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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 879 Bewertungen
Bewertung vom 03.11.2015
Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969
Witzel, Frank

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969


ausgezeichnet

Ein Klassiker in spe

Man dürfe seinen Roman auch einfach nur «Die Erfindung» nennen, hat der überraschte Frank Witzel anlässlich der Prämierung seines Werkes mit dem diesjährigen Preis des Deutschen Buchhandels seinen künftigen Lesern zugestanden. Mit über 800 Seiten ist «Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969» allein schon von der Textmenge her ein dicker Brocken, die Lektüre dürfte sich für Viele auch von Form und Inhalt her als problematisch erweisen. Wir haben es hier mit einer anspruchsvollen, hoch komprimierten Prosa zu tun, die Konzentration erfordert vom Leser, will er all den Gedankengängen des Autors folgen, die vielen Hinweise und Anspielungen richtig zuordnen – und damit das Gelesene wirklich verstehen als Voraussetzung für bereichernden Lesegenuss, um den es letztendlich ja immer geht.

Nach der literarischen Aufarbeitung der DDR scheint jetzt die «Alte Bundesrepublik» mehr in den Fokus zu rücken, zeitlich die Periode des Umbruchs nach 1968 bis zur deutschen Wiedervereinigung. Dieser Roman, dessen Titel falsche Vorstellungen weckt, was die RAF anbelangt, spiegelt die Geschehnisse, vor allem aber die Befindlichkeiten der damaligen Zeit an der Gedankenwelt eines knapp 14jährigen männlichen Teenagers, dessen geistiger Horizont lange Maßstab der Erzählung bleibt, selbst wenn aus anderer Perspektive erzählt wird. Er leidet daran, diese Welt nicht verstehen zu können, sie auch nicht akzeptieren zu können wie sie ist. Wie besessen schafft er sich eine eigene Wirklichkeit, indem er immer skurrilere Geschichten erfindet und sich in seinem Wahn mit den Figuren der RAF identifiziert, deren Taten zu den seinen umdeutet. Wir erleben den manisch-depressiven Helden in verschiedenen Lebensphasen, erfahren in ausufernden Passagen von seiner unheilvollen Vereinnahmung durch die katholische Kirche, erleben in noch umfangreicheren Abschnitten seine bis ins kleinste Detail reichende, absurde Bedeutungen hineininterpretierende Passion für die Pop-Musik der damaligen Zeit, die Beatles und Rolling Stones stehen im Mittelpunkt dabei.

Eine stringente Handlung erwartet den Leser nicht in diesem Roman, vielmehr sind ungeordnet scheinende Textfragmente lose aneinandergereiht, Phantasien, Träume, Reflexionen, essayartige Einschübe, theologische und philosophische Traktate, psychiatrische Exkurse, verhörartige Befragungen, diverse Auflistungen, literarische Einsprengsel und Vieles mehr. All das ist in wilden Zeitsprüngen und thematischen Wechseln zu einem collageartigen Text zusammengefügt, der dem Leser volle Aufmerksamkeit abfordert. Ein wenig erleichternd zieht sich allerdings auch ein nicht zu übersehender schwarzer Humor durch diese artifizielle Erzählung. Oft ist schon die kindlich-naive Sicht mit ihren häufig verblüffenden, absurd irrationalen Schlüssen Anlass zum Schmunzeln. Skurriler Höhepunkt aber war für mich eine Passage, in der die engen Bezüge diverser Songtexte zur Heiligen Schrift bis ins Detail thematisiert werden, ergänzt durch nicht minder absurde, kabbalistische Zahlenspiele mit Titelfolgen, Erscheinungsjahren, Auftrittsterminen und anderen Daten aus der Pop-Musik.

Mehr als zwölf Jahre hat Frank Witzel an seinem Opus magnum geschrieben. Unterbrochen von Schreibblockaden und bedrängt wohl auch von Selbstzweifeln hat er, so stellt man sich das als Leser vor, mutmaßlich seinen riesigen Zettelkasten komplett abgearbeitet für diesen ambitionierten Roman. Seine bindungslosen Figuren, über die man so gut wie nichts erfährt, erwecken keinerlei Empathie, die profane Lebenswirklichkeit zudem ist komplett ausgeblendet zugunsten der wirren Innenwelt des namenlosen Teenagers. Unzweifelhaft ist mit diesem ambitionierten Roman ein literarisches Kunstwerk entstanden, formal wagemutig, großartig und verstörend zugleich, ein zeitloses Epos jedenfalls, dem ein äußerst individueller Genius innewohnt, - mithin also alles, was einen künftigen Klassiker ausmachen könnte.

5 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.10.2015
Das Treibhaus
Koeppen, Wolfgang

Das Treibhaus


sehr gut

Suizid im Bonner Ghetto

Als Mittelteil der «Trilogie des Scheiterns» gehört der 1953 veröffentlichte Roman «Das Treibhaus» von Wolfgang Koeppen zu den bedeutendsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur, er markiert gleichzeitig auch den Höhepunkt im Werk dieses Schriftstellers. Es folgte nichts Vergleichbares mehr, und so wurde es auch nichts aus den hochgespannten Erwartungen von Siegfried Unseld, der sich in Koeppen den Autor eines deutschen «Ulysses» erhofft hatte. Womit ein Stichwort schon gesagt ist, denn mir waren vor vielen Jahren beim ersten Lesen dieses Buches ebenfalls stilistische Ähnlichkeiten mit dem berühmten Roman von James Joyce aufgefallen. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele deutsche Autoren Werke geschrieben, die unter dem Begriff Trümmerliteratur subsumiert wurden, Koeppen gehörte wie auch Arno Schmidt zu den wenigen Schriftstellern, die sich im Duktus damals schon von deren sprachlicher Verknappung und thematischen Rückwärtsgewandtheit gelöst hatten.

Protagonist des Romans ist der ehemalige Journalist Felix Keetenheuve, der während des Dritten Reiches im Exil gearbeitet hatte, nach Kriegsende zurückkehrt war und später Abgeordneter des Deutschen Bundestages wurde. Die Handlung ist zeitlich auf wenige Tage begrenzt, in denen der Mittvierziger im D-Zug in die Hauptstadt fährt, um als Oppositionspolitiker an der wichtigen Abstimmung über die Wiederbewaffnung Deutschlands teilzunehmen. Die Beerdigung seiner jungen Frau Elke liegt da gerade hinter ihm, er hatte sie, deren Vater Gauleiter war und sich bei Kriegsende mit seiner Frau umgebracht hat, als herumstreunendes Mädchen in einem zerbombten Haus aufgegriffen, sie schließlich auch geheiratet. Durch seine politischen Verpflichtungen immer wieder vernachlässigt, war sie später alkoholsüchtig geworden, er fühlt sich nun schuldig ihr gegenüber. Für die Debatte wird ihm brisantes Material zugespielt, das er als pazifistisches Aushängeschild seiner Partei in der Rede überraschend einsetzen soll, um einen Eklat auszulösen. Gleichzeitig aber wird ihm seitens der Regierung ein geruhsamer Botschafterposten in Guatemala angeboten, offensichtlich nur um damit einen unbequemen Gegner loszuwerden. Keetenheuve ist ein parlamentarischer Sonderling, ein Schöngeist mit Sinn für Gedichte von Baudelaire, der sich keinem Fraktionszwang beugt, ein Freigeist, der die alten Strukturen restaurativ wieder hervorbrechen sieht im neuen Staate, und der resigniert erkennen muss, dass er daran rein gar nichts ändern kann. Er hält seine Rede, deren Zündstoff nicht mehr wirkt, weil die Regierung längst informiert ist und schon vorab dementiert hat mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln. Nach einem abendlichen Streifzug durch seine Stammlokale steht er auf der Rheinbrücke. «Er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei.» heißt es dann im letzten Satz.

Natürlich ist dieser Roman auch ein Schlüsselroman, allen Dementis des Autors zum Trotz, dessen Camouflage natürlich nicht verdecken kann, dass Bonn gemeint ist als Regierungssitz (welche Stadt denn sonst?), Adenauer als Kanzler (es gab damals keinen anderen!), und auch Theodor Heuss und Kurt Schumacher sind selbst für politische Laien unschwer erkennbar. Das Bild, das da gezeichnet wird vom parlamentarischen Alltag und von den Ränkespielen im Hintergrund ist überaus desillusionierend, ein Ghetto von Berufspolitikern, Beamten, Journalisten, das wie ein Treibhaus hermetisch abgeschlossen ist von der Außenwelt, von der Lebenswirklichkeit. Und mittendrin Keetenheuve, der einsam und frustriert keinen Ausweg mehr weiß.

Koeppens assoziationsreiche Sprache ist nicht gerade flüssig zu lesen. Der systemkritische Roman aus den parlamentarischen Anfängen der Bundesrepublik ist gleichwohl ein wertvolles Zeitzeugnis aus diesem sehr speziellen Milieu, ein äußerst rares obendrein. Die Lektüre lohnt sich aber nicht zuletzt auch gerade wegen des unkonventionellen sprachlichen Stils.

Bewertung vom 21.10.2015
Unterm Rad
Hesse, Hermann

Unterm Rad


gut

Ein didaktischer Albtraum

Bei dem 1906 erschienen zweiten Roman «Unterm Rad» von Hermann Hesse drängt sich der Vergleich mit ähnlichen Werken aus meiner jüngeren Lesezeit von Musil und Joyce geradezu auf. So unterschiedlich sie literarisch auch sind, eint sie inhaltlich doch die vernichtende Kritik an der Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts praktizierten Pädagogik, für damalige Schüler, Zöglinge und Seminaristen ein aus heutiger Sicht didaktischer Albtraum. Während Joyce sich glücklich befreien kann aus seiner traumatischen Schulzeit und Musils Törless verwirrt die Ausbildung abbricht, nimmt Hesses Protagonist ein schlimmes Ende. Und da ich gerade am Vergleichen bin, sei hier vorweggeschickt, dass Hesse in diesem frühen Roman noch einem betulich neoromantischen Duktus folgt, während viele der etwa zeitgleich schreibenden Kollegen sich bereits der klassischen Moderne zugewandt hatten.

Die unduldsamsten Hesse-Kritiker sprachen nach der Nobelpreisverleihung von 1946 dann sogar von literarischem Kitsch, was ich in Hinblick auf die von mir gelesenen wichtigen Romane des Autors so nicht bestätigen kann, und das gilt auch für den vorliegenden Roman. Denn nicht nur die begeisterte Rezeption von Hesse in den USA, die sich bekanntlich am «Steppenwolf» entzündet hatte, auch die Übersetzungen in viele Sprachen der Welt zeugen von einem literarischen Status, der durch interessante Thematiken seiner Werke erklärbar ist und eben nicht durch modernistische Erzählstile. Es geht ihm um Inhalt und Botschaft, nicht um Form.

In einer unschwer als Calw, dem Geburtsort Hesses, erkennbaren Kleinstadt im Schwarzwald fällt Hans Griebenrath in der Schule als Primus auf. Neben seiner Intelligenz ist dafür hauptsächlich sein außerordentlicher Fleiß entscheidend, hinter dem wiederum der Druck seines verwitweten Vaters steckt, der selbst nicht erreichte Ziele in seinem Sohn zu realisieren sucht. Neben dem ehrgeizigen Vater setzen besonders der Pfarrer und auch Schulrektor und Lateinlehrer auf Hans, sie drängen ihn, am Landexamen teilzunehmen und zur Vorbereitung darauf die großen Schulferien zu nützen, geben ihm Extrastunden in den wichtigen Fächern. Mit dem Bestehen der schwierigen Prüfung wird sechsunddreißig Knaben des Landes der Besuch des Seminars im Maulbronn ermöglicht. Hans besteht als landesweit Zweiter, hat dafür aber fast seine gesamten Ferien geopfert, in denen er sich eigentlich vom Schulstress erholen wollte. Dieser Druck verstärkt sich noch im Seminar, Hans fällt leistungsmäßig zurück, mit beeinflusst durch seinen künstlerisch veranlagten besten Freund, der sich rebellisch gegen den Stumpfsinn des schulischen Drills nach Art des Nürnberger Trichters auflehnt und von der Anstalt verwiesen wird. Hans scheitert wenig später ebenfalls, er ist total überfordert und erleidet einen nervlichen Zusammenbruch. Wieder zuhause erlebt er eine große Enttäuschung bei seiner ersten Liebelei, die Erfahrungen der ersten Tage in der lustlos begonnen Mechanikerlehre führen letztendlich zu seinem Tod. Ob Unfall oder Suizid, das lässt Hesse zwar offen, die Suizidvariante allerdings ist wahrscheinlicher, weil vorher schon mal sehr konkret thematisiert.

Der Plot ist linear in sieben Kapiteln erzählt, wunderbar anschaulich wird das damalige Leben in dem kleinen Städtchen und in der Klosteranlage geschildert. Die Charakterzeichnung der verschieden Figuren ist ebenso überzeugend wie die liebevollen Beschreibungen der Natur, von Hesses heimelig erscheinender Geburtsstadt sowie vom Kloster Maulbronn, - der Autor war als Schüler natürlich selbst dort, hat sich mutmaßlich so manches dort Erlebte von der Seele geschrieben. Wobei das Seminar eben nicht gut weg kommt pädagogisch, vom Land als Zuchtanstalt für gehobene Staatsdiener betrieben, die der Obrigkeit später dann willfährig dienen sollen. Eine nachdenklich machende Erzählung darüber, wie man durch blindwütige Überforderung ein junges Leben zerstört, die man auch heute noch gerne mal wieder liest.

Bewertung vom 19.10.2015
Der Magier
Maugham, William Somerset

Der Magier


schlecht

Hokuspokus

Mit dem Titel «Der Magier» des 1908 erschienenen Romans von William Somerset Maugham wird auf das Sujet schon ziemlich deutlich hingewiesen, spätestens der Untertitel «Ein parapsychologischer Roman» sollte dem potentiellen Leser aber klarmachen, hier geht es um Irrationales, Übersinnliches, was bekanntlich nicht jedermanns Sache ist. Mit Logik nämlich kommt man da nicht weit. Ich war also vorgewarnt, wollte einen derartigen Roman aber unbedingt auch mal lesen. Der im Zwanzigsten Jahrhundert zu den erfolgreichsten englischsprachigen Autoren zählende Maugham hatte einen ausgeprägten Instinkt für erzählenswerte Geschichten verschiedenster Thematik, und er hatte die Begabung, sie in publikumswirksamer Weise literarisch umzusetzen, wovon der vorliegende Roman zeugt, bei dem für den Magier der geistige Führer des okkulten Satanismus Aleister Crowley Vorbild war.

Die junge Engländerin Margaret, deren außergewöhnliche Schönheit der Autor immer wieder geradezu hymnisch beschreibt, verbringt vor der Hochzeit zwei Jahre in Paris bei ihrer Freundin Susie, um zeichnen zu lernen. Sie ist verlobt mit dem erfolgreichen Chirurgen Arthur Burton, der auch ihr Vormund ist. Als er sie dort besucht, lernen sie Oliver Haddo kennen, ein schriller Außenseiter, dem man magische Fähigkeiten nachsagt. Äußerlich abstoßend, unförmig dick, gekleidet wie ein Paradiesvogel, steinreich, weitgereist, dabei ungehobelt wirkend in seiner prahlerischen Art, die immer auch Bosheit durchschimmern lässt, fasziniert er anderseits seine Gesprächspartner auf magische Weise mit seinen abenteuerlichen Erzählungen, bei denen immer unklar bleibt, ob sie wahr sind oder frech erfunden. Besonders bei okkulten Themen, mit denen sich auch Arthurs älterer Freund Dr. Porhoët beschäftigt, erweisen sich seine Kenntnisse der historischen Quellen als schier unerschöpflich, er zieht seine Zuhörer in Bann mit den vielen Geschichten, die er darüber zu erzählen weiß. Margaret findet ihn widerlich und abstoßend, Artur als Vernunftmensch belächelt ihn nur. Gleichwohl, - nur Maugham gelingen solche aberwitzigen Wenden, verlässt Margaret ihn wenig später ohne ein Wort und heiratet Knall auf Fall, für alle unfassbar, nicht nur für die Leser, den abstoßend hässlichen und fetten Haddo, er hatte wohl durch geheimen Zauberkräfte Macht über sie bekommen. «Ein Teufel muss in ihren Körper gefahren sein» mutmaßt der völlig aus der Bahn geworfene Arthur.

Mit dieser überraschenden Wende zu Beginn des zehnten von insgesamt sechzehn Kapiteln nimmt der parapsychologische Roman ein wenig Schwung auf, die erste Hälfte setzt bei spiritistisch unterbelichteten Lesern wie mir unendliche Geduld voraus mit ihren immer wieder neuen, obskuren Geschichten. Offensichtlich hat der Autor gründlich recherchiert für sein Buch, als Laie wird man aber durch eine wahre Flut von Hokuspokus regelrecht zugeschüttet, ohne irgendeinen Gewinn davon zu haben. Nun gut, das ist sicher Geschmackssache! Im letzten Teil, in dem die arme Margaret dann ihr Leben lassen muss und Arthur alles dransetzt, Haddo das Handwerk zu legen, kommt Spannung auf, man erlebt sogar einen telekinetischen Mord. Wo sonst gibt es so was schon mal zu lesen - außer im Märchen? Der Showdown dann erinnert mit brennendem Herrenhaus im Hintergrund an Hollywood.

Auktorial erzählt in einer arabeskenreichen Sprache, die gleichwohl zielgerichtet ist, also linear und einsträngig, ohne Rückblenden, wird die Handlung weitgehend durch stimmige Dialoge erschlossen. Maughams Figuren sind einprägsam geschildert in einem für ihn typischen, zwischen England und Frankreich oszillierenden Milieu, zu dem der Five-o’clock-tea nun mal zwingend dazugehört. In der zweiten Hälfte des Plots wird man wie gesagt angenehmer unterhalten, bis dahin muss man sich eben irgendwie durchkämpfen, wenn man zu den rational veranlagten Lesern gehört, bei denen jede Fiktion auch ihre Grenzen hat. Aber genau zu denen gehöre ich halt!

Bewertung vom 09.10.2015
Das Herz ist ein einsamer Jäger
McCullers, Carson

Das Herz ist ein einsamer Jäger


sehr gut

Mit literarischem Widerhall

Im überschaubar kleinen Werk der früh verstorbenen US-amerikanischen Schriftstellerin Carson McCullers markiert gleich ihr 1940 erschienener Debütroman «Das Herz ist ein einsamer Jäger» den Durchbruch zum Erfolg. Sie gehört zu den typischen Südstaaten-Autoren, deren Schauplätze von flirrender Hitze und armseligen Hütten geprägt sind, dem jeweiligen Sujet damit ein charakteristisches, stets präsentes Bewusstsein von Ort und Zeit unterlegend. Eine unverkennbar autobiografische Prägung findet sich ebenfalls in diesem frühen Roman, mit Themen wie einseitige Liebe, seelische Einsamkeit, Krankheit, körperliche Behinderung, und auch die Musik wird hier als sinnstiftend gezeigt, wie die Autorin selbst will eine ihrer Figuren Pianistin werden, scheitert aber an den äußeren Umständen. Schwermut allenthalben, kein heiterer Lesestoff also, aber eine zu Herzen gehende Darstellung der Absurdität menschlichen Daseins und der Bemühungen des Einzelnen, der beklemmenden Realität entgegenzuwirken.

Mit einem raffinierten Kunstgriff stellt die Autorin den taubstummen Mr. Singer ins Zentrum ihres Figurenensembles, die solcherart personifizierte Sprachlosigkeit manifestiert überdeutlich das Thema der mangelhaften menschlichen Kommunikation in ihrer Geschichte. Singer wohnt geradezu symbiotisch mit einem taubstummen Griechen zusammen, der aber verhaltensauffällig wird und dessen Vetter ihn dann aus Angst vor finanziellen Schäden, für die er aufkommen müsste, ins Irrenhaus bringt. Um den nun einsamen Singer scharen sich mit der Zeit Menschen, die ihn, der alles von den Lippen ablesen kann, als geduldigen und klugen Zuhörer schätzen, er bekommt den Status eines Weisen, um den sich diverse Mythen ranken.

Zu seinen Freunden zählt der Wirt Brannon, in dessen Café New York er täglich seine Mahlzeiten einnimmt und der nach dem Tode seiner Frau in eine seelische Leere fällt, in der sich sein Leben in schablonenhaften Abläufen nur noch in seinem Lokal abspielt. Ganz im Innersten ist bei ihm anfangs noch eine vage Sehnsucht, die Mick gilt, einem jungen Mädchen in der Pubertät, deren Einbindung in familiäre Pflichten ihrer grenzenlosen Liebe zu Musik gegenübersteht und letztendlich alle diesbezüglichen Träume scheitern lässt. Mit dem Marxisten Blount verkehrt ein versoffener Idealist in dem Café, der ebenso vergeblich gegen die schreiende Ungerechtigkeit im rigiden kapitalistischen System der USA anpredigt wie der farbige Arzt Copeland gegen die skandalöse Rassendiskriminierung. Sie alle finden sich mit ihren Problemen einzig von Singer verstanden, worin angesichts dessen Behinderung als Taubstummer ein Paradoxon zu bestehen scheint, aber nur wer geduldig zuhört, kaum mal antwortet, auch nie widerspricht, ist ein wohlgelittener, angenehmer Gesprächspartner. Als Singer Suizid begeht, nachdem er vom Tode seines griechischen Freundes erfährt, endet der Roman im dritten, epilogartigen Teil unter dem Datum 23. September 1939 wunderbar stimmig mit einem Ausblick auf das weitere Schicksal der vier übriggebliebenen Protagonisten.

Mit seiner existentialistischen Ausrichtung stellt dieser Roman eine mehr als harsche Kritik an der US-amerikanischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts dar, geradezu ein Fanal gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Leider aber nicht auch gegen den Waffenwahn, wie mir auffiel, denn ungerührt wird ein Vorfall geschildert, bei dem ein kleiner Junge mit einer scharfen Waffe spielend ein Nachbarmädchen beinahe totschießt, es fehlten nur Millimeter, - im Roman ein Dummejungenstreich wie bei uns das Einschießen einer Fensterscheibe mit dem Fußball, «business as usual» sozusagen! Abgesehen davon ist dieser elegische Roman ein Fest für einfühlsame Leser, die am Ende tief betroffen vom Einblick in die innere Welt der Figuren das Buch zuklappen. Mit reichlich Stoff zum Nachdenken versehen allerdings, und genau dieser Widerhall macht ja Literatur so einmalig unter den Künsten!

Bewertung vom 09.10.2015
Katz und Maus
Grass, Günter

Katz und Maus


sehr gut

Ritterkreuz und Adamsapfel

Für manche Kritiker markiert die Danzig-Trilogie von Günter Grass als Frühwerk bereits den Höhepunkt seines literarischen Schaffens. Der Mittelteil dieser Hommage an seine Heimatstadt ist die in Jahre 1961 publizierte Novelle «Katz und Maus». Wegen einer als obszön angesehenen Onanierszene sollte das Buch damals auf den Index gesetzt werden, was eine Protestwelle auslöste und dann doch unterblieb. Aber auch gegen die Verächtlichmachung des Ritterkreuzes in dieser pikarischen Novelle wurde aus rechten Kreisen heftig protestiert, Grass behandelt hier den Zweiten Weltkrieg nämlich in einer bis dato ungewohnten Weise, indem er Stilmittel des Schelmenromans einsetzt. Er erzählt seine Geschichte aus einer unbekümmert privaten, zutiefst menschlichen Sicht vor dem Hintergrund schicksalsschwerer historischer Ereignisse, deren Bedeutung er damit relativiert, sie stehen nicht im Mittelpunkt und werden allenfalls beiläufig und zudem noch ironisch distanziert behandelt.

«Was tut mein Vorname zur Sache" fragt Pilenz rhetorisch, vornamenlos bleibender Ich-Erzähler und Schüler eines Danziger Gymnasiums, der hier über seine Zeit mit einem ganz besonderen Mitschüler erzählt. Joachim Mahlke, Halbwaise und Außenseiter, mit einem überdimensionalen Adamsapfel gesegnet, der der titelgebenden Katze zu Maus wurde, lernt spät das Schwimmen und kann sich dann endlich einer Schülerclique anschließen, die immer wieder zu einem versenkten polnischen Minensuchboot hinausschwimmt, das mit den Aufbauten noch aus dem Wasser ragt. Mahlke erweist sich als überragender Taucher, der am längsten unten bleibt, er entdeckt einen nur unter Wasser zugänglichen Funkraum, zu dem er als Einziger tauchen kann. Sein Ruhm wird noch gesteigert, als er in der Schule einem Offizier das Ritterkreuz stiehlt, er ist fortan nur noch «Der große Mahlke» für die Clique. Obwohl Pilenz ihn grenzenlos bewundert, entwickelt sich doch nie eine richtige Freundschaft zwischen den Beiden, ihre Beziehung bleibt distanziert und ambivalent. Mahlke interessiert sich auch nicht für Mädchen, er liebt ausschließlich und inbrünstig die Jungfrau Maria in einer grotesk naiven Frömmigkeit, Gott existiert nicht für ihn. Als er im Krieg selbst das Ritterkreuz erhält und auf Fronturlaub einen Vortrag in seiner alten Schule halten will, wird ihm das wegen der alten Diebstahlsgeschichte verwehrt. Grenzenlos enttäuscht desertiert er daraufhin, versteckt sich im Schiffswrack, will auf einem Schiff nach Schweden flüchten. Pilenz aber gewährt ihm nicht die versprochene Hilfe, er sieht ihn dann auch nie wieder, seine späteren Nachforschungen verlaufen ergebnislos.

Indem Pilenz beim Erzählen mehrfach in die Du-Form wechselt, wird die Ungewissheit über Mahlkes Schicksal verdeutlicht, er könnte ja noch leben. Seinerzeit als zum Teil obszön und blasphemisch angesehen, markiert diese geradezu klassische Novelle mit ihrer bildstarken Erzählweise, die ohne Umwege direkt zum Kern der Sache vorstößt, einen der Höhepunkte in der Sprachkunst von Günter Grass. Äußerst komprimiert werden hier in wenigen treffenden Worten Ereignisse und Szenarien beschrieben, für die andere Autoren viele Sätze, manche sogar mehrere Seiten benötigen würden, ohne jedoch mehr auslösen zu können im Kopfkino des Lesers. Ironisch, fast zynisch schildert Grass den albernen Katholizismus seiner Schlüsselfigur, den «Großen Mahlke» damit auf Zwergmaß zurechtstutzend, und entlarvt außerdem den schlechten Charakter seines zwielichtigen Ich-Erzählers Pilenz.

Obwohl einige Male ein Dreijähriger mit Blechtrommel auftaucht, ist «Katz und Maus» eine eigenständig zu lesende Erzählung. Die Pubertät seiner zwei ungleichen Jungengestalten wird überaus stimmig geschildert, man ist gespannt als Leser, wie es denn ausgeht mit den Beiden, deren Psychogramme uns da vor Augen geführt werden. Und die subtile Einbindung des furchtbaren Krieges, ganz am Rande sozusagen, kann man durchaus als literarischen Meilenstein bezeichnen.

Bewertung vom 05.10.2015
Das Hotel New Hampshire
Irving, John

Das Hotel New Hampshire


schlecht

Mit Sonnenuntergang

Der US-amerikanische Schriftsteller John Irving ist einer jener polarisierenden Autoren, deren Romane man entweder ganz toll findet, um sich damit jubelnd in die zugehörige Fan-Gemeinde einzureihen, oder eher miserabel, womit man sich in der Rolle des schwarzen Storches befindet, also ein störender Andersartiger ist inmitten weißer Artgenossen. Auch nach zwei Jahrzehnten Abstand habe ich beim Wiederlesen seines wohl bekanntesten Romans, «Das Hotel New Hampshire», 1982 auf Deutsch erschienen, keinen Zugang gefunden zu dieser Art des Erzählens, - von der misslungenen Verfilmung mal ganz abgesehen. Mein Unvermögen also?

Es handelt sich um einen klassischen Coming-of-Age-Roman. Die Geschichte wird strikt aus der Ich-Perspektive erzählt, von John Berry, der anfangs zehn Jahre alt ist, und sie erstreckt sich zeitlich über etwa dreißig Jahre, von Anfang der vierziger bis Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, deckt also seine späte Kindheit ab bis zur Heirat mit vierzig. Um diese zentrale Figur herum gruppiert Irving eine geradezu absurd skurrile Familie mit fünf Kindern und einem Großvater sowie diversen Gestalten mit wunderlichen Namen wie Susie der Bär, Freud, Kreisch-Annie, Die Alte Billig, Die Dunkle Inge, Ernst der Pornograph, Schraubenschlüssel, Schwanger, Fräulein Fehlgeburt und viele andere mehr. In diesem dubiosen Panoptikum fällt auf, dass den starken Frauenfiguren wie zum Beispiel Franny, Johns ein Jahr älterer Schwester, die der intellektuelle Mittelpunkt der Familie ist, schwache Männer gegenüberstehen wie der antriebslose John oder sein schwuler Bruder Frank. Gleiches gilt für die jüngere, kleinwüchsige Schwester Lilly, die einen erfolgreichen Roman schreibt, und den jüngsten Bruder Egg, der ziemlich einfältig erscheint nicht nur durch seine Schwerhörigkeit. Zum typischen Instrumentarium dieses Autors gehören ferner literarische Versatzstücke, die sich auch in manchen anderen Romanen von ihm finden: Männersportarten wie Football, Motorräder, Bären, Zirkus, Prostitution, Homosexualität, Vergewaltigung, Inzest, Macho-Sex. Nicht sehr abwechslungsreich sind auch seine autobiografisch geprägten Lieblingsschauplätze, hier New Hampshire, New York und Wien, und seine bevorzugten Milieus wie Hotels, Schulen, Bordelle.

Aus all dem entwickelt der Autor seine handlungsreiche, trotz einiger überraschender Wendungen aber merkwürdig spannungsarme Geschichte, man schwimmt als Leser mit im Erzählfluss, hat aber nie Schwierigkeiten, das dicke Buch beiseite zu legen für eine längere Lesepause. Wir erleben diese chaotische Familie und all die skurrilen Randfiguren in ihren drei Hotels, lesen von diversen Schicksalsschlägen: Flugzeugabsturz der Mutter und des jüngsten Sohnes, Attentatsversuch auf das Wiener Opernhaus, Erblindung des Vaters, Selbstmord der jungen Schriftstellerin. Irving erzählt seine ausufernd pralle Geschichte in einer anspruchslosen, äußerst vulgären Sprache, mit der er seinen Figuren den ordinären Jargon der Halbstarken und des Rotlichtmilieus in den Mund legt, erweist ihr damit aber einen Bärendienst, die seine moralische Intention konterkariert. Er wäre nämlich kein typisch amerikanischer Autor, wenn er nicht zu guter Letzt eine wohlfeile Botschaft verbreiten wollte, wobei er den «Gatsby» seines Kollegen Fitzgerald als maßlos bewundertes Vorbild heranzieht. «Bleib immer weg von offenen Fenstern» heißt es rührselig bei Irving, womit gebetsmühlenartig eine unbeirrbar optimistische Lebensmaxime bekräftigt wird, sich ja nie unterkriegen zu lassen, egal wie dick es kommt.

Ordinär verbalisierter Sex ersetzt in dieser naiv märchenhaften Erzählung die Liebe, sämtliche Beziehungen zwischen den Protagonisten wirken seltsam oberflächlich, Trauer und Schmerz, seelische Verletzungen werden nassforsch weggebügelt von einer alles übertönenden Zuversichtlichkeit im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten». Ein Roman wie ein lauter, kitschiger Hollywoodfilm, mit Sonnenuntergang am Ende.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.09.2015
Mein Name sei Gantenbein
Frisch, Max

Mein Name sei Gantenbein


sehr gut

Ein artistischer Roman

Es findet sich nicht oft, dass eine durchaus reale, gescheiterte Liebesbeziehung Anlass ist für gleich zwei Romane, geschrieben von den Betroffenen selbst: «Manila» von Ingeborg Bachmann, «Mein Name sein Gantenbein» von Max Frisch. Sexuelle Untreue, vom Schwerenöter Frisch wie selbstverständlich praktiziert, wird der Bachmann nicht zugestanden, er reagiert im Gegenteil mit starker Eifersucht, ihre problematische Beziehung zerbricht daran. Der vorliegende, 1964 erschienene Roman gehört zusammen mit «Stiller» und «Homo faber» zum Hauptwerk der Prosa von Max Frisch, ist durch seinen komplexen Aufbau aber auch sein schwierigster, hohe Ansprüche an den Leser stellend. Gemeinsam sind den genannten Romanen das Spiel mit den Identitäten ihrer Figuren und jene schwierige Thematik, welche die problematischen Beziehungen zwischen Mann und Frau darstellt, die sich einer halbwegs schlüssigen Klärung so hartnäckig widersetzt.

«Ich erlebe lauter Erfindungen» lässt der Autor seinen Helden sagen, wobei er unbekümmert die Fähigkeit der Leser voraussetzt, dass sie ihm folgen können, wenn er in seiner komplizierten Geschichte vom Ende einer Ehe verschiedene Identitäten und Erzählvarianten ausprobiert. Dieses Trial and Error jedoch führt, trotz literarisch durchaus raffinierter Varianten, auch nicht zu befriedigenden Ergebnissen, das Wesentliche bleibe für die Sprache unsagbar, hat Frisch später eingeräumt. «Was wäre wenn» also ist seine Methodik, im Roman durch den häufig eingeschobenen Satz «Ich stelle mir vor» eingeleitet, der nicht nur die Perspektive ändert, sondern auch den Kontext, Standpunkt und Haltung der Figuren mithin. Was dann zwangsläufig zu neuen, alternativen Geschichten führt, und man staunt nicht schlecht als Leser, zu welchen! Es schleichen sich nämlich Zweifel ein, was Realität letztendlich denn überhaupt bedeutet, von Identität ganz zu schweigen! Menschenwürde, die Annahme des Ich und seiner Selbstverwirklichung, könne sich nur auf freier Wahl gründen, so das Credo des Autors. Ein Kontinuum der Handlung ist also nicht zu erwarten, womit Frisch auch die Illusion zerstört, diese Geschichte könnte tatsächlich passiert sein, er erwartete vielmehr eher, dass sie zu «artistisch» sei für das deutsche Publikum.

Der Erzähler ist von seiner Frau verlassen worden, in der leer geräumten Wohnung sitzend erfindet er zu dieser realen Erfahrung eine, wie er glaubt, dazu passende Geschichte jenes Gantenbein, der nach einem Unfall seine Erblindung vortäuscht. So kann er tun, als merke er nicht, dass seine Frau Lila ihn betrügt. Eine weitere imaginierte Figur ist Enderlin, ein Wissenschaftler mit einem Ruf nach Harvard, dem er nicht folgt, weil er annimmt, todkrank zu sein. Eine dritte Figur ist Svoboda, mit Lila verheiratet, die eine Affäre mit Enderlin beginnt. Gantenbein wiederum wird zunehmend gequält von Anzeichen für die Untreue seiner Lila: ihr Kontakt zu einem Mann aus Uruguay, mysteriöse Briefe aus Dänemark, die sie vor ihm verbirgt, ein Rat suchender junger Schauspielschüler, den sie im Schlafzimmer empfängt. Als Lila eine Tochter bekommt, hat er den Verdacht, ein Mann namens Siebenhagen könnte der Vater sein.

Den drei Männern Gantenbein, Enderlin und Svoboda steht eine Lila gegenüber, die mal Schauspielerin ist, mal Ärztin oder venezianische Contessa, mal verheiratet mit Svoboda und mal mit Gantenbein, ein Kind hat oder auch nicht, die streckenweise sogar als Baucis auftritt an der Seite von Philemon, Ovids treuem Ehepaar, das sich den gleichzeitigen Tod erbat von Zeus. Wenn schließlich eine männliche Wasserleiche im Kiefernsarg die Limmat hinunter schwimmt, eine Hand scheinbar winkend in der Strömung, ist das letzte der assoziationsreich montierten Textfragmente dieses Romans erreicht. Es mag einer der drei Männer sein, der uns da zuwinkt, - «weiß man’s?» würde Marcel Reich-Ranicki sagen. Der übrigens diesen «artistischen» Roman für gut hielt und damit so falsch nicht lag, wie ich meine.

Bewertung vom 24.09.2015
Stoner
Williams, John

Stoner


ausgezeichnet

Kompliment an die Literatur

Wiederentdeckungen gehören für mich zu den erfreulichsten Ereignissen in der Welt der Literatur, weil sie, oft ja erst post mortem, ein Geständnis sind, dass einem vergessenen Autor mutmaßlich Unrecht widerfahren ist von Seiten der Leserschaft. Der Roman «Stoner» von John Williams, bei seinem Erscheinen 1965 wenig beachtet und erst mehr als vierzig Jahre später in den USA neu publiziert, ist mal wieder ein Beispiel dafür. Erfolg ist launisch und unberechenbar, der plötzlich ausbrechende Hype um dieses Buch hat die als «worst case» angenommene Auflage von 4000 Exemplaren für den 2013 erstmals ins Deutsche übersetzten Roman auf weit über zweihunderttausend hochschnellen lassen, wie man einem Interview mit der Lektorin entnehmen konnte. Und «Stoner» ist plötzlich in aller Munde, warum eigentlich?

Dieser Roman ist doch nur die schlichte, keine Besonderheiten aufweisende Biografie eines Mannes, der als Bauernsohn aus einfachsten Verhältnissen kommend an der Universität von Missouri Agrarwissenschaft studieren soll. Er entdeckt seine Liebe zur Literatur, wechselt das Fach und bleibt dann zeitlebens dort, wird Professor der literaturwissenschaftlichen Fakultät. Insoweit kann man auch von einem Campusroman sprechen, der Unibetrieb nimmt jedenfalls einen breiten Raum ein in dieser Lebensgeschichte eines eher linkischen, wenig zugänglichen Mannes. In 17 Kapiteln begleiten wir William Stoners mühsamen Weg zum angesehenen Hochschullehrer, der oft allerlei Anfeindungen und Querelen ausgesetzt ist, sich allzu häufig desinteressierten Studenten gegenübersieht und seine wissenschaftlichen Ambitionen bald schon dem kräftezehrenden Lehrbetrieb opfern muss, in dem er ebenfalls unauffällig bleibt, jede Karrierechance für sich ausschlagend. Sein Privatleben ist ähnlich unglamourös, er findet eine merkwürdig gehemmte Frau, heiratet sie und bekommt eine Tochter, die er weitgehend alleine großziehen muss, weil die psychisch labile Mutter sich wenig um sie kümmert, und auch seine Ehe scheitert kläglich, wird zum Alptraum für ihn. Die Affäre mit einer jungen Doktorandin bringt ihm nur ein kurzes Glück, auf Druck der Uni muss sie die Stadt bald Hals über Kopf verlassen, der Kontakt zwischen ihnen bricht für immer ab. Als Stoners innig geliebte Tochter schwanger wird und heiraten muss, verliert er in ihr seine letzte familiäre Bindung; sie wird Kriegerwitwe, hat Alkoholprobleme, gibt das Kind zu den Schwiegereltern. Und wir begleiten Stoner weiter bis zu seinem Krebstod, kurz vor der anstehenden Emeritierung.

Ein solch konventioneller Plot kann, wie man sieht, kaum ausschlaggebend sein für eine derart erfolgreiche Rezeption. Auch sprachlich bietet dieser Roman nichts Besonderes, er ist stilistisch dem unspektakulären Sujet angepasst, nüchtern erzählt, knapp und sparsam, leicht lesbar also. Mit einer unterschwellig permanent spürbaren Spannung allerdings, die einen an den Text fesselt, weil man stets einen Umschwung erwartet, eine überraschende Wende. Die aber bleibt aus in der einsträngig und strikt chronologisch erzählten Geschichte, - trotzdem ist man fasziniert und darüber hinaus tief betroffen von ihr.

Es wird nämlich nichts beschönigt in dieser Biografie eines stets aufrichtigen, uneitlen, integeren Mannes, dessen unerschütterliche Leidenschaft für die Literatur seinem äußerlich wenig erfreulichen Leben den Sinn gibt, allen Fährnissen zum Trotz. Und genau darum beneiden wir ihn in unserem tiefsten Inneren, begleiten ihn am Ende - buchstäblich bis zum letzten Atemzug -mit einer ängstlichen Faszination, wie man sie ganz ähnlich auch beim «Jedermann» empfinden mag. John Williams hat wagemutig Grundfragen des Menschseins aufgegriffen in seinem Roman und philosophisch Handfestes geliefert statt intellektuellem Geschwafel. Ihm ist ein formidables Meisterwerk gelungen, in dem die Literatur die Hauptrolle spielt, Lebenssinn verkörpernd. Kann man der Literatur denn überhaupt ein schöneres Kompliment machen?

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