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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2018
Der Totenmacher
MacBride, Stuart

Der Totenmacher


sehr gut

Jedem Leser, der ein Faible für „Tartan Noir“ Krimis und Thriller hat, dürfte der schottische Autor Stuart MacBride ein Begriff sein. Dieses Genre will neben spannenden Stories auch die gesellschaftspolitische Situation und die Lebensumstände der „normalen“ Bürger zeigen und geht zurück auf die ausgezeichnete „Laidlaw-Trilogie“ von William McIlvanney. Heutzutage sind die prominentesten Vertreter Ian Rankin, Val McDermid, Denise Mina, Chris Brookmyre, Graeme Macrae Burnet sowie Stuart MacBride.

Letzterer dürfte durch seine mittlerweile auf zehn Bände angewachsene Logan McRae-Reihe auch den deutschen Lesern ein Begriff sein. Sein neuester Thriller mit dem Titel „Der Totenmacher“ gehört allerdings nicht zu dieser Serie, sondern ist ein „Stand alone“. Könnte aber auch, wahrscheinlich abhängig von den Verkaufszahlen, der Auftakt einer neuen Reihe sein.

Der Inhalt ist schnell erzählt: In dem fiktiven schottischen Städtchen Oldcastle ermittelt rund um DC Callum McGregor eine Gruppe von Polizisten, die man wegen diverser Fehlverhalten aussortiert und aufs Abstellgleis verbannt hat. Als urplötzlich diverse mumifizierte Leichen auftauchen, die entgegen der ursprünglichen Vermutung nicht aus einem Museum stammen, sondern erst kürzlich getötet wurden, haben die Außenseiter um McGregor plötzlich einen Fall, in dem sie einen Serienkiller dingfest machen müssen, der seine Opfer mittels hochkonzentriertem Salzwasser austrocknet und sie anschließend räuchert.

Wesentlich ausführlicher geht MacBride bei der Charakterisierung seines Personals sowie der Schilderung der gruppendynamischen Prozesse innerhalb dieser Truppe vor. Hierdurch wird zum einen die Jagd nach dem Täter leider zur gefühlten Nebensache, zum andern fehlen mir auch etwas die gesellschaftspolitischen Bezüge. Dafür gibt es in den Dialogen jede Menge schwarzen Humors, der allerdings das eine oder andere Mal eher deplatziert wirkt.

Und doch bietet „Der Totenmacher“ durch verschiedenste unerwartete Wendungen gute Unterhaltung, wenngleich man die über 800 Seiten umfassende Story durchaus etwas kürzer hätte fassen und die kriminalistischen Aspekte stärker in den Vordergrund stellen können.

Bewertung vom 13.03.2018
Das Buch der Schurken
Pesl, Martin Th.

Das Buch der Schurken


ausgezeichnet

Martin Thomas Pesl, Theaterkritiker, Autor, Lektor, Übersetzer, Sprecher und Blogger aus Wien, ist bei seinem Streifzug durch die Weltliteratur auf eine interessante Spezies gestoßen. Wir sprechen von den Schurken, die er sich mit viel Sachverstand und dem nötigen Respekt angeschaut und klassifiziert hat. Und daraus entstand „Das Buch der Schurken“, eine subjektive Auflistung von hundert Bösewichten, beheimatet in den unterschiedlichsten Gattungen. Und die Vorgabe, dass pro Autor nur eine Figur Beachtung findet, scheint mir sinnvoll, denn dadurch wird die größtmögliche Vielfalt gewährleitet.

Der Aussage Pesls, dass erst die Schurken den meisten literarischen Werken den nötigen Pfiff geben, weil sie unsere Emotionen – positiv oder negativ – ansprechen, kann ich uneingeschränkt zustimmen, und so habe ich mit Vergnügen die hundert doppelseitigen Steckbriefe studiert. Anspruch auf Vollständigkeit erhebt diese Zusammenstellung nicht, und auch die Auswahl ist einigermaßen launisch. Die zugrunde liegenden Werke reichen von Sagen über Klassiker, Romane, bis hin zu Horror, Krimis sowie Kinder-bzw. Jugendbüchern.

Um einen besseren Überblick zu bekommen, hat der Autor Kategorien angelegt, in denen er die Schurken einordnet: Gierige, Rachsüchtige, Despoten, Berserker, Egoschweine, Erziehungsberechtigte, Fatale Frauen, Psychopathen, Ungreifbare, Verrückte Wissenschaftler, Über- und Unterirdisches und schließlich Könige des Verbrechens. Jeder Schurke darf sich auf einer Doppelseite ausbreiten. Ein kurzer Überblick zu Person und Werk wird ergänzt durch einen Steckbrief sowie eine Illustration, nicht zu vergessen das Rating Pesls, in dem er Punkte für schurkentypische Eigenschaften vergibt.

„Das Buch der Schurken“ ist eine geistreiche, unterhaltsame Lektüre für zwischendurch, die nicht nur Vergnügen bereitet sondern auch noch jede Menge Lesetipps bereithält. Passend dazu finden diejenigen, die ihr Wissen über Schurken erweitern und vertiefen wollen, am Ende des Buches eine Bibliographie der behandelten Werke.

Bewertung vom 08.03.2018
Das Böse, es bleibt
D'Andrea, Luca

Das Böse, es bleibt


sehr gut

„Das Böse, es bleibt“ ist der zweite Thriller des Südtirolers Luca D’Andrea, und wie bereits bei seinem Erstling „Der Tod so kalt“ verortet er die Handlung in der Bergwelt Südtirols. Im Zentrum der Handlung steht Marlene, naive Gattin eines Kriminellen, die hinter die Geschäfte ihres Ehemannes gekommen ist und nun vor diesem auf der Flucht ist. Als Startkapital in ihr neues Leben soll ihr ein Beutel dienen, prall gefüllt mit Saphiren, den sie aus dem Safe ihres Mannes gestohlen hat. Unglücklicherweise kommt sie auf ihrer Flucht mit dem Auto von der Straße ab, wird aber von Simon entdeckt und gerettet. Der ist ein seltsamer Kauz, ein kräuterkundiger Einsiedler, der den Hof seiner verstorbenen Eltern bewirtschaftet. Zwischen ihm und Marlene entwickelt sich ein fast freundschaftliches Verhältnis, bis …ja, bis Marlene in dem tiefen Keller die Schweine entdeckt und Simon ihr seine ganz besondere Beziehung zu diesen alles andere als niedlichen Hausgenossen erläutert. Und völlig aus dem Ruder läuft es dann, als die „süße, kleine Lissy“ auf der Bildfläche erscheint…

Luca D’Andrea setzt auf wechselnde Erzählperspektiven und entwickelt die Handlung eher piano, was absolut nicht negativ gemeint ist, denn so gerät der Leser allmählich in den Bann dieser ungewöhnlichen Story. Eingeschoben werden dann immer wieder detaillierte Landschaftsbeschreibungen, die für mich den besonderen Reiz dieses Thrillers ausmachen. Zum einen ist da diese Weite und Erhabenheit der Berge, zum anderen aber auch die klaustrophobische Enge für denjenigen, in diesem Fall Marlene, der mit dem Gelände nicht vertraut und somit quasi gefangen ist. Es ist diese besondere Atmosphäre, die dunkle, sich bedrohlich steigernde Ahnung, die den Leser an den Seiten kleben lässt, aber auch die Art und Weise, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden Hauptfiguren Simon und Marlene langsam aber sicher in eine Richtung verändert, die nichts Gutes ahnen lässt.

Wer eine spannende Lektüre für zwischendurch sucht, ist auf jeden Fall mit Luca D’Andreas „Das Böse, es bleibt“ bestens bedient.

Bewertung vom 06.03.2018
Nordwasser
McGuire, Ian

Nordwasser


ausgezeichnet

Hull (meint: Kingston upon Hull), die Hafenstadt im Nordosten Englands, zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von hier laufen die Walfangschiffe aus. Noch ist mit dem Tran ein Geschäft zu machen, aber es scheint, als ob in Kürze Petroleum und Paraffin an seine Stelle treten. Die glorreiche Zeit der Walfänger neigt sich ihrem Ende entgegen. Aber noch ist es nicht so weit.

Ian McGuire, geboren und aufgewachsen in Hull, erzählt in seinem zweiten Roman „Nordwasser“ (zurecht nominiert für den Man Booker Prize 2016) von den Ereignissen an Bord eines Walfangschiffes auf seiner letzten Fahrt.

Die Mannschaft der „Volunteer“ setzt die Segel und macht sich auf nach Norden Richtung Polarmeer, auf eine ertragreiche Fangsaison hoffend. Mit an Bord ist Patrick Sumner, ein Militärarzt, ehemals in Indien eingesetzt, dann aber unehrenhaft entlassen, der an Land keine Anstellung mehr findet. Zur Mannschaft gehört außerdem Henry Drax, ein Harpunierer und äußerst unangenehmer Zeitgenosse, Ohne einen Funken Empathie, skrupellos, gewalttätig – ein Dreckskerl, wie er im Buch steht. Schläger, Vergewaltiger und Mörder, was uns der Autor gleich zu Beginn vor Augen führt. Und es sind diese beiden Männer, zwischen denen sich im Lauf der Handlung eine unheilvolle Beziehung entwickelt, der keiner von beiden unversehrt entkommt.

McGuire schildert den Alltag auf dem Schiff. Das blutige Handwerk des Walfangs, die elende Plackerei, der Dreck und die Brutalität hat so überhaupt nichts mit der Shanty-Gemütlichkeit der gängigen Seemannslieder zu tun. Es ist das Recht des Stärkeren, das an Bord der „Volunteer“ das Leben, aber auch das Sterben bestimmt. Man kennt diese Beschreibungen teilweise von Philbrick und Melville, wobei deren Schilderungen lange nicht so drastisch sind und von McGuire locker überboten werden. In „Nordwasser“ geht es aber nicht nur um Gut und Böse, der Roman thematisiert auch den rohen Umgang des Menschen mit dieser arktischen Unwirtlichkeit. Da werden Wale abgeschlachtet, Bären gejagt und ausgeweidet und Inuit die Kehle durchgeschnitten – just for fun. Das Walfangschiff als „closed room“, in dem das Recht des Stärkeren gilt und das einzig geltende Gesetz die Gesetzlosigkeit ist. Aber der Autor zeigt auch die Geldgier und Skrupellosigkeit der Schiffseigner, die ohne zu zögern eine gesamte Mannschaft opfern, um letztmalig Profit aus einem dem Untergang geweihten Gewerbe zu schlagen.

Dunkel, brutal und blutig - „Nordwasser“ ist ein beeindruckender Roman, den ich allerdings zartbesaiteten Lesern nicht empfehlen kann. Allen anderen jedoch möchte ich dieses Buch nachdrücklich ans Herz legen. Lesen Sie es, Sie werden es nicht bereuen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.02.2018
Das geheime Netzwerk der Natur
Wohlleben, Peter

Das geheime Netzwerk der Natur


gut

Tiere haben ein Seelenleben, Bäume können kommunizieren, und in der Natur hängt alles mit allem zusammen und bedingt sich gegenseitig. So oder so ähnlich kann man in Kurzfassung die überaus erfolgreichen Veröffentlichungen Peter Wohllebens zusammenfassen, Förster in der Eifel und Autor populärwissenschaftlicher Wald-und-Wiesen-Sachbücher (aber das ist nun wirklich nicht despektierlich gemeint).
In seinem aktuellen Bestseller „Das geheime Netzwerk der Natur“ schaut sich Wohlleben verschiedene Phänomene in der Natur an, stellt Verbindungen her und sensibilisiert seine Leser für Vernetzungen, die auf den ersten Blick für den Laien so nicht erkennbar sind. Seine Schilderungen und Auslassungen wirken fundiert und von Erfahrungen geprägt, wobei mir aber der stellenweise naturromantische, an die Emotionen appellierende, fast schön frömmelnde Tonfall gegen den Strich gegangen ist.

Und ganz so geheim ist das Netzwerk der Natur dann doch nicht. Zumindest nicht für Leser, die auf dem Land leben oder aufgewachsen sind, im besten Fall auch noch Eltern oder Großeltern haben/hatten, die sich mit Flora und Fauna auskennen/-kannten und ihr Wissen an Kinder und Enkelkinder weitergeben/-gaben. Der große Zuspruch, und dafür sprechen schlicht und einfach die Verkaufszahlen bzw. Platzierungen seiner Bücher in den Bestsellerlisten, erstaunt mich nicht. Rückbesinnung auf die Natur, speziell bei Menschen, die in dicht besiedelten Ballungsräumen leben, ist ja seit einigen Jahren ein Thema. Und hier trifft nicht nur Wohlleben mit seinen Büchern einen Nerv. Man schaue sich nur die thematisch ähnlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre an. Hier ist alles vertreten – von Ameise bis Zebra.

Was er uns aber als der Weisheit letzten Schluss nahelegt, nämlich so wenig wie möglich in den natürlichen Kreislauf einzugreifen, ist keine bahnbrechende Erkenntnis. Unkontrolliertes Schützen bestimmter Tierpopulationen führte schon immer zu einem Ungleichgewicht im Tierreich. Dichte Besiedlung zerstört Lebensräume. Wenn Futterquellen versiegen, verändert sich der Bestand. Nichts Neues also.

„Das geheime Netzwerk der Natur“ ist eine gut lesbare, nette Lektüre für zwischendurch. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für all diejenigen, die glauben, dass Kühe lila sind, bietet es mit Sicherheit jede Menge Aha-Erlebnisse. Bei mir hat sich der Erkenntnisgewinn allerdings sehr im Rahmen gehalten.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.02.2018
Der talentierte Mörder / Lincoln Rhyme Bd.12
Deaver, Jeffery

Der talentierte Mörder / Lincoln Rhyme Bd.12


gut

Die Thriller aus der Lincoln-Rhyme-Reihe des amerikanischen Autors Jeffery Deaver waren seither geprägt von der Dynamik, die zwischen dem genialen Ermittler Rhyme und der toughen Detective Amelia Sachs, seinem weiblichen Sidekick, herrschte. Dazu dann die akribische Auflistung und Analyse der Ermittlungsergebnisse, die es dem Leser jederzeit ermöglichten, den aktuellen Stand des jeweiligen Falls zu verfolgen und so dem Täter, gemeinsam mit den Protagonisten, Schritt für Schritt auf die Spur zu kommen. Und zusätzlich waren die Interpretationen der „Fundstücke“ dann meist auch noch kurzweilig und bescherten dem Leser so manches Aha-Erlebnis.

Das habe ich in „Der talentierte Mörder“, dem neuen und mittlerweile zwölften Band der Reihe vermisst, ebenso das launische, aber dennoch unterhaltsame Geplänkel von Rhyme und Sachs. Die Story an sich entwickelt Deaver mit der gewohnten Routine. Ausgehend von einem tödlichen Unfall – oder doch vielleicht Mord? – durch die Fehlfunktion einer Rolltreppe in einem Einkaufszentrum, kreiert er ein Szenario, in dem sich alltägliche Gegenstände in tödliche Waffen verwandeln. Dieser Idee kann man eine gewisse Originalität nicht absprechen, denn gerade unter dem Aspekt der Digitalisierung sowie der zunehmenden Smart Home-Lösungen scheinen mir diese Auswirkungen durchaus plausibel. Vor allem dann, wenn ein intelligenter Hacker die Finger im Spiel hat…

Allerdings braucht der Autor diesmal sehr, sehr viel Zeit, bis die Handlung in die Gänge kommt und die Story die Art der Spannung entwickelt, die ich von einem Thriller erwarte. Das waren einfach zu viele Nebenkriegsschauplätze, die einfach nichts zum Fortgang der Handlung beigetragen haben. Zu viele endlose Diskussionen um Nichtigkeiten. Zu ausufernde Beschreibungen der Beweismittel, die immer dann, wenn das Tempo gerade anzog, gebremst haben. Da halfen leider auch die von Deaver gewohnten „Twists and Turns“ nicht.

Von daher ist „Der talentierte Mörder“ meiner Meinung nach leider einer der schwächsten Bände dieser Reihe. Schade!

Bewertung vom 19.02.2018
Gravesend
Boyle, William

Gravesend


ausgezeichnet

Gravesend, am südlich-westlichen Zipfel von Brooklyn, einer der ältesten Stadtteile New Yorks, . Bevölkerung überwiegend weiß, eher Unter- als Mittelschicht, konservativ, bei Wahlen den Republikanern zugeneigt. „Gravesend“ ist aber auch der Titel eines Romans von William Boyle, einem amerikanischen Autor, der in diesem Viertel aufgewachsen ist.

Gravesend ist ein Drecksloch, Endstation für die Alten und keine Zukunft für die Jungen. Die einen gehen und suchen ihr Glück anderswo. Wie Alessandra Biagini, die Möchtegern-Schauspielerin, für die es nie zu einer richtigen Rolle gereicht hat. Ein paar kurze Auftritte in Werbeclips, aber das war’s dann auch schon. Der Traum von Hollywood – ausgeträumt. Als ihre Mutter stirbt und ihr Vater Hilfe braucht, kommt sie zurück und macht genau dort weiter, wo sie vor ihrem Weggehen aufgehört hat.

Andere bleiben, suchen sich ein Ventil für ihren Frust und lassen ihrem Hass freien Lauf. Und wieder andere leben für die Rache.
Conway Calabrese gehört der letztgenannten Gruppe an. Ein typischer Loser, der Regale im Supermarkt auffüllt und auch sonst nichts auf die Reihe bekommt. Seit sein Bruder Duncan von Ray Boy Calabrese und dessen Kumpels in den Tod gehetzt wurde, bereitet er sich auf den Tag vor, an dem Ray Boy aus dem Knast entlassen wird. Conway will den Tod seines Bruders rächen. Blut verlangt nach Blut.

Ray Boy Calabrese hingegen ist nach seinem sechzehnjährigen Gefängnisaufenthalt ein gebrochener Mann. Er leidet unter Schuldgefühlen, hat keinen Lebenswillen mehr und will nur noch sterben. Das könnte nun ja sowohl ihm als auch Conway helfen. Doch leider wird daraus nichts, denn Conway ist nicht Manns genug, um abzudrücken.

Der Dritte im Bunde ist Ray Boys Neffe Eugene, ein halbwüchsiger Kleinkrimineller, der voller Bewunderung zu seinem Onkel aufschaut und ihm nacheifern möchte. Er sieht in ihm noch immer den ultracoolen Gangster, der vor nichts und niemand Angst hat. Mit diesem Häufchen Elend, das der Knast aus Ray Boy gemacht hat, kann er so überhaupt nichts anfangen. Eugene möchte ihn wieder in die Spur bringen, dem König der Gangster sein Königreich zurückgeben. Doch das kann und wird in Gravesend kein gutes Ende finden.

Trostlos, kein Glitzer, kein Glamour, nur Elend wohin man schaut. Die Hoffnungslosigkeit lugt aus jeder Zeile und William Boyle beschreibt das Elend ohne Übertreibung und Effekthascherei. Eine Geschichte vom Bodensatz der Gesellschaft. Wissend, dass es kein Entkommen gibt. Dass die Katastrophe bereits mit dem Tag der Geburt in Gravesend unausweichlich festgelegt wurde. Großes Kino!

Bewertung vom 18.02.2018
Hologrammatica
Hillenbrand, Tom

Hologrammatica


ausgezeichnet

Tom Hillenbrand hat Visionen. Dies hat der ehemalige Spiegel-Redakteur bereits hinlänglich in seinem 2014 erschienenen Zukunftsthriller „Drohnenland“ bewiesen, in dem er sich mit den Möglichkeiten auseinandersetzt, die die aktuell verfügbaren Technologien bieten und in dem er Ereignisse vorweggenommen hat, die mittlerweile alltäglich in den Nachrichten zu sehen sind.

Nun also „Hologrammatica“, sein neuester Roman, in dem er noch einen Schritt weitergeht und ein Zukunftsszenario entwickelt, das auf den Leser nicht nur befremdlich sondern auch furchteinflößend wirkt. Das Schlagwort ist „künstliche Intelligenz“, ein Thema, das mit Sicherheit in den kommenden Jahrzehnten immer weiter in den Fokus rücken wird.

2088, wir befinden uns in der schönen neuen Welt. Diejenigen, die es sich leisten können, sind in der Lage, mit Hilfe von Hologrammen nicht nur die besten Umgebungsbedingungen zu schaffen sondern auch die entsprechend attraktiven Körper einzunehmen. Ja, in manchen Fällen muss der Ursprung dokumentiert werden, in anderen wiederum nicht. Und hundertprozentig ausgereift ist diese komplizierte Technik auch noch nicht, sind es doch Computerexperten, Menschen, die die entsprechenden Programme und Verschlüsselungen entwickeln, aber auch deren Fehlfunktionen entlarven. Eine dieser Programmiererinnen ist Juliette Perotte, die von heute auf morgen spurlos verschwindet. Galahad Singh, dessen Spezialgebiet das Aufspüren verschwundener Personen ist, wird auf Perottes Spur gesetzt. Er ist clever, kann aus seinen Entdeckungen Rückschlüsse ziehen und Zusammenhänge erkennen. Und er lernt dabei eine Menge über den missbräuchlichen Einsatz dieser Technologien, die doch angeblich das Leben seiner Mitmenschen lebenswerter machen sollen.

„Hologrammatica“ ist ein immens spannender Thriller, der bei dem Leser ein gewisses Maß an Informiertheit und politischem Interesse voraussetzt. Hilfreich ist es das Glossar am Ende des Buches, in dem zumindest die technologischen Begriffe erläutert werden. Es sind viele Informationen, oft auch auf den ersten Blick zusammenhanglos, die zu Beginn auf den Leser einströmen, aber mit dem Fortschreiten der Handlung ihren Platz in dem großen Ganzen finden.

Ein empfehlenswertes Buch für all diejenigen, die nicht blindgläubig jeder technologischen Neuerung hinterherlaufen, sondern kritisch deren Auswirkungen auf unser zukünftiges Leben hinterfragen.

Bewertung vom 12.02.2018
Die Geschichte des verlorenen Kindes / Neapolitanische Saga Bd.4
Ferrante, Elena

Die Geschichte des verlorenen Kindes / Neapolitanische Saga Bd.4


gut

Der Kreis schließt sich in „Die Geschichte des verlorenen Kindes“, dem vierten und letzten Band der neapolitanischen Saga von Elena Ferrante. Wir sind am Ende angelangt und werden genau mit der identischen Situation konfrontiert, mit der Elenas Lebenserinnerungen gestartet sind: ihre Freundin Lila ist verschwunden. Hat sich wohl, ohne irgendwem eine Nachricht zu hinterlassen, davon gemacht zu haben. Spurlos, als hätte sie nie existiert.

Wir sind in den Siebzigern, zurück in Neapel. Elena verlässt ihren Mann, um mit ihrer Jugendliebe zu leben. Ein illusorisches Vorhaben, wie sich recht schnell herausstellt. Wohin gehen? Zurück auf vertrautes Terrain, in den Rione. Und in das gleiche Haus, in dem auch ihre Freundin Lila lebt. Beide Frauen haben die passive Frauenrolle längst hinter sich gelassen und sind erfolgreich in dem, was sie tun. Elena als Schriftstellerin, Lila als Mitinhaberin eines IT-Unternehmens. Die Beziehung der beiden Frauen ist wechselhaft. An einem Tag beste Freundinnen, am nächsten Tag erbitterte Feindinnen. Fast kann man den Eindruck gewinnen, dass sie nicht miteinander, aber auch nicht ohne die andere sein können. Neben den privaten Katastrophen gibt es aber auch Ereignisse anderer Art, die das Leben im Rione beeinflussen und dem Leser die Brüchigkeit der Existenz vor Augen führt. Ganz gleich, ob Erdbeben oder die Einflussnahme der Mafiosi, alles hängt mit allem überall zusammen.

Elena Ferrante nimmt den Leser mit auf eine Reise durch ein halbes Jahrhundert italienischer Wirklichkeit. Ausgehend von einer Frauenfreundschaft zeigt sie zum einen die Strukturen dieser patriarchalisch geprägten Gesellschaft auf, zum anderen aber auch exemplarisch anhand der Geschichte ihrer beiden Protagonistinnen deren Emanzipationsbestrebungen. Das Abwerfen der durch Herkunft und Geschlecht auferlegten Zwänge hin zu einem selbstbestimmten Leben.

„Die Geschichte des verlorenen Kindes“ lässt mich mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Geschätzt habe ich die gesellschaftspolitischen Bezüge, genervt war ich von dem ewigen Hin und Her zwischen Elena und Lila. Dazu dann noch die thematischen Wiederholungen, die unnötige Längen kreierten sowie die insgesamt recht simple Sprache. Das geht deutlich besser – deshalb leider nur 3 Sterne.

Bewertung vom 11.02.2018
Speicher 13
McGregor, Jon

Speicher 13


ausgezeichnet

Ein Dorf in Mittelengland. Mitten in Hügeln und Mooren. 13 Reservoire in der Umgebung dienen als Wasserspeicher. In umgebauten Scheunen werden Ferienwohnungen angeboten. Es ist die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Eine Familie verbringt dort ihren Urlaub. Mutter, Vater, Kind. Von einer Wanderung kommen nur die Eltern zurück, das Mädchen ist verschwunden. Rebecca Shaw, 13 Jahre alt. Eine großangelegte Suchaktion wird eingeleitet. Das gesamte Dorf ist auf den Beinen. Ein Hubschrauber fliegt die Gegend ab. Erfolglos, keine Spur von dem vermissten Mädchen.

Soweit die Ausgangslage in Jon McGregors „Speicher 13“. Nun könnte man meinen, dass der englische Autor in seinem 2017 für den Booker Prize nominierten Roman daraus einen Thriller komponiert hat. Weit gefehlt, doch spannend ist die Geschichte, die er zu erzählen hat, allemal, denn er verlagert den Fokus. Weg von dem verschwundenen Kind, hin zu den Bewohnern des Dorfes. Wie geht die Dorfgemeinschaft mit diesem Ereignis um, können sie ihr Leben einfach so weiterleben, als ob nichts geschehen wäre? 13 Jahre in 13 Kapiteln, immer beginnend mit dem Silvester-Feuerwerk, und danach dem Jahreslauf folgend. Kurzer Exkurs: In der Numerologie steht die Zahl 13 für den Wandel, für Veränderung, für Abschied und Neuanfang, für Loslassen und Festhalten.

Es ist ein stetiger Kreislauf: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Flora und Fauna. Knospen, Blüten, Verwelken, Vergehen. Vögel bauen Nester, ziehen ihre Jungen groß und fliegen wieder davon. Die Dörfler leben ihren Alltag, Banalitäten. Paare finden und verlieren sich. Kinder werden geboren. Existenzen gehen zu Bruch. Alles ist im stetigen Fluss. Als im Moor ein Kleidungsstück gefunden wird, kommen Erinnerungen an das verschwundene Mädchen wieder an die Oberfläche, aber sie tauchen schon nach kurzer Zeit wieder ab. Andeutungen, die der Autor macht, aber nicht weiterführt. Und so vergeht Jahr um Jahr.

McGregor nutzt eine ungewöhnliche Erzählweise. In kurzen, scheinbar willkürlich aneinandergereihten Sätzen beschreibt er das dörfliche Leben in Bruchstücken. Wörtliche Rede wird nicht kenntlich gemacht. Für den Leser ist dies anfangs verwirrend, ist das Personentableau zu Beginn doch recht unübersichtlich. Mit jeder Seite kommen weitere Informationen hinzu, und so gewinnen die Personen allmählich an Kontur, sodass man mit Interesse ihr Werden verfolgt.

Ein ungewöhnlicher, herausragender Roman, der aber zu Beginn Durchhaltevermögen erfordert. Lassen Sie sich darauf ein – Sie werden es nicht bereuen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.