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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2015
Der Zementgarten
McEwan, Ian

Der Zementgarten


weniger gut

Sex sells

Der englische Schriftsteller Ian McEwan hat 1978 mit seinem vielgerühmten Romandebüt «Der Zementgarten» den Einstieg zu einer Weltkarriere geschafft, er gilt heute als der erfolgreichste Autor seines Landes. Zur Popularität beigetragen haben sicherlich diverse Verfilmungen seiner Romane, die ausgeklügelte Konstruktion seiner Plots wie auch die von ihm favorisierten, psychologisch ergiebigen Thematiken Liebe, Selbstfindung, Verlust, Verrat, Vergänglichkeit, sind schließlich in ihrer Kombination ideale Vorlagen für filmische Adaptionen. Hinzu kommt, im vorliegenden Roman unübersehbar, die wie festzementiert ewig gültige Marketing-Erkenntnis: Sex sells!

«Der Zementgarten» beginnt mit einem Paukenschlag, sein erster Satz lautet: «Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich ihm nachgeholfen.» In einer trostlosen Umgebung, im letzten noch nicht abgerissenen Haus einer Siedlung, die einer Straße weichen musste, lebt eine sechsköpfige Familie. Der Vater erleidet einen Herzinfarkt und fällt in ein frisch angelegtes Zementbett, mit dem er seinen Garten pflegeleichter machen wollte. Sein 13jähriger Sohn Jack, der dazukommt, wartet bewusst viel zu lange, bis er Hilfe holt. Als zwei Jahre später die Mutter zuhause stirbt, nach langer Krankheit und auf eigenen Wunsch ohne ärztliche Betreuung, melden die Kinder ihren Tod den Behörden nicht, weil sie dann als Waisen auseinandergerissen in irgendwelchen Heimen landen würden. Sie benutzen Sand und Zement des Vaters und lassen die Leiche der Mutter in einer Kiste im Keller verschwinden, die sie bis obenhin mit Mörtel auffüllen. Die älteste Tochter, die inzwischen achtzehnjährige Julie, nimmt die Stelle der Mutter ein, niemand merkt etwas, die kontaktarme Familie bekommt so gut wie nie Besuch. Der Haushalt verkommt allmählich, es ist ein heißer Sommer, die Jugendlichen haben Schulferien und lassen sich ziellos treiben, haben zu nichts Lust. Als Julie dann Derek kennenlernt, einen eitlen professionellen Billardspieler, und ihn nach Hause mitbringt, wird der schon bald misstrauisch. Er stellt einen merkwürdigen Geruch im Haus fest, der aus dem Keller kommt, und entdeckt die Kiste. Jacks Hund wäre dort begraben, sagen ihm die Teenager. Eines Tages albert Julie mit Jack herum, sie raufen miteinander, ziehen sich nackt aus, beginnen mit Petting. Derek, den Julie immer keusch auf Abstand gehalten hat, erwischt sie dabei. Er läuft empört aus dem Zimmer, Julie riegelt die Tür zu, es kommt zum Inzest; für Julie die Entjungferung, auch für Jack ist es das erste Mal. Wütend zertrümmert derweil Derek im Keller mit einem Vorschlaghammer den Zement und alarmiert die Polizei. Buch und Beischlaf enden mit Blaulicht.

Nicht nur die äußeren Kontakte fehlen dieser Familie, auch innerhalb herrscht eine bedrückende Verständnislosigkeit füreinander. Julie, die Älteste, sucht Bestätigung im Sport. Jacks Pubertät äußert sich im ständigen Onanieren, der Autor erspart uns nichts davon. Überhaupt ist Sexualität ein wichtiges Thema, in Doktorspielen ist die jüngere Schwester Sue Untersuchungsobjekt für Julie und Jack. Als sie dafür dann zu alt ist, nicht mehr mitspielt, verschanzt sie sich hinter ihren Büchern, kapselt sich ab. Der fünfjährige Nachzügler Tom schließlich reagiert mit einem Rückfall ins Babyalter.

Es sollte wohl ein Lehrstück der Psychoanalyse werden, was McEwan da, in uninspiriert einfacher Sprache aus der unbekümmert naiven Perspektive seines Ich-Erzählers Jack berichtet. Die Geschichte einer Verwilderung, deren Ursachen in der völligen sozialen Isolation ebenso liegen wie im Fehlen der elterlichen Autorität. Den Nachweis allerdings, dass zwischen chaotischer familiärer Situation und sexuellem Tabubruch ein Zusammenhang besteht, eindeutig ja Intention des Autors, bleibt er dem Leser schuldig. Das wäre auch kaum plausibel, inzestuöse Triebe gibt es schließlich in allen gesellschaftlichen Schichten. Es ist wenig überzeugend, was man da liest!

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Bewertung vom 04.09.2015
Wiedersehen in Howards End
Forster, E. M.

Wiedersehen in Howards End


gut

Tea Time

Fünf Jahre nach seinem ersten Roman erschien 1910 schon Edward Morgan Forsters «Wiedersehen in Howards End», das fünfte seiner in schneller Folge herausgegebenen epischen Werke. Der vorliegende Roman wurde dann 39 Jahre später auch auf Deutsch veröffentlicht, einem breiteren Publikum aber wurde der Autor erst nach Verfilmung einiger seiner Romane Ende der achtziger Jahre bekannt. Als Altphilologe und Historiker gilt das Augenmerk dieses weitgereisten Schriftstellers den Konflikten, wie sie zwischen unterschiedlichen Ethnien ebenso entstehen wie zwischen den sozialen Gruppen eines Volkes, den Geschlechtern oder den Generationen. Hier im Roman sind konservativ englisches und idealistisch deutsches Wesen gegenübergestellt, erbbegünstigt Reiche und unverschuldet Arme, quirlige Städter und schwerfällige Landbewohner, andächtig Kulturbeflissene und geldgierige Geschäftsleute.

Eingebettet sind diese Konflikte in einen Plot, bei dem zwei Schwestern mit hälftig deutschen Wurzeln im Mittelpunkt stehen, Margaret Schlegel und ihre um einiges jüngere und attraktivere Schwester Helen. Sie sind früh verwaist, inzwischen beide schon etwas altjüngferlich, sorgenfrei wohlhabend, geistig rege, debattierfreudig, kulturell interessiert. Ihre Wege kreuzen sich mit der archetypisch englischen Familie Wilcox, der Mann erfolgreicher Unternehmer mit einer sehr naturverbundenen Frau, ihnen gehört der schöne Landsitz Howards End nahe London. Dort findet dann auch Helens ebenso harmlose wie kurze Liebelei mit einem der Wilcox-Söhne statt und setzt ein schicksalhaftes Räderwerk an Geschehnissen in Gang, welches, man ahnt es ja schon vom Romantitel her, am Ende alle in eben dieses Landhaus zurückführt. Margaret als Ehefrau des verwitweten Wilcox-Patriarchen, Helen als Mutter eines unehelichen Kindes mit einem so gar nicht standesgemäßen, verheirateten Erzeuger, den dort überraschend auch noch der Tod ereilt.

Der Weg dorthin geleitet den Leser in einer betulich erzählten Geschichte nicht nur durch eine längst vergangene, spätviktorianische Epoche kurz vor dem ersten Weltkrieg, er beleuchtet zudem eindrucksvoll den Kampf zwischen stockkonservativ Denkenden und liberalen Freigeistern. Gleichberechtigung ist noch ein fernes Traumziel, obwohl die emanzipierten Schwestern ihren männlichen Kontrahenten häufig geistig überlegen scheinen, deutlich wendiger sind, zudem auch einfühlsamer, selbst in den schwierigsten Disputen. Und schließlich gibt es ja immer wieder jene segensreiche Zeremonie, die in England geradezu sakrosankte Teestunde, die dann oft auch dazu beiträgt, dass sich alles wieder einrenkt. Forster reichert seinen Plot mit vielen Betrachtungen über Kunst und Natur an, geht philosophischen Fragen nach, hinterfragt skeptisch den technologischen Fortschritt und weist auf dessen negative Folgen hin. All dies bewirkt im Kontext mit einer flüssig lesbaren, anschaulich erzählenden Sprache ein kontemplatives Leseerlebnis, bei dem einige überraschende Wendungen im Geschehen über etliche durchaus vorhandene Längen hinwegtrösten.

Die Seele geht als Sieger hervor im Kampf mit Konvention und Standesdünkel, das ist die Botschaft dieses Romans, und Frauen mit ihrem Idealismus sind dabei die besten Vollstrecker, ihr Gefühl siegt über den nüchternen Verstand. Alle Figuren sind stimmig beschrieben und erwecken durchaus Empathie beim Leser, die Handlung wird zum Ende hin sogar fast spannend und erscheint weitgehend plausibel. Allerdings kam mir Forsters Prosa wie mit Patina bedeckt vor, glanzlos jedenfalls, ohne Esprit, und humorfrei außerdem, was man bei einem der doch für ihren trockenen Humor bekannten englischen Autoren besonders schmerzlich vermisst. Dieser Roman ist das Portrait einer längst vergangenen Zeit, wie man es schon zu kennen glaubt aus etlichen anderen Romanen, es fügt dem Bild seiner Epoche nichts nennenswert Neues hinzu. Das Lesen lohnt sich trotzdem, am besten gemütlich und entspannt bei einer Tasse guten Tees!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.09.2015
Der Richter und sein Henker
Dürrenmatt, Friedrich

Der Richter und sein Henker


gut

Böses mit Bösem bekämpfen

Als frühes Werk des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt ist «Der Richter und sein Henker» 1950 zunächst als Fortsetzungsroman in einer Wochenzeitschrift veröffentlich worden, er wurde später mehrfach verfilmt. Der Reiz dieses Krimis liegt hauptsächlich darin, dass hier ein Dramatiker am Werke war, der äußerst knapp und konzentriert so erzählt, wie es bei einer Bühnenfassung erforderlich wäre, verständlich also und einfach nachvollziehbar. Es wird wenig ausgeschmückt, der Text bleibt beim Wesentlichen, und es geht Schlag auf Schlag, nicht atemlos, aber zielstrebig. So ist denn auch nach gerade mal hundert Seiten der Fall gelöst und lässt einen verblüfften Leser zurück.

In zwanzig Kapiteln entwickelt Dürrenmatt seine Geschichte vom Kampf zweier Männer, die im Suff vierzig Jahre vorher in Istanbul eine makabre Wette geschlossen hatten: der Berufsverbrecher Gastmann hatte damals gewettet, vor den Augen seines Widerparts, des Kriminalkommissars Bärlach, einen Mord zu begehen, den dieser ihm nicht nachweisen könne. Und Gastmann hat diese Wette gewonnen, - seither hat Bärlach nur noch einen Wunsch, seinen Kontrahenten von damals zur Strecke zu bringen. Als sie nun bei den Ermittlungen des inzwischen in Bern tätigen «Kommissärs» im Mordfall an einem seiner Mitarbeiter erneut aufeinandertreffen, weil Gastmann verdächtigt wird, erklärt der lapidar, auf die Wette anspielend: «Ich rate dir, das Spiel aufzugeben. Es wäre Zeit, deine Niederlage einzusehen.» Es sieht auch ganz so aus, als würde Gastmann, durch höchste politische und wirtschaftliche Kreise gedeckt, sich den Ermittlungen auch diesmal wieder entziehen können, und das, obwohl er für den vehement gegen ihn ermittelnden Kriminalassistenten Tschanz dringend tatverdächtig ist. Der alte Bärlach gibt sich nicht geschlagen: «Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.» Als Gastmann ihm den Tod androht in diesem letzten Gespräch vor dem Showdown, entgegnet der Kommissar: «Du irrst dich. … Du wirst mich nicht töten. … Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen.»

Dieser Roman ist ein Krimi im klassischen Sinne mit einem Verbrechen und dem zugehörigen Detektiv, allerdings verschiebt sich hier die logische Abfolge, denn der Täter ist dem Kommissar längst bekannt, er ermittelt bewusst falsch, um eine Situation heraufzubeschwören, die seinem egoistischem Ziel der Selbstjustiz dient. Sich über alle moralischen Bedenken hinwegsetzend spielt Bärlach sich zum Richter auf und sorgt zudem dafür, dass sein Todesurteil auch sofort vollstreckt wird. Er löst damit gleichzeitig den aktuellen Fall, denn indem er den Mörder auf seinen ewigen Widersacher hetzt, treibt er letztendlich beide in den Tod, - Böses mit Bösem zu bekämpfen gerät hier also zur Katharsis.

In lakonisch knapper Sprache, mit kurzen, einfachen Sätzen, ironisch und zuweilen amüsant, schildert der Autor das turbulente Geschehen, lässt seine kühl und distanziert beschriebenen Protagonisten agieren. Der Plot weist logische Fehler auf, die mich sehr gestört haben: Kein Dorfpolizist, auch keiner aus der Schweiz, würde einen soeben aufgefundenen Ermordeten in dessen Wagen vom Tatort weg zur Wache fahren! Wer lässt sich schon von einer scharfen Dogge anfallen, damit der Kollege sie erschießt und er so zu einer Kugel aus dessen Dienstwaffe kommt? Welcher Kriminalpolizist schießt, selbst angeschossen, mit nur drei Schüssen gleich drei gefährliche Gangster tot? Wilhelm Tell lässt grüßen! Es gibt Dergleichen mehr zu beanstanden, -Fiktion hin, Fiktion her, etwas Realitätsnähe hätte der philosophisch ja interessanten Thematik gut getan. Was also soll der Hype um diesen Roman? Er ist weder ein überzeugender Krimi noch gar ein literarisch hochstehendes Werk!

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Bewertung vom 28.08.2015
Eine Liebe Swanns
Proust, Marcel

Eine Liebe Swanns


ausgezeichnet

Vinteuils Phrase und die Cattleyas

Einer der Götter im literarischen Olymp ist neben Joyce und Musil der französische Schriftsteller Marcel Proust, bei dessen Namen einem sofort auch sein monumentales Hauptwerk «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» in den Sinn kommt, häufig - abgekürzt nach dem Originaltitel - einfach nur «Recherche» genannt. Dieser siebenbändige Romanzyklus beginnt mit dem Band «Unterwegs zu Swann», den der Autor 1913 auf eigene Kosten veröffentlichen hat, weil das Manuskript von André Gide, dem damaligen Lektor des Verlages Gallimard, abgelehnt worden war - sein größter Fehler, wie Gide später dann zugegeben musste. Der Mittelteil dieses ersten Bandes wiederum ist «Eine Liebe Swanns», die in sich abgeschlossene Geschichte einer Amour fou in der gehobenen Pariser Gesellschaft des Fin de Siècle.

Charles Swann, ein reicher Lebemann mit künstlerischem Interesse, der in den allerhöchsten Kreisen verkehrt, lernt im Salon der Verdurins Odette de Crécy kennen, eine für ihn zunächst wenig anziehende, bereits verwelkende Dame mit zweifelhaftem Ruf. Aber Swanns Zuneigung wird plötzlich geweckt, als er in ihren Zügen eine Ähnlichkeit mit Sephora, einer Figur auf dem Fresko von Botticelli in der Sixtinischen Kapelle zu erkennen glaubt, - sie kommen sich allmählich näher. Zum Leitmotiv ihrer aufkeimenden Liebe wird eine Melodie, eine kleine Phrase bei Vinteuil, die sie beide tief ergriffen im Salon der Verdurins hören. Und als Swann ihr beim Drapieren von Cattleyablüten am Ausschnitt ihres Kleides näherkommt, sogar die erste Liebesnacht damit einleitet, wird die Metapher «Cattleya spielen» für sie zum verschlüsselten Stichwort. Der Zweifel an Odettes Ruf ist nicht zuletzt auch in den von ihr ständig beklagten finanziellen Nöten begründet, Swann unterstützt sie großzügig mit beträchtlichen monatlichen Zuwendungen, ohne sich in seinem Liebesrausch dieser profan materiellen Seite ihrer Beziehung wirklich bewusst zu sein. Nach einiger Zeit des Hochgefühls stellt sich bei ihm - durchaus nicht unbegründet - Eifersucht ein, er glaubt sich zunehmend vernachlässigt und leidet schlimme Qualen an seiner obsessiven Liebe. Bis es ihm schließlich nach einer längeren Auslandsreise von Odette gelingt, sich völlig aus seiner schicksalhaften Verstrickung zu lösen, diese Frau realistisch als das zu sehen, was sie wirklich ist, eine gewöhnliche, ungebildete, treulose Kurtisane.

Derartige Sujets hat man schon öfter angetroffen in Romanen, was Proust jedoch unterscheidet und auszeichnet ist die unglaubliche sprachliche Virtuosität, mit der er seine Erzählung vor uns ausbreitet, sowie die Fülle an immer neuen Facetten, die er seinem Thema abgewinnen kann, dabei ständig neue Assoziationsketten auslösend. Was von manchen Lesern als langatmig empfunden wird, ist in Wirklichkeit eine grandiose Fähigkeit des Autors, alle Aspekte eines Geschehens, selbst die geheimsten Tiefen in der Seele seiner Figuren auszuleuchten, uns sichtbar zu machen. Häufig wenn man meint, ein Detail wäre nun umfassend geschildert, wird man verblüfft damit konfrontiert, dass ihm noch etliche andere Eigenschaften innewohnen, über die zu lesen sich ebenfalls lohnt. Insoweit ist Marcel Proust ein unübertroffener Perfektionist, ein Solitär unter den Romanciers.

Swann erkenne den gesellschaftlichen Rang eines Salons bereits an wenigen Namen der Teilnehmer eines Diners, «so wie ein Literaturkenner bereits beim Lesen eines Satzes die literarischen Qualitäten seines Autors richtig einzuschätzen weiß» heißt es an einer Stelle. Viel mehr wird auch nicht nötig sein, um an einigen Sätzen aus seiner Feder den Autor Proust zu erkennen, schon an der für ihn typischen mondänen, dekadenten Gesellschaft, die seine literarische Spielwiese ist. Wie schön außerdem, können Sprachsüchtige doch fast unbegrenzt weiterlesen in diesem riesigen Romanzyklus, der über sein Titelthema letztendlich dahingehend aufklärt, man müsse einen Roman schreiben (sic!), um die verlorene Zeit zu finden.

Bewertung vom 24.08.2015
Die schöne Frau Seidenman
Szczypiorski, Andrzej

Die schöne Frau Seidenman


ausgezeichnet

Noch ist Polen nicht verloren

In der ehemaligen Dienstvilla des Kommandanten von Sachsenhausen befindet sich heute das «Haus Szczypiorski», eine Jugendbegegnungsstätte, die der polnisch/deutschen Aussöhnung dient. Damit wurde ein politisch engagierter, polnischer Schriftsteller geehrt, der als Jude am Warschauer Aufstand teilgenommen hatte und in diesem KZ interniert war. Sein Roman «Die schöne Frau Seidenman» ist sein bekanntestes Werk, es wurde 1984 in einem Exilverlag in Paris veröffentlicht, stieß allerdings in seiner Heimat auf Empörung. Denn was hier erzählt wird aus Warschau im Frühling des Kriegsjahres 1943, ist nicht nur für Deutsche unsäglich beschämend, es ist auch für Polen wenig schmeichelhaft.

Irma Seidenmann, 36jährige Witwe eines früh an Krebs verstorbenen Röntgenologen, kinderlos, schön, blond, blauäugig, ist Jüdin, hat sich aber durch ihr Aussehen und gefälschte Papiere bisher vor der Deportation schützen können. Bis der Denunziant Bronek, selbst Jude und Polizeispitzel, sie erkennt und als Jüdin meldet. Trotz perfekter Papiere besteht sie nur mit viel Glück eine penible Untersuchung, und welches Räderwerk an Helfern daran beteiligt war, sie aus den Fängen der Nazis zu befreien, oft selbstlos und mit viel Courage, das bildet im Wesentlichen den Handlungsfaden für diesen Roman. In 21 Kapiteln, die sich schwerpunktmäßig mit allen diesen Figuren beschäftigen, schildert der Autor deren teils groteske Lebensumstände, bedingt durch die deutsche Besetzung dieses gedemütigten Landes. Da ist der Richter Romnicki, der Schneider Kujawski, die Freunde Pawelek und Henryk, die Nonne Schwester Weronika, der Rechtsanwalt Fichtelbaum, Irmas Nachbar, der Altphilologe Dr. Korda, der Eisenbahner Filipek, der Berufsbandit Wiktor, der schöne Lolo, Judenjäger und Erpresser, der Mathematiker Professor Winiar, der deutsch-polnische Johann Müller, wichtigster Helfer mit höchstem Risiko, schließlich der SS-Mann Stuckler, dem die schöne Frau Seidenman so glücklich entronnen ist. Wie ein Reigen sind die Geschichten dieser Figuren ineinander verwoben, und jede der Geschichten beleuchtet eine der vielen Facetten dieser furchtbaren Zeit.

In einer trotz der todernsten Thematik ironischen, gelegentlich sogar amüsierenden Sprache schildert Szczypiorski die politischen Verhältnisse in Warschau am Beispiel seiner liebevoll und stimmig beschriebenen Protagonisten, deren unterschiedliche Schicksale, die ganze Bandbreite der einfachen Bevölkerung umfassend, ebenso berührend sind wie spannend zu lesen. Die Menschen stehen bei ihm im Mittelpunkt, mit allen ihren Ängsten, Schwächen, Charakterfehlern, mit ihrer angesichts des täglichen Grauens verzweifelten Ratlosigkeit, bei der ihnen die Religion, ob jüdisch oder katholisch, auch nicht hilft, Gott schaut geflissentlich weg. Der auktoriale Erzähler springt zeitlich nicht nur zurück, er greift auch vor auf die Zukunft, erzählt vorab vom Tod oder dem späteren Schicksal seiner Figuren. Mit diesem relativ seltenen Stilmittel wird kunstvoll die Spannung erhöht, obwohl ja die erzählerische Gegenwart nicht abgeschlossen ist, die Figuren also noch weiter agieren. Viele Details der damaligen Lebenswirklichkeit schildert der Autor so wirklichkeitsnah und anschaulich, wie man sie in keinem Geschichtsbuch findet, insoweit ist seine Erzählung gleichermaßen als wichtiges Dokument der Zeitgeschichte anzusehen.

Während die Deutschen unter der «Die Tyrannei der Perfektion» stehen, auch was das Töten anbelangt, erfüllen die Kommunisten mit ihren «ideologischen Streitigkeiten, die in Todesurteilen endeten», den Autor mit Abscheu. Sein Patriotismus ist sehr skeptisch, seine Sicht der Nachkriegszeit nicht minder. «Noch ist Polen nicht verloren» ist Hymne und Devise für ein von der Geschichte gebeuteltes Volk, das sich nicht unterkriegen lässt. Der Roman beleuchtet klug und feinfühlig dessen innerste Bindekräfte, eine alles überwindende, tief empfundene Menschlichkeit. Unbedingt lesen, kann ich nur sagen!

Bewertung vom 24.08.2015
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Rilke, Rainer Maria

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge


sehr gut

Der Lyriker als Romancier

Rainer Maria Rilke selbst hat «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» als Prosabuch bezeichnet, nicht als Roman. Im Brockhaus wird der Roman definiert durch «die individuell gestaltete Einzelpersönlichkeit, die einer als problematisch empfundenen Welt gegenübertritt», und genau dieses Charakteristikum findet sich hier in der fiktiven Figur des dänischen Poeten, der einem aussterbenden Adelsgeschlecht angehört und als armer Dichter in Paris seinen Weg sucht - also doch ein Roman! Es ist der einzige, den der Lyriker Rilke geschrieben hat, ganz unter dem Eindruck seines Aufenthaltes in der damals drittgrößten Stadt der Welt, sein Roman wurde 1910 veröffentlicht.

Im ersten Teil der fragmentarischen, aus 71 Aufzeichnungen bestehenden Erzählung berichtet der 28jährige Malte als eine Art Tagebuchschreiber von seinen Pariser Erlebnissen und den schockierenden Eindrücken, der Moloch Großstadt steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu seiner Kindheit in einer wohlbehüteten ländlichen Welt. Er schildert die Menschenmassen und das unsägliche Elend, das mit der Industrialisierung einhergeht. Verfall, Krankheit und Tod scheinen allgegenwärtig, ständig begegnen ihm nie gesehene Aussätzige, Krüppel, übelste Gerüche verfolgen ihn auf seinen Streifzügen, - in seinem Eckel ist ihm die Bibliothek einzige Zufluchtsstätte im Paris des Fin de Siècle. Seine Kindheitserinnerungen im zweiten Themenkomplex sind geprägt von hochherrschaftlichen Wohnsitzen mit großen Zimmerfluchten, dunklen Ölgemälden mit den Portraits der Vorfahren, steifen Essensritualen im Kreise der Familie, sogar der Spuk einer vor hundert Jahren gestorbene Ahnfrau fehlt da nicht, sie erscheint gelegentlich in weißem Kleide und durchquert das Esszimmer, zum Schrecken aller. Und ganz verschlüsselt schimmert auch eine verbotene Liebe durch in den Jugendbildern, von denen Malte in nicht chronologischer Folge berichtet.

Ergänzt wird all dies durch Reflexionen über historische Ereignisse, denen zu folgen, deren Anspielungen zu verstehen, den Normalleser deutlich überfordern dürfte, bei mir war es jedenfalls so. Ob da von längst verblichenen Königen oder edlen Damen die Rede ist, vom Papst in Avignon, von antiken Gestalten, hundert Jahre nach Erscheinen des Romans dürfte dem heutigen Leser oft der adäquate Verständnishintergrund fehlen. Einfacher ist es da und auch ergiebiger, Rilkes Gedanken über Grundfragen menschlichen Lebens zu folgen, die Frage nach Gott, die eigene Identität, Schicksal, Liebe, Angst, Tod, aber auch Gesellschaft, Kunst und Sprache natürlich, die Benennung von Geschehnissen und Dingen also, deren pure Existenz ohne die Sprache ihm fraglich erscheint.

Und damit sind wir genau bei dem, was diesen Roman auszeichnet, die unglaublich feinfühlige, tiefgründige Sprache nämlich, die ihresgleichen sucht in der deutschen Prosa, kurzum subtil Erzähltes, gemeinhin als Prosagedicht bezeichnet. Hier wird nicht blumig in Worten geschwelgt wie bei manchen Großschriftstellern, nicht maßlos ausufernd wie bei seinem Zeitgenossen Proust zum Beispiel, Rilke entwirft im Gegenteil in knappen Worten einen ganzen Kosmos an Gedanken. Die Dichte seiner Prosa ist atemberaubend, er war der sensible Poet, der «unter dem Sichtbaren nach dem Äquivalenten suchte für das innen Gesehene», und was wir als Ergebnis bei ihm lesen ist äußerst komprimierte «Schmucksprache» im besten Sinne des Wortes. Als einer der Wegbereiter der literarischen Moderne verwendet Rilke Montagetechniken, setzt den Bewusstseinsstrom ein, sogar ein fiktiver Herausgeber findet sich, personifiziert durch gelegentlich eingestreute Randnotizen im Manuskript und verschiedene Fassungen im Anhang. Auch wenn wir nicht alles erfahren über Malte, an dieser oder jener Verständnisklippe scheitern, dieser Roman ist ein sprachliches Fest für entsprechend orientierte Leser mit Muße für ihre Lektüre, vielleicht sogar mit der seltenen Geduld, ein schwieriges, aber wichtiges Werk auch mehrmals zu lesen.

Bewertung vom 18.08.2015
Bronsteins Kinder
Becker, Jurek

Bronsteins Kinder


ausgezeichnet

Fast ein kleines Wunder

Manchem Roman ist es beschieden, immer im Schatten eines erfolgreicheren vom gleichen Autor zu stehen, bei Jurek Becker ist es der 1986 erschienene Band «Bronsteins Kinder», dem übermächtig «Jakob der Lügner» gegenübersteht, sein 1969 veröffentlichter, berühmtester Roman. Beide sind verfilmt worden, wen wundert’s, wenn der Verfasser zugleich auch ein bekannter Drehbuchautor war, die erfolgreiche TV-Serie «Liebling Kreuzberg» stammt aus seiner Feder. Seine polnische Herkunft und die jüdischen Eltern, von denen nur der Vater Ghetto und KZ überlebt hat, haben ihn in seiner literarischen Thematik stark geprägt, hinzu kommen noch seine Jahre in der DDR, der er nach mancherlei Querelen und Schikanen 1977 schließlich den Rücken gekehrt hat. Man tut sich als Wessi heute etwas schwer, den politischen Hintergrund der vorliegenden Geschichte richtig zu würdigen, - für deren Problematik allerdings ist er unbedeutend.

Denn es geht um fundamentale Fragen von Schuld und Sühne, um das Gegenüber von Täter und Opfer lange nach der Tat, hier im Roman eines SS-Aufsehers des KZs Neuengamme mit dreien seiner einstigen Insassen. Hans Bronstein wird zufällig Zeuge, dass sein Vater und zwei andere Männer einen ihrer früheren Peiniger in der Datscha seines Vaters gefangen halten und foltern, ihm drei Jahrzehnte nach der Tat ein Schuldgeständnis abpressen wollen. «Darf einer, der mit dreißig Jahren geschlagen wurde, mit sechzig zurückschlagen?» ist eine der Fragen, mit denen sich Hans plötzlich konfrontiert sieht. Er wird ungewollt in einen schweren Loyalitätskonflikt mit seinem Vater hineingezogen, der niemals wird überwinden können, was ihm als polnischem Juden an Unrecht widerfahren ist. Den Justizorganen jedenfalls trauen die drei ehemaligen Opfer nicht; eine angemessene Bestrafung ist von diesem deutschen Staat keinesfalls zu erwarten, davon sind sie überzeugt.

Jurek Becker erzählt diese Geschichte in zwei Zeitebenen, und er beginnt: «Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb. Das Ereignis fand am vierten August 73 statt, oder sagen wir ruhig das Unglück, an einem Sonnabend. Ich habe es kommen sehen.» Mit lakonischem Duktus, in einer einfach zu lesenden, kristallklaren Sprache, entwickelt Becker seine spannende Geschichte, wobei er in der zweiten Zeitebene rückblickend von den Geschehnissen im Zusammenhang mit der Selbstjustiz berichtet und von den Nöten, die seinen Protagonisten als einzigen Zeugen und Mitwisser umgetrieben haben. Durch die Entführung war eine zwickmühlenartige Situation entstanden, denn nicht nur die rachedürstenden ehemaligen KZ-Insassen mussten eine Entdeckung fürchten, das Opfer hatte gleichermaßen Angst vor Entdeckung und einem unvermeidlich folgenden Strafverfahren. In seiner Gewissensnot sucht Abiturient Hans Rat bei seiner in einer psychiatrischen Anstalt weggeschlossenen, deutlich älteren Schwester, die schubartig zu unkontrollierten tätlichen Angriffen gegen fremde Menschen neigt, mit der er jedoch ein inniges Verhältnis hat, - er besucht sie oft, sie schreibt ihm rührende Briefe in einer kuriosen Orthografie. Seine Freundin Martha einzuweihen traut er sich nicht, die Beiden hatten die jetzt als Gefängnis dienende Waldhütte bisher als Liebesnest genutzt.

Nach dem überraschenden Schluss bleiben Fragen offen. Das ahnt man vorab schon, wenn nämlich gegen Ende des Buches nur noch ein paar Seiten übrig bleiben zur Klärung. Ist das nun ein Manko? Keineswegs! Der klug konstruierte Plot mit den stimmig beschriebenen, originellen Figuren schneidet wichtige Themen an, hält sich aber mit wohlfeilen Erklärungen, mit Wertungen gar, weise zurück. Die vorwärtsdrängende, leichtfüßige Erzählweise mit ihren amüsanten Wendungen macht diesen Roman zu einer ausgesprochen kurzweiligen Lektüre, was bei der komplizierten Vater/Sohn-Konstellation, die er so virtuos behandelt, und seiner schwierigen Schuld/Sühne-Thematik fast an ein kleines Wunder grenzt.

Bewertung vom 18.08.2015
Traumpfade
Chatwin, Bruce

Traumpfade


schlecht

Verlorene Zeit

Es gibt Bücher, mit denen man partout nichts anzufangen weiß, die einem irgendwie nicht liegen, der Thematik oder Erzählweise, zuweilen aber auch der Botschaft wegen, die sie transportieren sollen. Bruce Chatwins mit allerlei Reflexionen angereicherter Reisebericht «Traumpfade», nach seinem Erscheinen 1987 zum Bestseller avanciert, gehört für mich persönlich eindeutig zu dieser unerquicklichen literarischen Spezies. Für Globetrotter sicherlich interessant, bietet dieses Buch, das Vieles ist, nur kein Roman, trotz etlicher Informationen über die eingeborene Bevölkerung eines fernen Kontinents den übrigen Lesern literarisch rein gar nichts. Weder eine interessante Handlung noch sympathische Figuren, deren Erlebnisse erzählenswert wären oder mit denen man sich irgendwie identifizieren könnte. Es bietet leider auch keine sprachliche Könnerschaft oder einen kreativen Schreibstil, womit das Lesen ja per se zu einem Genuss werden kann. Wer also nicht gerade australophil ist, dessen Geduld mit dem englischen Autor wird 368 Buchseiten lang auf eine harte Probe gestellt.

Im ersten Teil erzählt Chatwin fiktional angereichert von seinen Erlebnissen in Australien, dem fünften Kontinent, der es ihm ganz besonders angetan hat. Zu Beginn schildert er das Zusammentreffen mit Arkady Wolschock, einem russischstämmigen Wissenschaftler, der für eine Eisenbahngesellschaft tätig ist und als Kontaktmann zu den Aborigines fungiert, um mit ihnen die Trasse einer neu zu bauenden Schienenstrecke abzustimmen. Der Autor schließt sich ihm an, begleitet ihn auf seinen Reisen und lernt so die Mythen der Eingeborenen kennen, deren Traumpfade auf uralten Überlieferungen beruhen. Sie nennen sie Songlines, Wege also, die man singen kann, die magische Punkte berühren, von den Aborigines wie Heiligtümer verehrt, da sie den Entstehungsmythos vieler gottähnlicher Kreaturen verkörpern. Auf diesen Fahrten treffen die Beiden mit vielen Eingeborenen zusammen, deren prekäre Lebensumstände einem Europäer eigentlich als unerträglich erscheinen müssten. Seltsamerweise hält sich der Autor aber mit einer Anklage der britischen Kolonialherren ziemlich zurück, obwohl hier eine ebenso rücksichtslose Unterdrückung und auch Ausrottung der indigenen Bevölkerung stattgefunden hat wie in Asien, Afrika oder Amerika.

Chatwins besonderes Thema, ja geradezu sein Herzensthema, ist das Nomadentum, für das er sich maßlos begeistern kann und dem er kritisch immer wieder das sesshafte Leben des modernen Menschen gegenüberstellt. Er führte selbst ein unstetes Leben mit ausgedehnten Reisen, fühlte sich als Autodidakt wohl auch ein bisschen wie ein Privatgelehrter, der mit Konrad Lorenz Gespräche führte und mit vielen Fachleuten auf dem Gebiet der Kulturanthropologie zusammentraf. Seine detaillierten Beschreibungen eines für die meisten Leser völlig fremden, fernen Kontinents mit seiner exotisch anmutenden Flora und Fauna erklärt die große Popularität, die er in dafür empfänglichen Leserkreisen genießt, viele der Lobeshymnen zeugen davon.

Die zweite Hälfte des Buches unter dem Titel «Aus den Notizbüchern» ist eine ebenso kuriose wie überflüssige, bruchstückhafte Sammlung von Zitaten, Aphorismen und Notizen des Autors, mit denen er unverdrossen seine Botschaft zu ergänzen und zu untermauern sucht. Da findet sich dann beispielsweise zum Thema Knochenfunde von Hominiden Tiefsinniges wie: «Wenn bewiesen werden könnte, dass sie von anderen Hominiden in die Höhle gebracht wurden, würden diese sich der Anklage wegen Mordes und Kannibalismus stellen müssen. Wenn nicht, nicht.» Wow! Vom Gilgamesch-Epos bis zu Hitlers Refugium bei den Nürnberger Parteitagen, gipfelnd in der These vom Songline-Urmodell für alle nachfolgenden Systeme, es wimmelt nur so von populärwissenschaftlichem Nonsens. So was kann erheitern sein, ist es hier nun aber wirklich nicht, - schade also um die verlorene Zeit, in der man ja auch einen richtigen Roman hätte lesen können, womöglich sogar einen guten!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2015
Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Høeg, Peter

Fräulein Smillas Gespür für Schnee


weniger gut

Eiskalte Groteske

Dem dänischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Peter Høeg gelang mit seinem Roman «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» 1992 international der Durchbruch. Der mit einigen Preisen, unter anderem dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnete Roman erlangte schnell Bestsellerstatus und wurde schon bald auch verfilmt, wenig überzeugend allerdings. Nicht zuletzt unter diesem Eindruck hat der Autor eine Verfilmung seiner Werke künftig generell ausgeschlossen, er wolle nicht, dass der bildlichen Phantasie seiner Leser durch den Film Grenzen gesetzt werde. Eine wie ich meine durchaus honorige und nachahmenswerte Position, misslungene Verfilmungen gibt es ja zuhauf, wie Romanleser aus leidvoller Erfahrung wissen. Diametral steht dem allerdings der schnöde Mammon gegenüber, die kaum auszuschlagenden finanziellen Verlockungen für die Autoren.

Das Kopfkino des Lesers bekommt jedenfalls reichlich zu tun, um den rasanten Plot mit Smilla Jaspersen, der robusten und überaus zähen Ich-Erzählerin, in Bilder umzusetzen. Der in drei Teile gegliederte, vorwärtsdrängend im Präsenz erzählte Roman ist mehr als ein Krimi, er ist zugleich auch Großstadt-, Wissenschafts- und Grönland-Roman, widmet sich der entseelten Metropole ebenso wie der Gletscherkunde und der Unterdrückung der indigenen Eskimo-Bevölkerung Grönlands. Smilla, halb Inuk und halb Dänin, eine 37jährige arbeitslose Mathematikerin und Geologin, kommt nach dem rätselhaften Todessturz eines kleinen Eskimojungen vom Dach ihres Wohnblocks in Kopenhagen einem kriminellen Komplott von skrupellosen Naturforschern auf die Spur. Sie erkennt an einem winzigen Detail der Spur des Jungen in dem Schnee, der auf dem Dach liegt, dass es Mord war. Dessen Hintergründe will sie klären, die Polizei allerdings ist wenig interessiert, behindert sie eher, und wie besessen von ihrer Mission stürzt sie sich couragiert in ein ebenso turbulentes wie gefährliches Abenteuer, das im Grönland-Eis endet. Mehr zu erzählen verbietet sich bei einem von der Spannung lebenden Roman wie diesem natürlich.

Auch wer wie ich nicht gerade ein Krimifreund ist, wird von dem erzählerischen Sog des handlungsreichen Romans unweigerlich mitgerissen, es geht quasi Schlag auf Schlag. Aber nicht nur das ist Grund für den Spaß beim Lesen, weit mehr hat mich die flapsige, schlagfertige, immer wieder überraschende, ebenso kreative wie amüsante Erzählweise des Autors in ihren Bann gezogen, man kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. «Moritz verkehrt dort, weil die Küche gut ist, die Preise sein Selbstgefühl anregen und er es mag, dass man durch die fassadenhohen Spiegelscheiben einen guten Ausblick auf die Leute auf der Straße hat. Benja geht mit, weil sie weiß, dass die Leute auf der Straße durch dieselben Scheiben einen guten Ausblick auf sie haben. Sie haben einen festen Tisch am Fenster und einen festen Ober, und sie essen immer dasselbe. Moritz nimmt Lammniere, Benja eine Schale mit der Sorte Futter, die man Kaninchen gibt.»

Wie zu befürchten lässt der Schwung der Erzählung ab der Mitte spürbar nach, es schleichen sich Längen ein in den 500seitigen Roman, speziell was die wissenschaftliche Thematik anbelangt. Man hat oft Probleme, die Fülle von Details richtig einzuordnen, ihre Relevanz für die Geschichte zu erkennen, wobei die vielen Figuren, speziell was die skurrile Besatzung des Schiffes anbelangt, ebenfalls für einige Verwirrung sorgen. Auch das Ende hat mich nicht wirklich überzeugt, es bleibt zu vieles unplausibel, der Showdown ist absurd überzeichnet. Bei einem ansonsten konsequent dem Realismus verpflichteten Text ein ziemliches Manko, zumindest für die plot-orientierten Leser. Bereichend jedoch sind Grönland, Eis und Schnee als unwirtliche arktische Kulisse, auch die Verhältnisse auf einem Küstenmotorschiff sind für Landratten natürlich interessant, erheiternd aber ist die unbekümmert nassforsche Sprache, in der diese zuweilen fast groteske Geschichte erzählt wird.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.08.2015
Das kurze Leben
Onetti, Juan C.

Das kurze Leben


ausgezeichnet

Klug hinterfragtes Ich

Santa María heißt die fiktive Stadt, in der ein Romanzyklus des uruguayischen Schriftstellers Juan Carlos Onetti beheimatet ist, dessen erster Band den Titel «Das kurze Leben» trägt. Der 1950 erschienene Roman ist das wichtigste Werk dieses der klassischen Moderne zugerechneten Autors, der innerhalb der südamerikanischen Literatur als Avantgardist angesehen werden kann, ihr erster namhafter Vertreter war. Der vorliegende Roman belegt dies deutlich, man ahnt schon recht bald beim Lesen, dass hier nicht gängige Leseerwartungen an einen südamerikanischen Roman á la Llosa oder Marquez erfüllt werden, dass hier kein pralles Leben in buntem Lokalkolorit thematisiert wird mit all den Ingredienzien, die solcherart Lektüre so angenehm mühelos konsumierbar macht. Onettis äußerst anspruchsvoller Roman demgegenüber ist ein gewagtes Spiel mit Identitäten, seine Figuren sind nicht festgefügter Bestandteil eines stringenten Plots, ihre Existenzen bleiben vage, scheinen austauschbar, sind «bloße Verkörperung der Idee» ihrer selbst, wie der Autor schreibt, ein Spiel mit dem Ich.

Aus unverkennbar männlicher Sicht wird hier im Kern das Verhältnis der Geschlechter thematisiert, wobei mich die machohafte Perspektive des Autors ziemlich gestört hat. Ich-Erzähler Juan María Brausen, von Entlassung bedrohter Werbetexter, kommt nicht darüber hinweg, dass seiner Frau die linke Brust amputiert werden musste, seine erst fünf Jahre dauernde Ehe scheitert daran. Durch die dünne Wand zur Nachbarwohnung hört er die Prostituierte Queca, die dort ihre Freier empfängt. Er wird ebenfalls ihr Kunde, bleibt aber anonym, sie weiß nicht, dass er ihr Nachbar ist. Als Ernesto sie erwürgt, identifiziert Juan sich mit ihm, der nur das getan habe, was er selbst tun wollte, er organisiert und begleitet dessen Flucht. Die Morphiumampullen seiner Frau bringen Juan auf eine Idee, er installiert den Arzt Días Grey als Hauptfigur seines neu zu schreibenden Drehbuchs, dessen Fortentwicklung wir als Leser quasi miterleben, - es ist im Wesentlichen der zweite Handlungsstrang. Grey begehrt heftig Elena Sala, die attraktive Frau von Señor Lagos, die Morphium von dem Arzt verlangt, ihm im Sprechzimmer ihre prallen Brüste präsentiert, sich ihm letztendlich aber versagt, weil sie dem schönen, geheimnisvollen Oscar zugeneigt ist. Nach Elenas Tod wird Grey immer mehr in kriminelle Rauschgiftgeschäfte verwickelt, und er begehrt erneut eine Frau, die Lagos begleitet, eine mysteriöse Geigerin. Das Ganze endet im Karneval, von dem auch schon zu Beginn kurz die Rede ist, die Figuren verwandeln sich beim Kostümverleiher in ein anderes Ich, sie verschwinden somit geradezu in der Fiktion, werden unsichtbar, verlöschen.

In den beiden Handlungssträngen, die stark ineinander verwoben in den 41 Kapiteln des zweiteiligen Romans erzählt werden, entwickelt der Autor seine metaphysischen Betrachtungen, verdeutlicht menschliches Bewusstsein, indem er seine Figuren in andere Identitäten schlüpfen lässt, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zeigt. Für mich stärkste Passage war dabei die Bischoffszene, wo er den hochwürdigsten Monsignore zum Beispiel an einer Stelle sagen lässt: «Nur Gott ist ewig. Ein jeder ist nur ein möglicher Augenblick; und das entwürdigende Bewusstsein, das ihnen erlaubt, auf der launischen, zerstückelten und selbstgefälligen Sinneswahrnehmung, die sie Vergangenheit nennen, festzustehen, die ihnen erlaubt, Hoffnungsleinen auszuwerfen, und Fehler in dem zu berichtigen, was sie Zeit und Zukunft nennen, ist, wenn man es annimmt, nur ein persönliches Bewusstsein».

Wer den Fehler macht, einen in jeder Hinsicht literarisch so hochklassigen Roman wie diesen als Strandlektüre lesen zu wollen, der muss natürlich kläglich scheitern an einer derartigen gedanklichen Dichte. Kontemplativ veranlagten, aufnahmebereiten Lesern hingegen wird eine zum Weiterdenken anregende, bereichernde Weltsicht dargeboten, die das Ich ausgesprochen klug hinterfragt.