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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 916 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2017
Der Untertan
Mann, Heinrich

Der Untertan


sehr gut

Vom hässlichen Deutschen

Aus dem umfangreichen Œuvre von Heinrich Mann ist «Der Untertan», neben dem Hauptwerk mit den beiden grandiosen «Henry Quatre» Bänden, sein erfolgreichster Roman. Er wurde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vollendet, der Vorabdruck, unter anderem im Simplicissimus, fiel jedoch bald der Zensur zum Opfer, erst nach Kriegsende konnte er dann, und zwar gleich in erstaunlich hoher Auflage, veröffentlicht werden. In dieser berühmten Satire nimmt der Autor mit beißender Ironie die Wilhelminische Epoche aufs Korn, eine entlarvende Gesellschaftskritik jener Zeit des widerspruchslosen Obrigkeitsdenkens. Der Roman ist Zeitzeugnis und Lehrstück zugleich, er gehört zweifellos zum Kanon der deutschen Literatur und ist als unterhaltsamer Klassiker auch nach hundert Jahren noch eine empfehlenswerte Lektüre.

Diederich Heßling, Sohn eines Papierfabrikanten in der fiktiven preußischen Provinzstadt Netzig, markiger Student einer schlagenden Verbindung, promovierter Jurist, drückt sich nach seinem Studium erfolgreich um den ungeliebten Militärdienst und übernimmt nach dem Tod des Vaters die Fabrik. Wir erleben als Leser den Aufstieg des rücksichtslosen, aber feigen Opportunisten zu einem angesehenen bourgeoisen Patriarchen, der in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich ist, sich zudem als charakterloser Denunziant erweist. Mit seiner rigiden kaisertreuen Gesinnung jedoch gewinnt er schon bald die Sympathie der konservativen, nationalen Kräfte, macht sich andererseits die Liberalen und Sozialdemokraten zu politischen Feinden. Der unsympathische, ehrlose Protagonist ist tief in politische Ränkespiele mit wechselnden Partnern verstrickt, sucht aus seiner gesellschaftlichen Stellung stets einen materiellen Vorteil zu ziehen, ist durchaus auch korrumpierbar. Sein mit Orden geschmückter politischer Aufstieg findet bei der Einweihungsfeier für ein lang umkämpftes Kaiser Wilhelm Denkmal einen Höhepunkt, als während seiner Festrede ein Unwetter symbolträchtig die Honoratioren in die Flucht treibt, eine Vorahnung drohenden Unheils durch den von verblendeten Patrioten dringend herbeigesehnten Krieg. Auch im Privaten ist Heßling ein bösartiger Tyrann, der sich nicht scheut, beispielsweise dem Vater von Agnes, einer von ihm verführten Jugendfreundin, höhnisch entgegenzuhalten, seine Ehre lasse es nicht zu, ein solcherart «gefallenes» Mädchen zur Mutter seiner Kinder zu machen. Gleiches widerfährt ihm am Ende, nun allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, als seine unverheiratete Schwester in genau derselben Situation ist. Seinen ansehnlichen Wohlstand erwirbt er durch reiche Heirat und vermehrt ihn trickreich mit dubiosen Aktiengeschäften, durch die er Andere ungerührt in den Ruin treibt.

Der Autor erzählt seine ereignisreiche Geschichte aus kritischer Distanz in einem sprachlich sehr gefälligen Stil, dem man natürlich die hundert Jahre anmerkt, die seit Erscheinen des Romans vergangen sind. Er karikiert den autoritätsgläubigen Untertanengeist der Epoche auf amüsante Art, sogar Bismarcks «Reichshund» wird da persifliert in einer köstlichen Szene. Ferner bedient er sich eines zahlreichen Figurenensembles, in dem archetypisch viele Charaktere treudeutscher Mannsbilder vertreten sind, vom erzkonservativen Regierungspräsidenten bis zum sozialistischen Werkmeister in Heßlings Fabrik, der später mit seiner heimlichen Hilfe sogar Abgeordneter des Reichstags wird, - alles aus Kalkül, wohlgemerkt.

Heinrich Mann, dessen Kontakte zu seinem deutschnationalen Bruder jahrelang abgebrochen waren, kritisiert in seinem Roman den rückwärts gewandten Ungeist der Bourgeoisie ebenso wie den heuchlerischen Nationalismus und den schnöden Materialismus der Sozialdemokraten. In einer symbolträchtigen Szene am Ende stirbt ein von Heßling in den Ruin getriebener politischer Gegner, Teilnehmer der Deutschen Revolution von 1848, bei dessen völlig unerwartetem Anblick, - Heßling erscheint ihm geradezu als böser Geist in seiner Todesstunde.

Bewertung vom 26.03.2017
Eine Jugend
Modiano, Patrick

Eine Jugend


gut

Genese einer humanitären Befreiung

«1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, das muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben» hat Patrick Modiano 2014 in seiner Nobelpreisrede erklärt. Und so steht auch sein 1985 auf Deutsch erschienener Roman «Eine Jugend» unter der Maxime einer «Pflicht der Erinnerung», mit der Übersetzung und Protektion von Peter Handke wurde der Schriftsteller dann einem breiteren deutschen Publikum bekannt. Trotz hoher literarischer Ehrungen aber blieb die Rezeption seines beachtlichen Œuvres eher verhalten, ein Schicksal, welches er mit vielen anderen großen Schriftstellern teilt.

«Die Kinder spielen im Garten, und bald ist es Zeit für die tägliche Schachpartie». Mit diesem Satz beginnt der Roman, geschildert wird eine Familienidylle in den Bergen. Es ist der Tag vor Odiles 35ten Geburtstag. In dem Chalet von Louis und seiner Frau haben sie bislang ein Kinderheim betrieben, sie wollen es jetzt aber allein benutzen, eventuell einen Schuppen zum Restaurant umbauen. «In Saint-Lô, in jenem Herbst vor fünfzehn Jahren, regnete es tagelang» heißt es dann nach zehn Seiten, der gesamte Rest des Romans ist ein Rückblick auf ihre gemeinsame Zeit in Paris.

Nach dem Militärdienst in Saint-Lô lernt Louis den deutlich älteren Jean-Claude Brossier kennen, der ihm Arbeit bei seinem Freund in Paris vermittelt, einem zwielichtigen Geschäftsmann namens Bejardy. Louis arbeitet als Aufsicht in dessen Garage und macht Botendienste für ihn. Eines Tages lernt er Odile kennen, eine angehende Sängerin, die nach dem Selbstmord ihres Förderers Bellune völlig aus der Bahn geworfen wird. Durch seine Protektion wurden Chansons für sie geschrieben und eine Schallplatte aufgenommen, mit der sie sich bei den Plattenfirmen bewerben konnte. Als die Neunzehnjährige - nach dem Recht der 1960er Jahre eine Minderjährige - nachts von der Polizei aufgegriffen wird, verlangt der Kommissar von ihr, der Polizei als Lockvogel bei der Verhaftung eines gesuchten Vergewaltigers zu helfen. Schließlich findet sie auch einen Musikagenten, der ihre Probeaufnahmen anhört und ihr eine Anstellung im Varieté vermittelt. Als er sie darauf – als Gegenleistung sozusagen – in seinem Büro auszieht, wehrt sie sich nicht, ist ihm zu Willen. Nachdem Louis und Odile ein Paar geworden sind, verschafft Brossier ihnen eine Wohnung und stellt ihnen seine schöne äthiopische Freundin vor, eine Studentin, mit der er auf dem Campus wohnt. Schließlich erhalten sie von Bejardy den Auftrag, eine halbe Million Franc nach England zu schmuggeln, getarnt als Mitglieder einer Reisegruppe Jugendlicher zu einem Englischkurs im Seebad Bournemouth. Als sie zurückkommen, erfahren sie von Brossier, dass er sich mit Bejardy überworfen habe. Von dessen Freundin hören sie, er werde sich in Kürze nach Argentinien absetzen. Durch Zufall lernen Louis und Odile in einer Café einen Künstler kennen, in dessen ehemaligem Atelier sie jetzt wohnen, und der erzählt ihnen, Bejardy sei als Mörder verhaftet gewesen, mangels Beweisen aber freigesprochen worden. Als letzten Auftrag - Bejardy hat seine Wohnung bereits aufgelöst - sollen Louis und Odile für ihn wieder eine halbe Million Franc schmuggeln, diesmal nach Genf. Sie aber besteigen den Zug nach Nizza.

Bruchstückhaft wird in diesem kurzen Roman der Erinnerung über soziales Alleinsein erzählt, über eine nebelhafte Zeit der Selbstfindung, dem Leser wird reichlich Gelegenheit für eigene Reflexionen und Phantasien gegeben. Der auktoriale Erzähler zeigt seine jugendlichen Protagonisten auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dabei stellt er sie wie emotionslose Statisten auf seine atmosphärisch dicht beschriebene, literarische Bühne. Er enthält sich jedweder psychologisierenden Deutung, charakterisiert seine Figuren vielmehr ausschließlich über das äußere Geschehen, die hindernisreiche Genese einer humanitären Befreiung.

Bewertung vom 21.03.2017
Der Dieb
Nakamura, Fuminori

Der Dieb


weniger gut

Ästhetik des Taschendiebstahls

Im Jahre 2015 erschien als erster der mehr als ein Dutzend bisher veröffentlichten Bände des unter Pseudonym schreibenden japanischen Schriftstellers Fuminori Nakamura sein Roman «Der Dieb» auch in deutscher Sprache. Vorbild für den Titelhelden war, wie er in einem Interview erklärte, Nezumi Kozō, ein 1832 hingerichteter Dieb, der in Japan oft mit Robin Hood verglichen wird. Anders als sein Pendant in der englischen Ballade hatte der allerdings seine Beute nicht unter die Armen verteilt, sondern selbst verprasst. Unser Romanheld wiederum ist Taschendieb, er bestiehlt nur Männer und ist ausschließlich auf deren Geld aus, die leer geräumten Brieftaschen wirft er in den nächsten Postkasten, sodass der Bestohlene sie mit dem übrigen Inhalt von der Polizei zurückbekommen kann.

Wir erleben den Ich-Erzähler, dessen richtiger Name Nishimura nur ein einziges mal ganz nebenbei erwähnt wird, bei der Ausübung seiner Kunst, er streift ruhelos durch Tokio, sucht gezielt die für sein Metier geeigneten Orte auf, überfüllte U-Bahnen oder belebte Geschäftsstraßen, Einkaufszentren. Er beherrscht alle Tricks seines nicht ehrbaren Handwerks, agiert auf dem Höhepunkt seines Könnens instinktiv sicher und mit fließenden, geschmeidigen Bewegungen, behält seine Umgebung dabei stets genauestens im Auge, immer auf der Lauer nach dem richtigen Moment für seinen Zugriff. Nakamura hat all diese handwerklichen Details akribisch recherchiert, sich, um Genauigkeit bemüht, sogar selbst als Taschendieb geübt, wie er im Interview erklärt hat, mit einem Freund als Testopfer. Der Romanheld ist Taschendieb seit frühester Jugend, und so ist er ziemlich irritiert, als er im Supermarkt einen kleinen Jungen beim Ladendiebstahl beobachtet, in dem er sich selbst erkennt und den er spontan vor dem Ladendetektiv schützt. Der Junge sucht nun ständig seine Nähe, will von ihm lernen. Schon bald aber holt den Ich-Erzähler seine dunkle Vergangenheit als ehemaliges Mitglied der japanischen Mafia ein, Kizaki, ein Boss der Yakuza zwingt ihn, drei Aufträge für ihn zu erledigen, bei einem brutalen Überfall mitzuwirken, ein geradezu faustischer Pakt.

Nakamura erzählt seine verstörende Geschichte von den Randfiguren der japanischen Gesellschaft scheinbar teilnahmslos in einer knappen Sprache ohne jede Raffinesse, wobei er den Dieb als einsame, tragische Figur darstellt, der in geradezu missionarischer Absicht stielt. Kizaki stellt er hingegen als blumig sprechend und nachdenklich dar, quasi als Alltagsphilosoph, um so die Brutalität des Geschehens zu konterkarieren und Spannung zu erzeugen. Seine literarischen Vorbilder, hat er erklärt, wären Kafka, Camus und Dostojewski, und prompt wird Raskolnikow bemüht beim Briefing mit Kizaki. Der Roman ermöglicht dem Leser einen illusionslosen Blick in die Welt des Bösen, das Gute kommt im Roman nicht vor. Nakamura erzeugt seine unheilvolle Atmosphäre einerseits durch den menschenfeindlichen Moloch der Metropole Tokio, andererseits durch den Schauplatz einer mafiosen Unterwelt, ohne gleich ins Spektakel blutrünstiger Thriller abzugleiten. Eher kann man den Roman als Gesellschaftskritik auffassen oder als psychologischen Exkurs in moralische Grenzbereiche.

Kann Taschendiebstahl eine Ästhetik haben, kunstvoll sein? Man ist verunsichert, nicht zuletzt durch den Robin-Hood-Bonus, der in diesem «roman noir» auch mitschwingt. Leitmotivisch blendet der Autor immer wieder einen nur schemenhaft erkennbaren Turm in die Erzählung ein, den man als Symbol einer übergeordneten Macht, ja als Metapher für Gott deuten kann. Das düstere Geschehen ist deterministisch, ganz am Ende, beim blutigern Showdown, enthüllt Kizaki, dass alles, was passiert ist, genau so von ihm vornher bestimmt war. In seiner minimalistischen Sprache nicht überzeugend, vom Plot eher simpel und klischeehaft aufgebaut, bietet dieser Buch literarisch, abgesehen vom schelmenromanhaften Beginn, aus meiner Warte wenig Anreiz zur Lektüre.

Bewertung vom 16.03.2017
Der Verrückte des Zaren
Kross, Jaan

Der Verrückte des Zaren


sehr gut

Wahrheit als Menetekel

Aus dem estnischen Sprachraum sind nur wenige Schriftsteller einer breiteren Leserschaft bekannt, Jaan Kross nimmt dabei zweifellos den Spitzenplatz ein. Er gilt als führender Nationaldichter seines Landes und wurde zeitweise sogar als Nobelpreis-Kandidat angesehen. Sein Roman «Der Verrückte des Zaren» ist sein erfolgreichstes Werk, es wurde in viele Sprachen übersetzt und behandelt, wie die meisten seiner Werke, einen historischen Stoff. Was auch hier die ewige Frage aufwirft, wie viel von dem Erzählten denn nun authentisch ist und wie viel fiktional. Kroos hat seinem Buch nicht nur ein mehrseitiges Nachwort beigefügt, wo diese Fragen geklärt werden, sondern auch zwei umfangreiche Verzeichnisse mit Orten und weiterführenden Anmerkungen.

Ich-Erzähler des Romans ist die fiktive Figur Jakob Mättik, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Bauernjunge, der aber auf Druck des Vaters mit seiner Schwester Eeva früh lesen und schreiben gelernt hat. Was wir lesen als Roman ist Jakobs Tagebuch, beginnend am 26. Mai 1827. Er hat es begonnen, als der - historisch belegte - Gutsbesitzer Timotheus von Bock Eeva zum Entsetzen des Adels zur Frau nimmt. Timo hat als Offizier in Sankt Petersburg Karriere gemacht und wurde als Oberst Flügeladjutant des Zaren Alexander I, der ihn aufforderte, ihm stets die Wahrheit zu sagen. In einer vielseitigen Denkschrift, die beinahe dem Entwurf einer neuen Verfassung gleich kommt, benennt Timo nun gravierende Missstände und innere Widersprüche im russischen Reich und weist auf die Mitschuld des Zaren hin. Prompt wird er verhaftet und an einem unbekannten Ort interniert. Unter Zar Nikolaus I wird er schließlich acht Jahre später für verrückt erklärt und unter strengen Auflagen auf sein Gut verbannt. Bald hält Timo es in dieser bedrückenden Situation nicht mehr aus und beschießt, ins Ausland zu flüchten, was sich aber als ein recht schwieriges Unterfangen erweist, das mehrmals widriger Umstände wegen abgebrochen werden muss. Als schließlich dann irgendwann alles günstig steht für eine Flucht, beschließt Timo im letzten Moment, doch in seiner Heimat zu bleiben, nicht feige zu flüchten. Sieben Jahre später stirbt er unter mysteriösen Umständen.

Der Ich-Erzähler zitiert in dieser zentralen Geschichte zahlreiche Dokumente und ergänzt sein Tagebuch mit einem Geflecht aus Rückblenden, historischen Begebenheiten und Ereignissen in seinem eigenen Leben, wobei das Leben des Adels im russischen Feudalismus ebenso anschaulich geschildert wird wie das Alltagsleben auf einem estnischen Gutshof. Das im Roman behandelte Problem der absoluten Wahrhaftigkeit, an dem der ebenso naive wie unberechenbare Held scheitert, ist ein - jeden einzelnen Menschen betreffendes - moralisches Dilemma, ohne Notlüge zumindest wäre unser Leben ja schlichtweg nicht vorstellbar. Kross schreibt in einer klaren, komprimierten Sprache ohne Schnörkel, wobei insbesondere die vielen Dialoge sehr lebensecht wirken, man fühlt sich dadurch regelrecht hineingezogen in diese Geschichte, so als wäre man dabei. Die Figuren sind glaubwürdig beschrieben und wirken allesamt sympathisch, ihr Seelenleben jedoch bleibt ausgeklammert, ihre Emotionen werden nicht thematisiert. Das gilt insbesondere auch für den «Verrückten», dessen Geisteszustand bis zuletzt nicht ganz zweifelsfrei geklärt ist. In seinem Sohn, der ein linientreuer Offizier des Zaren geworden ist, erkennt Timo am Ende resignierend seine Ohnmacht, der Wahrhaftigkeit zum Sieg verhelfen zu können.

Kann die kritiklose Befolgung gesellschaftlicher Normen kompromisslose Idealisten zu vermeintlichen Irren machen, die schließlich sogar selber glauben, verrückt zu sein? Kross wirft hier eine philosophische Frage auf, die nicht nur in totalitären Systemen wie dem feudalistischen Russland relevant ist und allen Anlass zum vertiefenden Weiterdenken gibt. Auch deshalb ist dieser bis hin zum Nachwort spannend bleibende Roman eine bereichernde, überaus lohnende Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.03.2017
Das Buch von Blanche und Marie
Enquist, Per Olov

Das Buch von Blanche und Marie


schlecht

Omnia vincit amor

Auch in seinem 2004 erschienenen Roman «Das Buch von Blanche und Marie» geht der schwedische Schriftsteller Per Olof Enquist, wie oft in seinem Œuvre, von historischen Personen aus, die ihm als Bindeglied für seinen Plot dienen. Herausgekommen ist dabei ein pseudo-dokumentarischer Roman, dessen wahrer Kern nicht nur fiktional ausgeschmückt ist, sondern fast untergeht vor allzu unbekümmert Hinzuphantasiertem.

Vergils «omnia vincit amor», Liebe besiegt alles, steht auf dem Deckel einer braunen Mappe mit dem Titel «Fragebuch», das drei Notizbücher enthält. Das lateinische Motto bezeichnet Enquist als Arbeitshypothese, seine Handlung baut auf diesen Notizbüchern von Blanche Wittmann auf, berühmte Patientin von Professor Jean Martin Charcot, dem Leiter der psychiatrischen Anstalt Salpêtrière in Paris, im Jahre 1862 mit 4000 Patientinnen größtes Hospiz in Frankreich. In seiner regelmäßig veranstalteten, eher als Show inszenierten Vorlesung zu seinem Forschungsthema Hysterie dient ihm Blanche als williges Medium. Einer seiner Assistenten ist Sigmund Freud, und die gaffenden Zuschauer sind nicht nur Studenten, sondern viele berühmte Leute aus ganz Europa. Die titelgebende zweite Protagonistin des Romans ist Marie Skłodowska Curie, die berühmte Wissenschafterin polnischer Herkunft, Entdeckerin des Radiums, zweifache Nobelpreisträgerin sowohl für Physik (1903) als auch für Chemie (1911). Nach dem Unfalltod ihres Mannes hat sie eine stürmische Liebesbeziehung mit einem verheirateten Physikprofessor, die als Langevin-Affäre in Frankreich hohe Wellen schlägt und fortan als ewiger Makel an ihr hängen bleibt.

Soweit die Fakten. Postfaktisch hingegen, um eine dümmliche Wortschöpfung unserer Tage auch mal zu benutzen, ist die jahrelang unterdrückte Liebesbeziehung zwischen Blanche und Professor Charcot. Nach dessen Tod wird sie Assistentin bei Marie Curie, erleidet durch hohe Strahlungen bei ihrer Arbeit schwere gesundheitliche Schäden, beide Beine und der linke Arm müssen amputiert werden, sie sitzt als Torso fortan in einer rollenden Kiste. Die beiden Frauen werden enge Freundinnen, zu denen sich als dritte Jane Avril gesellt, kurzzeitig ebenfalls Patientin von Professor Charcot, später dann im Moulin Rouge berühmt gewordene Tänzerin, vielfach portraitiert von Toulouse Lautrec und auf ihren Plakaten omnipräsent bis heute.

«Die Liebe kann man nicht erklären. Aber wer wären wir, wenn wir es nicht versuchten?» Dieser Versuch ist hier misslungen, mit der Liebe als Zentralthema hat sich Enquist total verhoben. Marie scheitert kläglich mit ihrer ehebrecherischen Liaison, Blanche verkümmert in ihrer unerfüllten und, sieht man von einer irrealen Schlussszene ab, ewig platonischen Liebe zu Charcot. Dem uralten Thema Liebe gewinnt der Autor keine neuen Facetten ab, er verfällt vielmehr zusehends in peinliches Pathos dabei. Schon eher ist da die Aufdeckung der schaurigen Frühgeschichte der Psychiatrie zu loben, der tadelnde Hinweis auf die mühsame Emanzipation der Frauen, die Kritik des naiven Fortschrittsglaubens jener Zeit. Das Interessanteste aber, die faszinierende Figur der genialen Forscherin Marie Curie, wird kaum gebührend gewürdigt, sie ist als Romanfigur weitgehend auf ihre Liebesaffäre reduziert.

Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, das die einzelnen Kapitel als Gesänge bezeichnet, macht stutzig und kündet von Esoterischem. Der melancholische Plot verstört durch unmotivierte zeitliche und gedankliche Sprünge und lästige Wiederholungen, deren nervigste, geradezu sadistisch anmutende für mich der gefühlt hundertmal erwähnten Torso in der rollenden Kiste war. Vollends fragwürdig aber wird dieser Roman durch seinen holzschnittartigen Sprachstil, durch verstümmelte Sätze mit merkwürdiger Interpunktion, die das Verständnis behindern statt es zu fördern. Liebe und leidenschaftliche Forschung belegen, das ist mein Fazit aus dieser Lektüre, nun mal keine gleichen Areale in unserer Seele, sie sind wesensfremd.

Bewertung vom 05.03.2017
Feinde, die Geschichte einer Liebe
Singer, Isaac Bashevis

Feinde, die Geschichte einer Liebe


ausgezeichnet

Tragisch-komisches Gefühlschaos

«Für seine eindringliche Erzählkunst, die mit ihren Wurzeln in einer polnisch-jüdischen Kulturtradition universale Bedingungen des Menschen lebendig werden lässt» erhielt laut Jury der in den USA lebende Autor mit polnischen Wurzeln Isaak Bashevis Singer, als bislang einziger jiddische schreibender Schriftsteller, 1978 den Literatur-Nobelpreis. Sein Roman «Feinde, die Geschichte einer Liebe» erschien 1974 in deutschsprachiger Ausgabe, wurde fünfzehn Jahre später verfilmt und 2007 in die SZ-Bibliothek der hundert größten Romane des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Zu Recht?

«Wie in den meisten meiner erzählenden Werke wird in diesem Buch ein Ausnahmefall dargestellt – mit einzigartigen Helden und einer einzigartigen Verflechtung der Ereignisse» schreibt der Autor im Vorwort. Sein Protagonist ist der in New York lebende Jude Herman Broder, den Jadwiga, das polnische Dienstmädchen seiner Eltern, drei Jahre lang in einem Heuschuppen vor den Deutschen versteckt hatte. Hermans Frau Tamara und die beiden Kinder wurden nach Zeugenaussagen Opfer der Nazis. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs emigriert er mit Jadwiga in die USA und heiratet sie aus tiefer Dankbarkeit, nicht aus Liebe. Mit der attraktiven Mascha jedoch, einer von ihrem Mann getrennt lebenden Jüdin, hat er eine leidenschaftliche Affäre. Als er zufällig eine Suchanzeige nach ihm selbst in der Zeitung entdeckt und sich meldet, erfährt er, dass Tamara den Holocaust überlebt hat und seit kurzem in New York ist. Er trifft sie, gesteht ihr die Ehe mit Jadwiga und die Liaison mit Mascha. Sie ist sofort bereit, sich scheiden zu lassen, er jedoch zögert. Als Mascha schwanger wird, drängt sie Herman zur Ehe und findet prompt auch einen Rabbi, der nicht viel Fragen stellt. Nun ist Herman mit drei Frauen verheiratet, und seine Jadwiga ist inzwischen auch schwanger. Maschas Schwangerschaft hingegen stellt sich bald als falscher Alarm heraus. Virtuos jongliert Herman als Polygamist in diesem sich immer mehr zuspitzenden Gefühlschaos. Willensschwach, wie er ist, kann er sich aber nicht entscheiden, mag den Status quo ihrer Ménage à quatre nicht ändern. Ist er wirklich Jadwiga zu ewigem Dank verpflichtet? Soll er die von allen Männern begehrte Mascha doch verlassen? Muss er letztendlich zu Tamara zurückkehren? «Ich will alle drei haben, das ist die beschämende Wahrheit». Parallel zur immer unhaltbarer werdenden Situation und zum tragischen Ende wendet sich der Erzählton von verschmitzt humorig zu elegisch traurig.

Als dem Grauen des Holocaust entronnener Jude plagt den traumatisierten Herman die Frage, warum Millionen sterben mussten und ausgerechnet er überlebt hat, ein gottloser Hedonist, dem leidenschaftliche Liebe und gutes Essen viel bedeuten und religiöse Pflichten rein gar nichts. Singers Roman führt den Leser tief hinein in das jüdische Leben New Yorks, in das Spannungsfeld zwischen modernem Amerika und tief wurzelnder jüdischer Religiosität. Er brandmarkt zum Brauchtum verkommene jüdische Riten als Folklore, zeigt das skandalöse soziale Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich in diesem Staate auf. Dabei lässt er seinen physisch eher unscheinbaren, fatalistisch eingestellten, tollpatschigen Helden, dem man den Frauenhelden so gar nicht abnehmen will, viele philosophische Probleme durchdenken, ureigene Reflexionen des Autors, darf man vermuten.

Dieser Roman der Verluste - Heimat, Vermögen, Liebe, Selbstvertrauen, - wird von neurotischen Figuren bevölkert, deren emotionale Befindlichkeit eher indirekt, über ein realistisch geschildertes Geschehen, verdeutlicht wird, wobei Singers Sprache angenehm unprätentiös ist. «Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass ich zu jenen zähle, die sich einbilden, Literatur könne neue Horizonte und Perspektiven erschließen – philosophische, religiöse, ästhetische und auch soziale» hat er bei seiner Nobelpreisrede bekannt. Nach Lektüre dieses bereichernden Romans wird man ihm darin unbedingt beipflichten!

Bewertung vom 28.02.2017
Catch 22
Heller, Joseph

Catch 22


weniger gut

Fragwürdiger Kultroman

Joseph Hellers 1961 erschienener Debütroman «Catch 22» stieß in seiner Heimat USA zunächst auf wenig Begeisterung, wie in einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von 1994 nachzulesen ist, wo der Autor sich zur Editionsgeschichte seines Buches äußert. Der absurde Antikriegsroman traf dann später während des Vietnamkrieges den Nerv der kriegsmüden Bevölkerung und wurde plötzlich ein großer Erfolg. Im Unterschied zu «Im Westen nichts Neues» von Remarque wird der Krieg hier als absurd chaotische Veranstaltung dargestellt, sein Wahnsinn durch einen aberwitzigen Plot mit einem völlig irrealen Geschehen karikiert. Eine gewagte literarische Gradwanderung, die dem Kriegsgrauen mit Satire entgegen zu treten sucht, wobei dem Leser das Lachen nicht selten im Halse stecken bleibt.

Handlungsort der absurden Geschichte ist die kleine italienische Insel Pianosa im toskanischen Archipel, nordwestlich der Insel Monte Cristo, die durch Alexandre Dumas’ Roman weltweit bekannt wurde. Hier ist im Zweiten Weltkrieg eine Staffel von B-25 Bombern der US Air Force stationiert, der Protagonist Captain Yossarián ist dort als Bombenschütze eingesetzt. Er hat panische Angst vor dem Tod und versucht mit allen Mitteln, sich durch Krankschreibung vor den Einsätzen zu drücken, oder aber, besser noch, durch Erfüllung der Sollzahl für die Feindflüge gleich ganz aus dem Militärdienst entlassen zu werden. Letzteres wird dadurch vereitelt, dass diese Sollzahl ständig erhöht wird und damit unerreichbar bleibt. Die Problematik des Romans ist in seinem Titel bereits vollständig enthalten, «Catch 22» steht für einen klassischen Circulus vitiosus. Denn nur wer geisteskrank wird, kann auf Verlangen nach Hause geschickt werden; wer dies jedoch verlangt, kann nicht geisteskrank sein, denn genau dieser Wunsch sei ja der Beweis für ein völlig normal funktionierendes Gehirn. Der Truppenarzt Doc Daneeka erklärt Yossarián, dass seine Angst beim Feindflug völlig normal sei, denn hätte er keine Angst, müsse er verrückt sein und wäre folglich ja gar nicht flugfähig. Das absurde «Catch 22» als infame Schikane der amerikanischen Stabsoffiziere wird im englischen Sprachraum inzwischen als geflügeltes Wort für einen Teufelskreis benutzt.

Seine karikaturhaft überzeichneten Figuren dienen als literarisches Vehikel, mit dem Joseph Heller die Dummheit eines absurden militärischen Systems an den Pranger stellt. Sei es, dass sie nur Aufmerksamkeit erregen wollen oder gar Kriegsruhm anstreben, um befördert zu werden, oder ein florierendes Schwarzmarktgeschäft betreiben wie der Verpflegungsoffizier, bei dem selbst der Feind zum Kunden wird, wobei die vorbildliche Zahlungsmoral der Deutschen höchste Anerkennung findet. Als Milo seinem erstaunten Vorgesetzten bei einer Fahrt mit dem Jeep sein erfolgreiches Geschäftsmodell erläutert, landet ein angeschossener B-25 Bomber und explodiert, sie aber fahren ungerührt an dem brennenden Wrack vorbei, völlig in ihr Gespräch über Profite vertieft, - die Süddeutsche Zeitung hat diese bezeichnende Szene aus dem Spielfilm für das Cover ihrer Edition verwendet. Der Verrückteste dieser Truppe desertiert, indem er seine Maschine im Mittelmeer notwassert, um von dort mit seinem Ein-Mann-Rettungsboot nach dem neutralen Schweden zu paddeln! Andere, wie Hungry Joe zum Beispiel, wollen einfach nur nackte Frauen fotografieren, sonst interessiert ihn nichts. Zwischen diesen und noch vielen anderen kauzigen Figuren, von denen fast alle umkommen im Verlaufe des Romans, erscheint Yossarián als zweiter Schwejk, ein Antiheld, der lediglich mit heiler Haut aus dem Schlamassel herauskommen will.

Es wimmelt von Absurditäten in dieser aus aneinander gereihten, grotesken Szenen bestehenden Satire auf menschliche Schlechtigkeit und Dummheit. Die Lektüre erfordert einige Geduld, es stellen sich schon bald störende Längen heraus, und der narrative Wahnsinn nervt in seiner Häufung dann irgendwann auch. Ein für mich eher fragwürdiger Kultroman!

Bewertung vom 26.02.2017
Das Konzert
Lange, Hartmut

Das Konzert


sehr gut

Unerhörtes aus dem Totenreich

Als «Geheimtipp» hat Hartmut Lange sich selbst mal ironisch in einem Interview bezeichnet und ein zwischen kurzfristigem Hochjubeln und totalem Vergessen polarisierendes Feuilleton beklagt: «In so einer Atmosphäre können Sie Literatur nur aus Triebtäterschaft machen.» Sein Œuvre besteht seit Anfang der achtziger Jahre zum überwiegenden Teil aus Novellen, jene literarische Gattung, zu der Goethe angemerkt hat, sie berichte typischer Weise über eine «unerhörte Begebenheit.» Insoweit ist «Das Konzert» ganz klassisch konzipiert, mit einer konzisen Darstellung des uralten Themas von Schuld und Vergebung, hier exemplarisch an einem surrealen Aufeinandertreffen von Tätern und Opfern im Totenreich dargestellt. «Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wusste, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.» Mit diesem Satz beginnt die Exposition dieser 1986 erschienenen Novelle.

Hauptfigur der Geschichte ist der 28jährige, hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski, der während der Naziherrschaft in Litzmannstadt durch Genickschuss getötet wurde. Die Salondame alter Schule mit dem beziehungsreichen Namen wurde ebenfalls ermordet und nackt, mit verrenkten Gliedern, in eine Grube geworfen. Ihr ganzes Streben als Tote richtet sich nun darauf, ein Konzert in der Philharmonie zu veranstalten, in dem Lewanski die E-Dur-Sonate op. 109 von Ludwig van Beethoven spielen soll. Ein für ihn schwieriges Stück, für das er sich nicht reif genug fühlt als ewig 28Jähriger, er scheitert immer wieder an einer bestimmten Stelle. Als er nach intensivem Üben sich dem Konzert dann doch gewachsen fühlt, landet er auf dem Weg zur Philharmonie im zugeschütteten Bunker der ehemaligen Reichskanzlei. «Mein Mann und ich sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.» Die da spricht ist die frisch verheiratete Eva Braun, und so spielt Lewanski nach einigem Zögern vor den versammelten toten Nazigrößen. Wieder scheitert er an der kritischen Stelle. «Litzmannstadt … Litzmannstadt » platzt es aus ihm heraus, «Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.»

Der ermordete Schriftsteller Schulze-Bethmann, der ebenfalls in jenem Salon verkehrt, sieht keinen Grund, den Kontakt mit seinem eigenen Mörder, einem schwarz uniformierten SS-Mann, zu meiden. Und zum Konzert erklärt er: «Ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind.»

Der Autor versteht es, uns Lesern ohne aufdringliche Moral ein fürwahr schwieriges Thema nahe zu bringen, über das es sich weiterzudenken lohnt. Nur der Blick aus dem Totenreich vermag dabei hilfreich sein, nur so wird deutlich, dass die Untaten den Tätern ja letztendlich gar nichts nützen. Nur ewiges Bereuen und ewiges Verzeihen ist die Folge. Dieses surreale erzählerische Konstrukt erweist sich als wunderbar stimmig in Hinblick auf die hochgradig emotionsgeladene Holocaust-Thematik, die mit Sühne und Vergebung als ewigem Menetekel belastet ist. Ein, wie die Liebe und anderes mehr, nur dem Menschen eigenes, in der Natur, im Universum, nicht vorhandenes transzendentales Kriterium. Schade, dass es nur so wenige Leser gibt für eine derart tiefgründige Thematik.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.02.2017
The Blue Flower
Fitzgerald, Penelope

The Blue Flower


weniger gut

Britischer Hype um deutschen Romantiker

Mit dem Titel ihres letzten, im Original 1995 erschienenen Romans verweist die englische Schriftstellerin Penelope Fitzgerald auf «Die blaue Blume» als Sinnbild romantischer Poesie, welches auf Sehnsucht, Liebe und Fernweh ebenso hinweist wie auf die Unendlichkeit. Florales Vorbild ist laut Novalis der blaue Heliotrop, in seinem Romanfragment «Heinrich von Ofterdingen» hat er sie erstmals als metaphysisches Symbol verwendet. Jene mystische Blume, die niemals gefunden werden könne, symbolisiere, wie Fitzgerald es ausdrückte, was man selber vom Leben will, ein Ziel, das man unbeirrt anstreben muss, auch wenn es vergebens zu sein scheine. Im vorliegenden Roman versinnbildlicht die blaue Blume die tragische Liebesgeschichte zwischen Friedrich von Hardenberg, der später als frühromantischer Dichter unter dem Synonym Novalis berühmt wurde, und der blutjungen Sophie von Kühn. Der in England als Meisterwerk gelobte historische Roman gilt als Höhepunkt im Œuvre dieser Schriftstellerin, als ihr gelungenstes und anspruchsvollstes Werk.

Zeitlich umfasst ihre Geschichte die Jahre von 1790 bis 1797. Fritz, wie der junge Hardenberg in der Familie genannte wurde, begegnet Ende 1794 erstmals der 12jährigen Sophie, eine «Viertelstunde», die über sein Leben entschieden habe, wie der damals 22Jährige seinem Bruder schrieb. Keine drei Jahre später stirbt Sophie an Tuberkulose, eine in jenen Zeiten meist tödlich verlaufende Krankheit, der Fritz vier Jahre später ebenfalls erlag. Die kurze Spanne dieser Liebesgeschichte bildet den inneren Kern der Erzählung. Gegliedert in 55 Kapitel, ergänzt um ein Nachwort, ist dieses Buch, wie die Autorin es ausdrückte, eine «Art Roman», stellt also im Wesentlichen eine fragmentarische Biografie des Dichters Novalis dar, aber auch eine um Fiktionales ergänzte, historisch aufschlussreiche Schilderung dieser Epoche. Der vielseitig gebildete Novalis verkehrt mit Geistesgrößen seiner Zeit, steht mit Schiller, Goethe, Schlegel, Fichte und anderen auf vertrautem Fuß. Aber auch Profanes hat seinen Platz in diesem kleindeutschen Milieu mit Jena und Weimar als geistiger Mittelpunkt, ob dies nun die finanziell angespannte Lage der Familie Hardenberg mit ihren elf Kindern ist oder kaum zu glaubende Praktiken der Mediziner, der pietistisch den Herrnhutern hörige Vater ebenso wie die Charaktere der skurrilen Familienmitglieder und ihre eigenartigen Rituale, beim Frühstück oder zu Weihnachten. Auch das uns Heutige äußerst rüde erscheinende Alltagsleben auf einem abgewirtschafteten Gutshof, die englische Autorin gibt uns gut recherchierte Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse.

Indem Fitzgerald sich mit begleitenden Hinweisen und Erklärungen, die sie als «Beleidigung des Lesers» empfunden hat, ganz bewusst zurückhält, die Geschehnisse also ungeschönt, ganz unkommentiert auf ihn einwirken lässt, erhalten ihre kurzen Episoden eine einzigartig direkte Wirkung, erhellen das Wesen ihrer zahlreichen, lebensprall gezeichneten Figuren und deren verbindendes Beziehungsgeflecht. Besonders bedrückend wirkt deshalb am Ende auch die knappe Schilderung von Sophies Todesstunde. Fritz kann sie nicht anlügen, ihren sich verschlimmernden Zustand nicht schönreden, er verlässt den Gutshof ohne Abschied, ohne seine übliche Beteuerung: «Sophie, du bist die Seele meiner Seele».

Zweifellos ist es der Autorin gelungen, uns einen großen Dichter der Romantik nahe zu bringen. Wichtigstes Thema jedoch ist die rätselhafte Anziehungskraft zwischen Liebenden und ihr letztendlich schmähliches Versagen vor dem Menetekel des nahenden Todes. Ihre Sprache ist schnörkellos, wirkt allerdings recht holzschnittartig, die Handlung zudem ist allzu sprunghaft erzählt, was dem Lesevergnügen ziemlich abträglich ist. Der große Erfolg im englischsprachigen Ausland dürfte in der dort unbekannten Thematik um den Dichter Novalis begründet sein, kaum in den literarischen Qualitäten dieses Romans.

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Bewertung vom 20.02.2017
Kraft
Lüscher, Jonas

Kraft


sehr gut

Skeptische Gelehrtensatire

Nach seinem Anfangserfolg mit der Novelle «Frühling der Barbaren» hat der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher heuer, vier Jahre später, seinen ersten Roman unter dem Titel «Kraft» veröffentlicht. Aus seiner dreijährigen Arbeit an einer Dissertation sei «leider nichts geworden, dafür ist nun der vorliegende Roman entstanden, in den einiges eingeflossen ist, über das ich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachgedacht habe», heißt es in der Danksagung am Ende des Buches. Bei dieser Vorgeschichte ist es nahe liegend, dass der so entstandene Debütroman als wissenschaftsskeptische Gelehrtensatire angelegt ist, in der Fortschrittsglaube und Kapitalismus ebenso karikiert werden wie überholte Strukturen in Universität und Gesellschaft.

Protagonist des Romans ist Prof. Richard Kraft, Nachfolger von Walter Jens auf dem Lehrstuhl für Rhetorik in Tübingen. Der brillante Wissenschaftler steht vor den Trümmern seiner zweiten Ehe mit Heike, zudem plagen ihn Geldsorgen, denn die großzügige Versorgungsregelung für seine Exfrau Ruth und die beiden Kinder frisst fast sein gesamtes Einkommen als Hochschullehrer auf. Als er von einem Freund an der Stanford Universität zur Teilnahme an einem wissenschaftlichen Wettbewerb im Silicon Valley aufgefordert wird, bei dem ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgesetzt ist, sieht er darin die Lösung aller seiner Probleme, auch Heike rät ihm, unbedingt teilzunehmen. Dem Problem der Theodizee von Leibnitz folgend, sollen die Konkurrenten in einem höchstens 18minütigen Vortrag vor einer Jury eine schlüssige Antwort auf die Preisfrage geben: «Warum alles, was ist, gut ist, und wie wir es trotzdem verbessern können».

Während einer dreiwöchigen Vorbereitungsphase, im Lesesaal des Hoover Tower auf dem Campus von Stanford sitzend, sucht Kraft vergeblich nach einer zündenden Idee; ihm fehlt jedwede Inspiration, der von ihm zu begründende Zukunftsoptimismus überfordert ihn als Skeptiker. Immer wieder verliert er sich in Grübeleien über sein Leben, denkt an seine frühen Studententage und seine politischen Jugendsünden als neoliberaler Wirrkopf. Er rekapituliert seine wissenschaftliche Karriere, sinniert über sein permanentes Scheitern bei Frauen, bedauert die fehlende familiäre Bindung. Der Autor wartet mit einem Feuerwerk von Ideen auf, verarbeitet gekonnt die jüngere Zeitgeschichte in klug ausgewählten Episoden, deren interessanteste für mich das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt war. Er spart jedenfalls nicht mit beißender Gesellschaftskritik, die auch den ausufernden Digitalismus unserer Tage einschließt. Der Theodizee stellt er beispielsweise für die Finanzmärkte den von Joseph Vogl geprägten Begriff der Oikodizee gegenüber, die Entzauberung und damit allfällige Bändigung der Finanzmärkte. In einer furiosen Traumsequenz malt er schließlich sehr realistisch das Inferno eines schweren Erdbebens in San Franzisko aus, ein düsteres Szenario, in dem er trickreich das Schicksal seines gescheiterten Helden spiegelt.

Jonas Lüscher ist ein sehr genauer Beobachter, er schreibt hier äußerst leichtfüßig, aber aus kritischer Distanz, im Modus Modestiae, dem Autorenplural, uns Leser damit einbeziehend in seine Betrachtungen. Bei denen dann sein Held, satirischer Inbegriff des intellektuellen Schwaflers, so gar nicht gut wegkommt. Die Fülle an Gedanken, die da vor uns ausgebreitet werden, ist beeindruckend, viele kluge Reflexionen und philosophische Exkurse sind trotz des mokanten Erzähltons, in dem sie vorgetragen werden, zweifellos ernst gemeint und durchaus bereichernd. Mit einem bildungssatten Schreibstil in langen Schachtelsätzen unterstreicht Lüscher süffisant seinen ironischen Duktus. Auch wenn er dabei so manches Klischee bedient, wird er zu Recht als hochaktuelle Stimme gelobt, die ihresgleichen nicht hat in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Auf den Leser wartet ein anregendes, amüsantes und zweifellos auch intellektuelles Lesevergnügen.

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