmt so gut wie nichts! «Mein Name sei Frisch» hat er selbst in Anspielung auf den vorhergehenden Roman geschrieben, seine Bewältigungsarbeit erweist sich also als gescheiterter Versuch zur Authentizität. Die literarische Bedeutung all dessen aber ist unbestritten, man sollte dieses Buch lesen, meine ich, es ist heute schon ein Klassiker!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.03.2016
Das Muschelessen
Vanderbeke, Birgit

Das Muschelessen


sehr gut

Demontage einer verlogenen Idylle

Gleich ihr Erstling «Das Muschelessen» hat Birgit Vanderbeke 1990 den Ingeborg-Bachmann-Preis eingebracht. Diese Erzählung ist bis heute ihr bekanntestes Werk geblieben und wird inzwischen auch als Schullektüre benutzt, nicht immer zur Freude der Schüler, wie man dem Internet entnehmen kann. In ihrer Geschichte finden sich einige Parallelen zur Vita der Autorin, obwohl sie jedwede biografische Ähnlichkeit natürlich verneint. Wer das Buch gelesen hat, weiß warum!

Ich-Erzählerin ist die gerade volljährig gewordene Tochter eines Ehepaares, das aus der DDR nach Westdeutschland übergesiedelt war und sich dort zur Zeit des Wirtschaftswunders, verbissen und zielstrebig, ein neues Leben aufgebaut hat. Der Vater ist als Mathematiker in hervorgehobener Position tätig, die Mutter arbeitet als Lehrerin, der Bruder ist wie die Erzählerin noch Schüler. Die Handlung erstreckt sich zeitlich über knapp vier Stunden eines Abends, an dem es Muscheln geben soll, das Lieblingsessen des Vaters. Als der sonst überpünktliche Vater um 18 Uhr noch nicht eingetroffen ist, beginnen die Drei sich zögernd über die ekligen Miesmuscheln zu unterhalten, die außer dem Vater eigentlich niemand richtig mag in der Familie. Je später es wird, desto anklagender werden die Gespräche über den abwesenden Vater und dessen despotisches Gehabe, dem alle devot folgen müssen ohne aufzumucken, der penible Ordnung verlangt und immer das letzte Wort haben muss als Oberhaupt einer richtigen Familie, wie er es immer nennt. Eine inzwischen geöffnete Spätlese löst Allen die Zunge, die Anklagen gegen den Vater werden immer drastischer, auch die anfänglich noch zurückhaltende Mutter begehrt zunehmend auf gegen ihren Mann, ob es nun um die Finanzen geht oder das Konzertabonnement, das Urlaubsziel oder das strenge Reglement im Tagesablauf, vor allem aber seine Brutalität bei dem, was er die Erziehung seiner Kinder nennt, die in Wahrheit eher einer Dressur gleichkommt. Am Ende erwähnt die Mutter zum Schrecken der Kinder sogar die mythische Königstochter Medea, «Alle vergiften, und dann ist Ruhe» sagt sie. Als um Viertel vor zehn schließlich das Telefon klingelt, geht die Mutter nicht ran, schüttet die inzwischen schlecht gewordenen Muscheln in den Mülleimer und sagt zum Sohn: «Würdest du bitte den Müll runter tragen». Mit diesem symbolträchtigen Satz endet die Erzählung.

In weiten Teilen wird die Geschichte in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, ohne Absatz und ohne direkte Rede geschrieben, in langen, hypotaktischen Satzkonstruktionen mit einer sehr naiv wirkenden Sprache. Gleichwohl werden damit unterschwellig viele Assoziationen ausgelöst, werden immer wieder wie unbeabsichtigt versuchsballonartig Stichwörter eingeschoben, die im Folgenden dann doch noch ausführlich thematisiert werden. Verdi, um ein Beispiel zu nennen, von dem der Vater jeden Sonntagvormittag eine Platte anhört, wobei er die Kinder zwingt, dabei zu sitzen. Und «wenn dieser Verdi im Wohnzimmer alle war», ist die Mutter aus der Küche gekommen und hat «gleich gelüftet, um den Troubadour rauszulassen», jene, wie sie - schon leicht beschwipst - an diesem Abend erstmals mutig sagt, «akustische Wohnzimmerpest».

Man hat also reichlich Grund zum Schmunzeln, es gibt aber auch genügend Möglichkeiten zu ernsthaften Interpretationen dieser gnadenlos demaskierten Familienidylle, die vor allem das damals gängige, patriarchalische Rollenklischee auf beschämende Weise als Terror und Unterdrückung bloßstellt. Soziologisch gesehen ein Abgesang auf eine gottlob überholte familiäre Rollenverteilung, der mir literarisch als sehr gelungen erscheint, weil hier in einer angenehm leichtfüßigen Form erzählt wird, die ganz ohne Pathos und erhobenen Zeigefinger auskommt. Durch diesen Mix ist die Erzählung sogar für Leute wie mich erfreulich zu lesen, die Miesmuscheln ebenso eklig finden wie diese bedauernswerte Familie, mit der sie zwei bis drei vergnügliche Lesestunden verbringen durften.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.03.2016
Nullnummer
Eco, Umberto

Nullnummer


gut

Die Lügenpresse als Waffe

Der vor elf Tagen verstorbene italienische Schriftsteller und emeritierte Professor für Semiotik Umberto Eco hat mit seinem im Vorjahr erschienenen Roman «Nullnummer» ein bemerkenswertes Alterswerk abgeliefert. Als Romancier hatte der damals 48jährige Eco ziemlich spät, erst im Jahre 1980, seinen äußerst erfolgreichen Debütroman «Der Name der Rose» veröffentlicht, seither erschienen ungefähr im Fünfjahresrhythmus sechs weitere Romane von ihm, die aber alle an den Erfolg seines Erstlings nicht anknüpfen konnten. Kennzeichen seines Schreibstils ist die für Eco typische Intertextualität, ein enges Beziehungsgeflecht zwischen allen literarischen Texten, welches für ihn, wie er sagte, das Spezielle seiner Geschichten ausmacht. In diesem letzten Roman nun geht es vornehmlich um journalistische Texte, wobei er als engagierter linker Autor hier einen furiosen Rundumschlag gegen das verfilzte Establishment seiner Heimat Italien führt, der niemanden verschont und den man nun, nach seinem Tode, auch als eine Art persönlicher Generalabrechnung deuten darf. Umberto Eco wurde als blitzgescheiter, hochangesehener Intellektueller mit Ehrungen und Auszeichnungen geradezu überschüttet, der Nobelpreis für Literatur blieb ihm jedoch versagt.

Wie schon in «Das Foucaultsche Pendel» und «Der Friedhof in Prag» widmet sich der Autor in dem 1992, zeitlich ganz bewusst, wie er sagte, vor der Verbreitung des Internets angesiedelten Roman «Nullnummer» dem Thema Verschwörungstheorien. Ich-Erzähler ist ein alternder Philologe namens Colonna, der für die neu zu gründende Zeitung «Domani» (morgen) schreiben soll, die als Enthüllungsmagazin gedacht ist und von einem als Commendatore bezeichneten Medienmogul finanziert wird, der unschwer als «Il Cavaliere» zu erkennen ist, wie Silvio Berlusconi von rechtsgerichteten Italienern respektvoll genannt wird. Ziel des Commendatore ist es aber, die vor dem Erscheinen der neuen Zeitung als Testexemplar produzierte Nullnummer als Druckmittel zu benutzen, um in den innersten Machtzirkel der italienischen Elite aufgenommen zu werden, die Zeitung selbst wird also nie erscheinen. Auch Colonna spielt ein Doppelspiel, er soll im Hintergrund bleibend ein Enthüllungsbuch über eben diese Art von skrupelloser Skandalpresse schreiben. In der neugegründeten Redaktion trifft er auf ein illustres Häufchen von Mitarbeitern, vom Klatschreporter über den Geheimdienstler, Kreuzworträtselschreiber, Korrekturleser und die Herz/Schmerz-Journalistin Maia, mit der er prompt ein Techtelmechtel beginnt, bis hin zum Aufschneider Braggadocio, mit dem er sich schon bald anfreundet.

Diese paranoide Figur steht denn auch im Zentrum von Ecos Geschichte, von ihm lässt sich Colonna in ausufernden Verschwörungstheorien erzählen, dass Mussolini nicht getötet wurde, die in Mailand aufgehängte Leiche sein Doppelgänger gewesen wäre, der Duce wahrscheinlich nach Argentinien geflüchtet sei und später im Vatikan darauf gewartet habe, dass ein faschistischer Putsch ihn wieder an die Macht bringt. In haarsträubenden, ineinander verwobenen Spekulationen nach dem Motto «Alles hängt mit allem zusammen» werden da prominente Personen der jüngeren italienischen Geschichte in allerlei Komplotte verwickelt. Betroffen sind ehemalige Ministerpräsidenten ebenso wie prominente Faschisten, Militärs, Kardinäle und Päpste, Geheimdienstler, Bankiers und Organisationen wie die Roten Brigaden, CIA und S.O.E. oder die paramilitärische Organisation der Nato namens Gladio, deren italienischer Ableger sich das Motto «Silendo Libertatem Servo» gegeben hatte.

Diese ironische Darstellung einer instrumentalisierten «Lügenpresse» wird vom deutschen Feuilleton natürlich nicht gerade bejubelt. Als amüsante Mediensatire aber transportiert der Roman unterschwellig viele Fakten in einem resignierenden Abgesang auf Bella Italia, dessen Ursache am Ende einleuchtend erklärt wird: «Seit die Korruption erlaubt ist, sitzt die Mafia im Parlament». Alles klar?

Bewertung vom 28.02.2016
Charlotte
Foenkinos, David

Charlotte


schlecht

C’est toute ma vie

Dem französischen Schriftsteller David Foenkinos ist mit seinem jüngsten Roman «Charlotte» ein Bestseller gelungen, der mit dem von Schülern vergebenen Prix Goncourt de lycéens geehrt wurde und auch in Deutschland prompt auf der Spiegel-Bestsellerliste landete. Seine Bücher gelten nicht gerade als schwere Kost, was angesichts der Thematik, um die es hier geht, denn doch Zweifel aufkommen lässt, ob der ebenso sensible wie anspruchsvolle Stoff bei ihm in den richtigen Händen gelegen hat. Denn es geht um nicht weniger als die tragische Biografie der jüdischen Berliner Malerin Charlotte Salomon, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Über sie zu schreiben sei dem Autor, wie er einräumt, geradezu eine Obsession geworden.

Mit den Worten «Das ist mein ganzes Leben» übergibt die 26jährige schwangere Künstlerin einem befreundeten Arzt in ihrem südfranzösischen Zufluchtsort einen Koffer zur Aufbewahrung, bevor sie in ein Lager der Nazis abtransportiert wird. Darin befindet sich in einem Konvolut von Zeichnungen auch ein von ihr als Singspiel bezeichneter Bilderzyklus «Leben? Oder Theater?», eine im Sinne Wagners als Gesamtkunstwerk gedachte, mit Texten und zu unterlegender Musik komplettierte Autobiografie. An diesem Werk entlang, das heute im Jüdischen Museum in Amsterdam aufbewahrt ist, erzählt Foenkinos seine fiktional angereicherte Geschichte. Zwischendurch berichtet er immer wieder mal auch von seiner Spurensuche, beginnend bei den Stolpersteinen im Pflaster vor dem Wohnhaus in Berlin-Charlottenburg und endend in Südfrankreich, wo statt der alten Villa, die ihr einst als Unterschlupf gedient hatte, nun eine protzige neue Villa steht, deren Bewohner keinerlei Verständnis für seine Recherche zeigen.

Er sucht Spuren von Charlotte, in deren Familie sich die Selbstmorde häuften, deren Jugend vom aufkommenden Nationalsozialismus überschattet wurde, die immer wieder den schikanösen Pressionen gegen die Juden ausgesetzt war. Ihre Eltern sind anfangs noch optimistisch über die weitere Entwicklung in Nazideutschland. Bei «optimistisch» fügt Foenkinos eine jener für ihn typischen Fußnoten ein, die da lautet: «Die Optimisten kamen nach Auschwitz, die Pessimisten nach Beverly Hills, meinte Billy Wilder». Wie wir im Epilog lesen, überlebten die Eltern im holländischen Untergrund, die zu den Großeltern geflüchtete Charlotte tragischerweise eben nicht! Erzählt wird diese Tragödie in einer stilistisch eigenwilligen Form, in extrem kurzen, niemals über eine Buchzeile hinausreichenden Einzelsätzen nämlich, was Flattersatz bedeutet, im Seitenlayout also eher wie Lyrik wirkt statt wie Prosa. Dieser nebensatzarme Stil erzeugt einen abgehackten, stakkatoartigen Rhythmus beim Lesen, das durchgängig verwendete Präsens unterstreicht noch diese stereotyp anmutende Diktion. Am Ende des dritten von acht Kapiteln lesen wir dazu:
«
Ich verspürte ständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.
Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste.
»
Peinlich wird das Ganze, wenn der Autor vermeintlich authentische Gefühle seiner Figur beschreibt, die Liebe zum Beispiel, und dann die romantischen Gefühle seiner Heldin zynisch mit Männern konterkariert, deren unbeholfene Distanziertheit derartige Gefühle als Trugbilder entlarven sollen. Ein Gschmäckle, wie der Schwabe sagt, hat auch die in der Familie als immanent dargestellte Todesverfallenheit in Hinblick auf Charlottes Tod, gleich im ersten Satz heißt es darauf anspielend: «An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen.» Ein ebenso wenig entschuldbarer Fauxpas ist der voyeuristische Blick in die Gaskammern von Auschwitz. Folgt nun «Anne», werden auch die Tagebücher Anne Franks demnächst ebenso impertinent ausgeschlachtet? Mir erscheint der Autor unsensibel wie Paparazzi auf der Jagd nach Sensationen, sein Roman gleicht stilistisch genau dieser Boulevardpresse, er ist einfach nur auf dem Grauen der Nazizeit basierender Kitsch!

Bewertung vom 24.02.2016
Stille Zeile sechs
Maron, Monika

Stille Zeile sechs


sehr gut

Ganz ohne DDR-Mief

Die Biografie der deutschen Schriftstellerin Monika Maron erklärt so manches in ihrem Œuvre, 37 Jahre DDR haben darin deutliche Spuren hinterlassen und zeigen sie als kämpferische Literatin, die sich auch heute noch politisch einmischt, so wenn sie sich zum Beispiel in der WELT unter dem Titel « Pegida ist keine Krankheit, Pegida ist das Symptom» mit der Fremdenfeindlichkeit im «Tal der Ahnungslosen» auseinandersetzt. Nun war auch die DDR keine Krankheit, aber ein Unrechtssystem, welches sie in dem 1991 erschienenen Roman «Stille Zeile Sechs» literarisch so gekonnt, geradezu zwingend vorführt, dass jeder Einwand sich selbst dekuvriert.

Die Ich-Erzählerin Rosalind Polkowski, eine ledige Historikerin Anfang vierzig, kündigt nach mehr als fünfzehn Jahren Knall auf Fall ihre Stelle in der Barabasschen Forschungsstätte, an der sie fachlich «für die Entwicklung der proletarischen Bewegung in Sachsen und Thüringen» zuständig ist. Sie komme sich nutzlos vor, wolle nicht mehr «für Geld denken», ihr «einziges Leben» nicht mehr «wie Küchenabfall zur Mülltonne tragen». Stattdessen wollte sie lieber Klavierspielen lernen, endlich die als unübersetzbar geltenden Rezitative aus «Don Giovanni» ins Deutsche übertragen, sich ernsthaft mit dem Werk von Ernst Toller auseinandersetzen, dessen Gesamtausgabe sie ungelesen im Bücherschrank stehen hat. Die guten Vorsätze bleiben unerfüllt, über den «Flohwalzer» kommt sie am Klavier nicht hinaus, ihre anderen Projekte bleiben schon im Ansatz stecken. Denn sie hat sich von dem ehemaligen DDR-Bonzen Beerenbaum engagieren lassen, der ihr seine Memoiren diktieren will, eine reine Schreibarbeit, bei der sie nicht denken muss. Eine Weile hält sie das auch durch, irgendwann aber kommt es doch zum Disput, kann sie sich nicht mehr zurückhalten, stellt dem Apparatschik von einst hochnotpeinliche Fragen. So inquisitorisch letztendlich, dass der «Professor» mit Volksschulabschluss, qualifiziert einzig und allein durch seine Parteikarriere, sich konfrontiert sieht mit dem bösen Ränkespiel um eine Dissertation, die einst als Paket auf dem Postweg nach Westberlin abgefangen wurde. Was dann auf sein Betreiben hin damals zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe führte, die die akademische Karriere eines hoffnungsvollen jungen Wissenschaftlers für immer zerstört hat. Der Bonze überlebt diese ihn entlarvende, heftige Auseinandersetzung nicht, Rosa geht widerwillig zu seiner Beerdigung, sein Sohn überreicht ihr am Friedhofsausgang, - auf Wunsch des verstorbenen Vaters, wie er sagt -, ein Paket. «Ich werde es auf keinen Fall öffnen» lautet der letzte Satz des Romans.

Das Paket enthält, darf man vermuten als Leser, jene verhängnisvolle Dissertation, die den «Grafen», eine liebenswert skurrile Figur aus Rosas Stammkneipe, einst hinter Gitter gebracht hat. Dort verkehrt auch Bruno, ihr Exfreund, den der Graf nur mit Brünoh anredet, beide stehen in der Hierarchie der kunterbunten, schrägen «Kneipenpersönlichkeiten» als Lateiner ganz oben. Die Autorin erzählt ihre Geschichte, die Spannung damit steigernd, nicht strikt chronologisch, sondern oft in Rückblick und Vorschau, beginnend mit der Beerdigung. Und sie tut das so gekonnt, dass man als Leser die Zusammenhänge mühelos erkennt, sogar wenn sie überraschend die Perspektive wechselt, über Rosalind plötzlich in der dritten Person berichtet.

Trotz der ernsten Thematik des Romans, bei dem die Aufarbeitung der Vergangenheit auch vor der eigenen Person nicht halt macht, der also Raum gibt für vielerlei philosophische Betrachtungen, muss man doch häufig schmunzeln beim Lesen, die Kneipenszenen sind allemal köstlich amüsant. Man darf sich aber auch über viele gelungene Wendungen freuen: «Mein Gedanke war weniger blutrünstig als der Satz, in den er schlüpfte» ist ein schönes Beispiel dafür. Und dass Monika Maron ganz ohne den typischen DDR-Mief auskommt bei ihrer in den achtziger Jahren angesiedelten Geschichte, das empfand ich als Wessi besonders angenehm.

Bewertung vom 23.02.2016
Kassandra
Wolf, Christa

Kassandra


sehr gut

Mythischer Determinismus

Einem verpassten Flug nach Athen verdanken wir die Erzählung «Kassandra» von Christa Wolf, sie habe sich nämlich die Wartezeit lesend mit der «Orestie» des Aischylos verkürzt. Und sei dabei besonders von der Figur der Kassandra, Lieblingstochter des trojanischen Königs Priamos, beeindruckt gewesen. Von Apoll umworben und mit der Gabe einer Seherin beschenkt, wurde sie, als sie Apolls Liebe abwies, mit dem Fluch belegt, dass niemand je ihre Weissagungen glauben sollte. Eine Tragik, der sich Christa Wolf durch die DDR-Zensur damals wohl ganz ähnlich ausgesetzt sah, auf unbequeme Wahrheiten reagierten die Herrschenden auch mehr als zweieinhalbtausend Jahre später mit kleinlicher Zensur und nicht selten auch mit Repressalien. Die 1983 veröffentliche Erzählung wurde inhaltlich, zur Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, in Ost und West gleichermaßen geschätzt als versteckte Mahnung an die Politik, wurde aber, des Mythos wegen ebenso wie der modernen sprachlichen Umsetzung des Stoffes, auch geschätzt von einem eher unpolitischen Bildungsbürgertum in beiden deutschen Staaten. Und so gehört diese Erzählung noch heute zu den meistgelesenen Büchern dieser hochgeehrten, trotz ihrer Courage aber nicht unumstrittenen Schriftstellerin.

Eine Nebenfigur aus Homers «Ilias» also dient der Autorin als Ich-Erzählerin, wir erleben das Ende des trojanischen Krieges aus der ebenso reizvollen wie ungewohnten Perspektive dieser als Kriegsbeute des Agamemnon verschleppten Königstochter. Auf dem Karren vor den Toren von Mykenae sitzend, den unmittelbar bevorstehenden Tod durch Klytaimnestra, Agamemnons rasend eifersüchtiger Frau, erhobenen Hauptes erwartend, zieht ihr Leben im Zeitraffer noch einmal an ihr vorbei. In Rückblenden erscheint sie als Prophetin der bevorstehenden Niederlage Trojas, als unbeirrbare Mahnerin im Rat von Troja, vom Vater in den Kerker gesperrt deswegen. Als Frau letztendlich ist sie hoffnungslos unterlegen in einem Patriarchat, in der nur der Held etwas gilt, die Frau hingegen wie ein Objekt angesehen und behandelt wird, da ist auch die Königstochter nicht von ausgenommen.

Ohne sich durch 15.693 Hexameter quälen zu müssen werden wir Leser hier geradezu kurzweilig durch die wesentlichen Geschehnisse eines Epos geführt, das zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur gehört. Hand aufs Herz, welcher Normalleser kennt schon alle diese Figuren, alle Hintergründe der ausufernden griechischen Mythologie, die Heldengestalten und die Verwandtschaftsverhältnisse der Götterwelt mitsamt den unzähligen Halbgöttern? Insoweit ist die Erzählung auch eine den Horizont erweiternde Lehrstunde der griechischen Antike, die ja das Fundament unserer europäischen Kultur bildet und deren Spuren sich tagtäglich finden, nicht nur in Begriffen wie dem Kassandraruf.

Kassandra ringt, wenn auch vergeblich, um Autonomie, versucht ihren eigenen Weg zu gehen, eine feministische Außenseiterin in der männerdominierten Gesellschaft Trojas. «Ich versuche, einen Raum zu erzeugen, in dem das Irrationale, wenn es Macht hat, wie in Kassandra […], durch, ja: humane Werte ein Gegengewicht bekommt», sagte Christa Wolf in einem Interview. Die Sprache, die sie findet für ihre Geschichte, ist wohltuend knapp, geradezu komprimiert, leicht und angenehm lesbar, zuweilen verblüffend direkt in einem heutigen, modernen Stil. Der nicht selten sogar leicht ironisch wirkt und damit durchaus auch zu amüsieren vermag. Ein Kontrast zur hochgestochenen, lyrischen Dichtung des homerischen Originals jedenfalls, der angenehm überrascht von der ersten Seite an. Die politischen Seitenhiebe auf die Stasi zum Beispiel, der ein gleichermaßen rigides Spitzelsystem in Troja entspricht, die Utopie einer zwangfreien sozialistischen Gesellschaft, die im Buch etwa dem entspricht, was Kassandra bei den Armen vor den Mauern Trojas findet, Christa Wolfs Themen sind geschickt verwoben in einer deterministischen Antikriegsgeschichte, die man gelesen haben sollte.

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