Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
miss.mesmerized
Wohnort: 
Deutschland
Über mich: 
https://missmesmerized.wordpress.com/

Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 31.07.2019
Otto
Suffrin, Dana von

Otto


sehr gut

Der Vater liegt im Krankenhaus, einmal wieder, wechselt zwischen Intensivstation und anderen Abteilungen hin und her. Seine Töchter Timna und Babi besuchen ihn täglich, auch wenn es nicht immer etwas Neues gibt, aber so ist das nun einmal in jüdischen Familien und der Vater weiß, wie er moralischen Druck auf seine Kinder ausüben kann. Einfach war er ohnehin nie, aber sein Leben war auch nicht leicht. In Rumänien geboren, den Holocaust überlebt, nach Israel umgesiedelt nachdem die Kommunisten das Land übernommen haben. Dort vier Mal das junge Land verteidigt, bevor er in die Heimat der Verbrecher zog, um eine Familie zu gründen. Alt geworden benötigt er seit Jahren Unterstützung im Alltag, um die sich eine Ungarin kümmert, die immer noch kein Wort Deutsch versteht. Doch was bleibt von ihm, wenn er einmal nicht mehr ist, wer erinnert sich noch an seine Geschichte?

Dana von Suffrins Debut erzählt die Geschichte eines Lebens, einer Familie, mal komisch, mal traurig, nicht entlang chronologischer Linien, sondern eher wie ein Familienalbum, aus dem die Bilder herausgefallen sind, die nun einzeln aufgelesen und betrachtet werden und dabei Erinnerungen wecken. So setzt sich langsam das Bild eines Lebens zusammen, das ebenfalls von Diskontinuität geprägt war und fraglos seine Spuren in der Persönlichkeit hinterlassen hat.

Ottos älteste Tochter aus zweiter Ehe erzählt die Geschichte aus ihrer Perspektive. Auch wenn der Vater kein leichter Charakter ist, spürt man doch auch unabhängig von dem offenkundigen Druck, den er auf sie ausübt, wie sehr sie an ihm und seinen Geschichten hängt. Trotz seines verqueren und bisweilen hochgradig bedenklichen Verhaltens lässt sie nichts auf ihn kommen, vor allem nicht, wenn ihr Freund Tann die unzähligen Besuche kritisiert. Blut ist dann dicker als Wasser und jüdische Familien funktionieren nun einmal anders als christliche, auch wenn das Jüdischsein sich im Laufe der Jahrzehnte mehr als verflüchtigt hat. Otto ist wohl das, was man mit Fug und Recht ein original nennen kann. Mal bedient er alle jüdischen Klischees – Geiz! Der sogar so weit geht, nicht Mitglied der jüdischen Gemeinde zu werden, um den Beitrag zu sparen – mal merkt man, wie ihm die Tatsache zusetzt, dass sich sein Leben dem Ende nähert und ihn die Frage, was von ihm bleibt, umtreibt.

Der Autorin ist ein heiter-melancholischer Ton gelungen, der hervorragend zur Erzählung passt. So kommt das Spannungsverhältnis zwischen familiären Verpflichtungen, die man bisweilen nur widerwillig erledigt, und Zuneigung hervorragend zum Ausdruck. Eine berührende Geschichte, die jedoch nicht bedrückt.

Bewertung vom 29.07.2019
Missouri
Hens, Gregor

Missouri


ausgezeichnet

Als sich endlich die Chance bietet, greift Karl beherzt zu. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ermöglicht ihm die Flucht aus Deutschland. Die germanistische Abteilung ist überschaubar und zudem bildet sie mit dem französischen und dem russischen Institut eine Einheit. Schnell findet er Freunde und ebenso schnell verliebt er sich – ausgerechnet in eine seiner Studentinnen. Stella fasziniert ihn vom ersten Tag an und tatsächlich verfügt die junge Frau über ungeahnte Fähigkeiten. Sie und ihre Familie nennen es Calder Zirkus – die Fähigkeit die Schwerkraft zu überwinden und zu schweben. Im übertragenen Sinne tun sie das beide, denn die Frischverliebten schweben und lassen sich von zutiefst irdischen Gedanken nicht herabziehen. Und während Karl in den USA den Boden unter den Füßen verliert, erlebt seine Heimat die größten Umwälzungen seit dem 2. Weltkrieg.

Gregor Hens‘ Roman macht zunächst den Eindruck einer etwas verspäteten coming-of-age Erzählung, denn erst mit Anfang zwanzig emanzipiert und befreit sich der Protagonist von der Last seiner Familie und der Jugend im katholischen Internat. Der Umzug vom pulsierenden Köln in die US-amerikanische Provinz lässt für ihn die weltpolitischen Ereignisse in weite Ferne schweifen – und das, wo gerade seine Heimat der „place to be“ wäre. Dazu eine Liebesgeschichte, die nicht sein darf und sich noch unerwartet verkompliziert. Geschickt nutzt der Autor diese Rahmenbedingungen jedoch für ganz andere Themen und hier zeigt er sein wahres Können und der Roman seine ganz große Stärke.

Neben diesen oberflächlichen Begebenheiten ist die Geschichte voller Reflexion und ein Galopp durch die Linguistik und Literatur. Erst in der Ferne trifft ihn die Konfrontation mit der eigenen Sprache und ihren Fallstricken so richtig, erst die neue Situation führt ihm auch vor Augen, dass die Abenteuer der Literatur auch seine sind – hat er nicht eine verbotene Beziehung zu einer Studentin und reist mit ihr durch die USA bis zur Westküste? Stella jedoch ist glücklicherweise kein Kind mehr wie „Lolita“, aber dennoch nur ein Teenager. Aber auch eine Mrs Robinson gibt es – Karl steckt in der Falle.

Daneben die aufkommende Computertechnik, erste E-Mails – Zukunftsgespinste, die von der Zeit inzwischen längst überholt sind, Ende der 1980er aber wie Science-Fiction anmuteten. Der Roman ist voller Anspielungen, Referenzen, Intertextualität und kommt doch leichtfüßig daher. Bei der wissenschaftlich-geschichtlichen Last hätte er erdrückt werden können, aber das Gegenteil geschieht: all dies lässt ihn nur höher steigen. Dies verdankt er vor allem der unprätentiösen Sprache des Ich-Erzählers, die erfrischend jugendlich und unbedarft daherkommt und einen passenden Kontrast zu dem bietet, was mit ihr transportiert wird.

Eine Reise in die Ferne zurück zum Ich und zur Identität des Protagonisten, aber auch seiner Nationalität, fern der großen Debatten und Kriegsschauplätze. Und erfreulicherweise eine andere Seite Amerikas als die, mit der wir und momentan tagtäglich herumschlagen. Ganz eindeutig einer dieser leisen, unaufgeregten Romane, die jedoch echte Perlen darstellen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.07.2019
We Were Sisters (eBook, ePUB)
Clarke, Wendy

We Were Sisters (eBook, ePUB)


sehr gut

Kelly’s childhood was all but easy. Her father was never at home and her mother didn’t care about her at all, her whole focus was on the foster children who came and went off again. When Kelly was eight, she was promised a sister, this time to stay with them forever. Freya, two years her senior, turned out to be a very headstrong and reckless girl who soon took over control and manipulated Kelly’s mum. This is why Kelly was not too sad when she did not return after a stay at a hospital. Yet, a couple of years later, Freya is back, but now, Kelly is older and not the weak girl who puts up with everything anymore. However, all these are stories of the past, by now, Kelly has a loving husband and three wonderful kids. But, when strange things start to happen, Kelly is unsure whether to blame the lack of sleep or if she is reading the signs correctly. Is Freya back? But she saw her die, this cannot be, can it?

Wendy Clarke’s thriller “We were sisters” keeps the reader a long time in the dark. The story is narrated at two periods of time, on the one hand, the adult Kelly who tries to cope with three children and the constant fear that something from the past might endanger her lucky little family; on the other hand, her memories of the past, the disturbed family she grew up in and the encounter with her foster sister Freya. Thus, it takes some time to sort out what happened and to form an idea of what the signs she sees might mean actually. The author, however, has to offer some twists and turns which come quite unexpectedly.

I adore those stories where there is a creepy feeling that there is a threat coming from somewhere without the characters knowing where to look for it. I was really surprised by the ending as it all turns out quite differently from what I had in mind – brilliantly done. Nevertheless, even though it all makes totally sense, I had the impression that it was a bit too much. Also Kelly’s relationship - or rather: non-relationship - with her parents seemed a bit exaggerated to me, just as her feeling of being threatened without a real reason before all the strange things started to happen. Yet, I enjoyed Wendy Clarke’s writing a lot, she certainly knows how to keep you hooked.

Bewertung vom 26.07.2019
Gespräche mit Freunden
Rooney, Sally

Gespräche mit Freunden


ausgezeichnet

Mit einundzwanzig liegt die große Welt noch vor einem. So auch vor Frances, Litersturstudentin und angehende Schriftstellerin aus Dublin. Gemeinsam mit ihrer Freundin Bobbi tritt sie bei Poetry Slams auf, sie werden bewundert, bejubelt. Aber das ist nur wegen Bobbi, die sofort jeden verzaubert mit ihrer Schönheit und Offenheit. Neben ihr bleibt Frances blass, denkt sie. Als die Fotografin Melissa ihnen anbietet, ein Porträt über sie zu machen, öffnet sich eine neue Welt für die junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Während die Uni in die Sommerpause geht, bewegen sich Bobbi und Frances sich plötzlich in der Welt der im Kunst- und Literaturbetrieb bereits Arrivierten. Scheu bewundert Frances diese Menschen, die sie um ihr Leben beneidet. Zurückhaltend und kühl erscheint sie, um ihre Unsicherheit und Selbstzweifel zu verdecken und doch interessiert man sich für sie, vor allem Nick, Melissas gutaussehender Ehemann, und völlig unvorbereitet wird Frances von ihren Gefühlen überrannt.

Die irische Autorin Sally Rooney gilt als der neue Star am Literaturhimmel, das Feuilleton bejubelt sie und ihr Debutroman war gleich für mehrere Preise nominiert. Man kann nur spekulieren, wie viel von ihrer Protagonistin Frances selbst in ihr steckt, viele Parallelen liegen auf der Hand und eines lässt sich ganz sicher sagen: sie ist eine der stärksten Stimmen ihrer Generation, und das, was sie mit ihrem Debut abliefert, schraubt die Erwartungen an die folgenden Werke hoch.

Einen Sommer und den Anfang des Herbstes begleitet die Geschichte Frances. Auch wenn die weiteren Figuren, Bobbi und vor allem auch das komplizierte Verhältnis von Melissa und Nick, durchaus auch viele interessante Aspekte liefern, so dreht sich doch allen nur um die Gedankenwelt der jungen Studentin. Viele Bücher gibt es, die die Unsicherheit einer jungen Frau, vor allem auch gegenüber älteren und selbstbewussteren Frauen, thematisieren. Rooney gelingt es aber insbesondere Frances‘ Gedankenstrudel einzufangen und dabei den Leser mitzunehmen. Man betrachtet sie nicht nur von außen, das Mädchen, das erst erwachsen werden und lernen muss, ihre Wirkung auf andere richtig einzuschätzen. Viel mehr hat man das Gefühl direkt in ihr zu stecken und die widersprüchlichen Emotionen mit ihr zu durchleben.

Es ist ein besonderer coming-of-age Roman, der insbesondere durch das Milieu ein ganz eigenes Flair entwickelt. Frances‘ Reflektiertheit steht ihr bisweilen im Weg, alles zu analysieren und zu hinterfragen, hält sie bisweilen vom Leben ab und treibt sie in einen gefährlichen Strudel. An dieser Stelle hat mich die junge Autorin ganz besonders überzeugt: ihr ist es gelungen, psychische Ausnahmezustände und auch manifeste Erkrankungen in einer ausgesprochen unaufgeregten Weise in die Handlung einzubauen, so dass diese nicht als Determinante der Figur erscheinen und diese dadurch nicht als bemitleidenswertes Opfer gezeichnet wird. Charakter und Persönlichkeit treten nicht hinter diese zurück, sondern nehmen sie als eine Facette auf.

Es genügen wenige Seiten und man wird von dem Sog, den der Roman entfaltet, mitgezogen. Ihr Stil ist ironisch bis metaphorisch und vor allem sehr reflektiert. Dazu bietet sie neben der Haupthandlung unzählige Themen und Denkanstöße, die die Breite ihres Repertoires nur noch weiter unterstreichen. Zweifelsfrei einer DER Romane 2019.

Bewertung vom 22.07.2019
Dunkelsommer
Jackson, Stina

Dunkelsommer


ausgezeichnet

Norrland, weit oben im schwedischen Norden. Zwei Menschen sind auf der Suche. Lehrer Lelle such Lina, seine Tochter, die vor drei Jahren spurlos von der Bushaltestelle verschwunden ist, an der er sie morgens abgesetzt hatte. Die 17-jährige Meja sucht nur nach einem normalen Leben. Mehr als 30 Mal ist sie mit ihrer Mutter Silje bereits umgezogen, von einem Liebhaber zum nächsten, jetzt also in den Norden zu Torbjörn. Die dunklen Wälder machen dem Mädchen aus dem Süden Angst, auch Torbjörn kann sie nur schwer einschätzen, doch bald schon findet sie in den Brüdern Carl-Johan, Göran und Pär Freunde, mit denen sie die langen Sommertage verbringt. Sie sind anders, ihre Eltern leben abgeschieden auf einem Hof und versorgen sich selbst, meiden die Gesellschaft. Als von einem Campingplatz ein Mädchen verschwindet, wird Meja zum ersten Mal mit der dunklen Seite der Gegend konfrontiert. Wieder ein 17-jähriges Mädchen, wieder gibt es keine Spuren, ist sie auch in Gefahr?

Das Debut der gebürtigen Schwedin Stina Jackson, die seit zehn Jahren jedoch bereits in den USA lebt, ist geprägt von der düsteren Stimmung des wenig besiedelten schwedischen Nordens. Entweder die Figuren leben völlig im Einklang mit der Natur oder diese breitet ihre Düsterheit und ihren Schrecken über ihnen aus. Atmosphärisch überzeugend hat die Autorin ihre Story in die wenig idyllische Umgebung eingebaut und erzeugt selbst in friedlichen Situationen ein gewisses Unbehagen.

Die beiden Handlungsstränge um Lelle und Meja werden parallel erzählt. Jede Nacht macht sich der trauernde Vater auf, um die Gegend nach Spuren von Lina abzusuchen, jede Nacht aufs Neue begegnet er potenziellen Tätern, jede Nacht kehrt er mit leeren Händen zurück. Seine Trauer ist überwältigend, fordert ihn völlig bis zur absoluten Belastungsgrenze, doch er gibt nicht auf. Man fühlt sein Leid und wünscht ihm so sehr, dass er endlich Frieden findet. Meja bemitleidet man gleichermaßen, ihre familiäre Situation ist mehr als prekär und man erhofft für das Mädchen, endlich entfliehen zu können. Mit der Begegnung mit den drei Jungs scheint zum ersten Mal so etwas wie Normalität in ihr Leben zu treten, auch wenn der Familie sehr seltsame Prepper zu sein scheinen und sich täglich mit Verschwörungstheorien beschäftigen.

Beide Figuren sind authentisch gezeichnet, vor allem ihr Schmerz bzw. die Einsamkeit der beidem wird deutlich. Dass sich ihre Wege kreuzen müssen, liegt auf der Hand. Die Auflösung des Falles wird ebenfalls überzeugend angebahnt und zu einem sauberen Schluss gebracht. Die Geschichte lebt nicht von nervenzerreißender Hochspannung, sondern wird von den Emotionen der Figuren getragen und besticht durch die düstere Atmosphäre, die sich mit Eintritt des Herbstes noch deutlich verstärkt. Eine rundherum stimmige Erzählung, die die Erwartungen an weitere Romane der Autorin hochschraubt.