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Magnolia
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Bayern

Bewertungen

Insgesamt 622 Bewertungen
Bewertung vom 30.06.2024
Der Betrachter: Thriller
Shepherd, Catherine

Der Betrachter: Thriller


ausgezeichnet

Welchem Muster folgen diese grausam in Szene gesetzten Morde?

Eine abgelegene Lagerhalle dient einem Obdachlosen wie so oft auch heute als Schlafplatz. Eine Kiste erregt seine Aufmerksamkeit und in der Hoffnung, etwas Verwertbares darin zu finden, hebelt er sie auf und – lässt sofort wieder die Finger davon. Eine Frau liegt in der relativ kleinen Kiste, hineingepfercht, zusammengerollt wie eine Kugel. Nur gut, dass ihm ein Kumpel sein mobiles Telefon überlassen hat und so meldet er diesen grausamen Fund. Die Spezialermittlerin Laura Kern vom LKA Berlin ist bald darauf mit Max, ihrem Kollegen, vor Ort. Ein bunter Schmetterlingsflügel fällt ihnen bei näherer Betrachtung ins Auge, die Tote hält ihn zwischen ihren Fingern.

Über die Krankenschwester Monika Nowak hagelt es Beschwerden, da sie einzelnen Patienten viel zu viel Zeit widmet, vom Arbeitsplan abweicht und dadurch ihren Kollegen zu viel Arbeit aufbürdet. Die Patientin Lilly, die seit sieben Jahren in der Psychiatrischen Klinik und davon das letzte halbe Jahr in der Geschlossenen untergebracht ist, hat es ihr besonders angetan. Lilly ist verstummt, auch ist sie komplett in sich gekehrt. Ihre Aquarelle sind ihr Lebenselixier, so scheint es. Es sind exakte Darstellungen der Blumen im Klinikgarten, sie sind einzigartige Kunstwerke und so manches Blatt hat sie ihrer Pflegerin Monika schon geschenkt. Zwischen diesen Blumenbildern findet Monika Verstörendes. Eine tote Frau in einer Holzkiste ist genau so dargestellt, wie sie in der Realität vorgefunden wird. Ohne die Klinikleitung vorher zu informieren, verständigt Monika das LKA. Laura erkennt sofort den Zusammenhang, die akribische Kleinarbeit beginnt.

Catherine Shepherd hat mir nicht nur eine schlaflose Nacht beschert, sie hat mich auch ganz schön in die Irre geführt. Dass hier der erschreckenden Realität inform der Bilder - die Lilly entgegen ihrer Gewohnheit mit Buntstiften gemalt hat - vorgegriffen wird, ist so verblüffend wie nicht nachvollziehbar. Es bleibt nicht bei der einen Zeichnung, in Lillys Zimmer finden sich weitere. Bleibt die bange Frage, wie diesem erschreckenden Szenario ein Ende gesetzt werden kann, noch bevor ein weiterer grausamer Mord geschieht. Laura, Max und das gesamte Team geben ihr Bestes – aber ist das genug? Kann der Mörder dingfest gemacht werden?

Täter hätte ich so etliche ausgemacht, fast allesamt waren sie mir nicht nur unsympathisch, ich hätte denen durchaus diese direkt spürbare Eiseskälte zugetraut. Alle Figuren, auch die sympathischen, sind fein gezeichnet, ihre Charaktereigenschaften werden zunehmend sichtbar und neben der äußerst schwierigen Ermittlungsarbeit blitzt auch ein wenig Privatleben durch. Hier ist es eher Max und seine Ehe, aber viel Zeit bleibt nicht, der Fall ist zu komplex, als dass sie nachlässig sein dürften. Gefühlt laufen sie den Ereignissen hinterher, das raffiniert ausgeklügelte Ende setzt dann einen perfekten Schlusspunkt.

Der mittlerweile neunte Fall für Laura Kern ist brillant, voller Spannung und überraschenden Wendungen, die Aufklärung so gar nicht vorhersehbar. Und nun heißt es wiederum warten, dem zehnten Fall fiebere ich schon jetzt voller Vorfreude entgegen.

Bewertung vom 30.06.2024
Der nächste Redner ist eine Dame (eBook, ePUB)

Der nächste Redner ist eine Dame (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Absolut lesenswert

„Der nächste Redner ist eine Dame.“ Heute mutet diese Ankündigung befremdlich an, damals jedoch, als der Bundestagspräsident Erich Köhler die Theologin und CDU-Abgeordnete Anne Marie Heiler am 12. Mai 1950 als Rednerin ankündigt, war es keine Selbstverständlichkeit, eine Frau ans Rednerpult zu lassen. Fünf Minuten Redezeit steht jedem zu, ihre Fraktionskollegen haben diese weidlich ausgenutzt und überschritten, sodass für sie noch magere drei Minuten übrig bleiben. Großzügig erhöht Köhler um eine Minute auf stolze vier Minuten. Ganze 64 Sitzungen hat Heiler abwarten müssen, bis ihr erstmals das Wort erteilt wird. Dies ist eine der kleinen Anekdoten, die auch dazu gehören, die von den Pionierinnen des Deutschen Bundestages erzählen. Das Buch ist aber sehr viel mehr, es stellt wegweisende Pionierinnen unserer parlamentarischen Demokratie vor, zeichnet ihren Lebensweg und ihr politisches Wirken nach.

Bärbel Bas, die Präsidentin des Deutschen Bundestages, hat das ausführliche, sehr lesenswerte Vorwort verfasst, die Schriftstellerinnen Helene Bukowski, Julia Franck, Shelly Kupferberg, Terézia Mora und Juli Zeh stellen je eine Abgeordnete vor, alle Porträts berichten von starken, unerschrockenen Frauen, die an ihre Sache geglaubt und dafür gekämpft haben. 38 Kurzbiographien schließen sich an.

Da die Frauen durchweg hintere Listenplätze innehaben, rücken sie erst dann nach, wenn ein Abgeordneter stirbt oder aus anderen Gründen ausscheidet. Diese Nachrückerinnen werden wenig despektierlich Sarghüpfer genannt. Auch diese Episode verdeutlicht den Stellenwert der Frauen, die sich gegen die nicht nur zahlenmäßig überlegenen männlichen Abgeordneten behaupten mussten. So einige davon sind mir schon ein Begriff, viele jedoch sind heute vergessen, dieses Buch setzt ihnen ein Denkmal und sollte unbedingt gelesen werden. Neben ihrem unermüdlichen Einsatz und ihrem politischen Wirken ist es ein informatives, interessantes und dazu gut zu lesendes Zeugnis einer Zeit, in der unsere Demokratie fest verankert wurde.

Bewertung vom 28.06.2024
Sakura - KIrschblüte
Mayr, Sabine

Sakura - KIrschblüte


ausgezeichnet

Künstliche Intelligenz – ist das die schöne neue Welt?

Künstliche Intelligenz – eine schöne neue Welt, ein Hilfsmittel, um für Anderes den Kopf frei zu haben? Oder eher eines für Blender, für talentfreie Schriftsteller? Diese Fragen stellen sich mir während des Lesens. Und nicht nur diese sind es, der ganze Roman wirft viele Fragen auf.

Stefan Hohl will an seine früheren Erfolge anknüpfen, aber ihm fällt so gar nichts ein. Sein Verleger drängt ihn, endlich das neue Manuskript vorzulegen. Was tun? KI ist in aller Munde, auch Stefan sucht sich entsprechende Seiten, gibt einige Stichworte ein und siehe da - die Seiten flutschen nur so. Die ersten acht davon sind frei zugänglich, Stefan ist begeistert. Der Anfang ist gemacht, das Weiterschreiben gar nicht so einfach wie zunächst gedacht, die restlichen der insgesamt 56 Seiten kann er schließlich nach Eingabe seiner Bankdaten erwerben. Gesagt, getan. Das Um- und Weiterschreiben wird danach bestimmt klappen, so redet er es sich ein, schließlich hat er schon zwei Erfolgsbücher vorzuweisen.

Schon bin ich mittendrin, bin in Tokyo und sehe sie – Sakura. Nicht nur ich bin von ihr angetan, auch Paul ist es, er verliebt sich sofort in sie. Parallel dazu sind es auch Stefan und Ayame, die ähnliches erleben. Eine Liebesgeschichte – oder sind es zwei? – traumhaft schön. KI hat sie vorgegeben, zumindest die eine Geschichte um Sakura und Paul. Wer ist diese geheimnisvolle japanische Schönheit, diese Sakura? Und ist Stefan und Ayames Geschichte, eingebettet in jene, die KI erzeugt hat, ein und dieselbe? Sind sie alle eher Traum? Von KI angetrieben, weitergesponnen? Erst mal musste ich meine Gedanken sortieren, um dann umso genüsslicher weiterlesen zu können.

Sakura und Paul, Ayame und Stefan - beide Stories sind reizvoll und doch nicht so recht fassbar, eher surral, sie fesseln mich, sind aufregend und charmant zugleich, sind verführerisch, ja unwiderstehlich. Die Idee, eine „Story in der Story“ zu schreiben, ist so faszinierend wie gut umgesetzt. Die beiden Geschichten laufen nebeneinander her, überschneiden sich, sie regen meine Phantasie an.

Sabine Mayr hat KI thematisiert, sie hat einen Roman voller Leben vorgelegt, in dem es nicht nur um Liebe geht, es wird dramatisch - nuanciert und facettenreich umgesetzt. Gelebt, erträumt, real oder auch nicht, wer weiß es schon so genau. Das Ende ist voller Magie – so zauberhaft und passend. Ich bin begeistert.

Bewertung vom 28.06.2024
Graceland - Die Geschichte eines Sommers
Chase, Kristen Mei

Graceland - Die Geschichte eines Sommers


sehr gut

Warmherzig

„Die Geschichte eines Sommers“ ist so viel mehr als „nur“ eine Reise nach „Graceland“. Diese tausend Meilen von El Paso bis hin nach Memphis sind voller Leben und so ganz anders, als ich es erwartet habe. Loralynn ist siebzig und noch immer hat sie sich ihren großen Traum, einmal Elvis ganz nahe zu sein, nicht erfüllt. Jetzt endlich will sie es wagen, ihre Tochter Grace soll sie begleiten. Nun, die beiden sind schon in Kontakt, monatliche Pflichtanrufe und alle zwei Jahre ein Besuch bei der Mutter müssen genügen. Da Grace Ehe am Ende scheint, braucht sie einen Ortswechsel, die Reise kommt ihr ganz gelegen.

Alles beginnt so, wie ich es erwartet habe. Loralynn ist nicht nur ein Elvis-Fan durch und durch, sie lebt ihre Leidenschaft direkt und zeigt dies auch nach außen hin. Ihre Klamotten sind schrill, momentan trägt sie Schwarz, Priscilla lässt schön grüßen. Die ersten Seiten lesen sich amüsant, Loralynn ist im Gegensatz zu ihrer direkt bieder erscheinenden Tochter eine exzentrische Persönlichkeit. „Lass dich einfach treiben, Grace. Ausnahmsweise mal“ ist nicht das Schlechteste, was Loralynn ihrer Tochter rät. Und so machen sie Station bei Madame Arabella, einer Hellseherin, besuchen eine Elvis-Show irgendwo auf dem Weg nach Graceland, Line Dance und Karaoke sind willkommene Abwechslungen, sie machen Zwischenstation in Odessa bei Mamas alter Freundin Dottie und ihren Sohn Wyatt. Und dann reist ein unsichtbarer Geselle mit, der sie immer wieder zum Innehalten zwingt.

So ein Mutter-Tochter-Ding, wie man es sich vorstellt, ist „Graceland“ allemal. Die beiden grundverschiedenen Charaktere sind dabei, sich einander wieder anzunähern und dazu gehört auch, sich der Vergangenheit zu stellen. Der locker-flockige, zuweilen schnoddrige Ton ändert sich, wenngleich er nie ganz verschwindet, er wird tiefgründiger, ohne an Leichtigkeit zu verlieren. Es ist eine warmherzige, eine humorvolle Geschichte voller Leben und witzigen Dialogen mit schon auch bedrückenden Momenten, die trotzdem lehrt, nie aufzugeben. Kristen Mei Chase Debütroman macht Mut, diese Reise ist Versöhnung und Neuanfang zugleich, begleitet von Elvis und seinen Songs.

Bewertung vom 26.06.2024
Anna O. (eBook, ePUB)
Blake, Matthew

Anna O. (eBook, ePUB)


sehr gut

Anna Ogilvy – eine Mörderin?

Was für ein Szenario! Anna Ogilvy hat seit vier Jahren ihre Augen nicht mehr geöffnet. Sie liegt da und nichts scheint ihren Schlaf zu stören. Harriet, ihre Krankenpflegerin, versorgt die Schlafende rund um die Uhr. Davor ist Schreckliches passiert. Anna wurde blutverschmiert, mit einem Küchenmesser in der Hand, neben den Leichen ihrer Freunde aufgefunden. Schon da war sie nicht mehr ansprechbar und ist seitdem aus ihrem Tiefschlaf nicht mehr erwacht.

Der Experte für Schlafmedizin, Dr. Benedict Prince, hat schon vieles gesehen. Patienten, die im Schlaf das Haus verlassen, sogar Auto fahren, sind ihm nichts Neues und man möchte es nicht glauben, manche töten sogar. Was diese Personen geträumt haben, wissen sie beim Aufwachen meist nicht. Auch nicht, was sie während ihres Schlafwandelns getan haben. Nun wird Ben in die Schlafklinik The Abbey gerufen, um sich der gerade hier eingelieferten Anna Ogilvy anzunehmen. Neben der Frage nach Annas Schuld macht Ben sich daran, sie aufzuwecken. Ob ihm dies gelingen wird? Neben Ben sind es noch etliche Personen, die ihn und seine Nachforschungen um Anna interessiert beobachten.

Zunächst ist es die Person Ben, die immer wieder zu Wort kommt. Allerdings waren mir diese Passagen zu steril, nicht recht greifbar. Private Momente mit seinem Kind und seiner Ex-Frau, die als Kommissarin damals direkt vor Ort war, wechseln sich ab mit seinem Klinikalltag, in dem er mit der schlafenden Anna arbeitet mit dem Ziel, sie wach zu bekommen. Dabei ist u. a. von einem Resignationssyndrom die Rede, einer Krankheit, bei der sich die Betroffenen nach einem traumatischen Erlebnis in sich selbst zurückziehen und so sich der schwer auszuhaltenden Belastung entziehen.

Die Erzählperspektiven wechseln, man erfährt mehr vom Leben der Anna O. und deren Umfeld inklusive der Tat. Parallelen zu einer früheren, ähnlichen Tat, werden sichtbar - dem Sally-Turner-Fall, der durch alle Medien ging. Sally Turner hat – exakt zwanzig Jahre vor Annas Tat – schlafwandelnd ihre Stiefkinder erstochen.

Es ist eine ganze Menge an Stoff, der hier verarbeitet wird. Das doch etwas schwierige Hineinfinden ins Buch war vor allem Bens teils irrationalem Verhalten geschuldet, seinem Charakter musste ich mich annähern, ihn mir erst „erlesen“. Seine Herangehensweise an Anna O. habe ich mit Spannung verfolgt, dann jedoch kam er mir wieder unnahbar, ja fremd, vor. Nicht nur er hat seine ganz besondere Art, auch die anderen Charaktere sind facettenreich ausgearbeitet. Die Erzählweise ist fesselnd, dann wieder finden sich viel zu lange, sich wiederholende Passagen, welche die Story zäh dahinfließen lassen. Das Ende zeichnet sich ab, ist jedoch für mich zu gewollt, zu aufgesetzt.

„Anna O.“ ist ein Buch mit Höhen und Tiefen, es thematisiert ein spannendes Phänomen, die schon erwähnten Längen haben dem Lesefluss geschadet.

Bewertung vom 26.06.2024
Die Zeit der Zikaden (eBook, ePUB)
Heger, Moritz

Die Zeit der Zikaden (eBook, ePUB)


sehr gut

Neuanfang

„Die eine Naturgewalt, vor der hat uns keiner gewarnt, und dabei ist es die natürlichste, die, die ausnahmslos alle betrifft. Sie heißt einfach – Altern.“

So lese ich es gleich mal. Altern – darum geht es. Es geht um Alex, die ihren Ruhestand damit beginnt, dass sie allen Ballast abwirft. Ihre Wohnung tauscht sie gegen ein Tinyhouse auf Rädern ein, all das Angesammelte verkauft oder verschenkt sie. Und um Johann geht es auch, dem das geerbte Steinhaus in Ligurien gerade recht kommt, um aus seinem bisherigen Leben auszubrechen. Auf der Hochzeit von Johanns Sohn begegnen sich die beiden, erzählen sich ihre Zukunftspläne und wie es manchmal so kommt, landet Alex mitsamt ihrem schmalen Tinyhouse in Johanns weitläufigem Grundstück in Ligurien. Jeder hat hier sozusagen seinen eigenen Rückzugsort, beide Eingangstüren zu ihrem Heim liegen auf gleicher Höhe. Alex und Johann nähern sich einander an. Er beginnt, sie zu malen. Sie, die schon als Lehrerin eine Theater AG geleitet hat, sieht ihre Chance, sich auch hier in dieser Richtung etwas aufzubauen. Dazwischen liegen viele Momente voller Leben und Neugier.

Moritz Heger schreibt auch hier über das Leben. Schon „Aus der Mitte des Sees“ hat er tiefe Empfindungen und ehrliche Gedanken zugelassen, seine Protagonisten dort waren jünger als hier. Und doch sind es auch hier zwei Menschen, die einen Neuanfang wagen. Sich noch einmal spüren wollen, sich der Fülle des Lebens mit allen Sinnen annähern.

„Die Zeit der Zikaden“ wird in zwei Teilen erzählt, wobei der erste so einiges aus deren beider Leben berichtet und die Hälfte des Buches einnimmt. Davon hätte ich nicht unbedingt so viel gebraucht, eine kürzere Charakterisierung dessen wäre mir zugunsten des zweiten Teiles lieber gewesen. Dieser zweite Teil dann ist mit „Ankern“ überschrieben. Hier geht es um Alex und Johann, um ihre Pläne, um ihre Träume, um Freundschaft und Liebe und es geht auch darum, dass man nie zu alt ist, Altes loszulassen zugunsten von Neuem, von Unbekanntem, das man einfach zulassen sollte. „Je älter ich werde, umso mehr denke ich: Letztendlich kommt es immer aufs Hier und Jetzt an.“ Man ist nie zu alt, um neugierig zu sein und es zu bleiben, um sich auszuprobieren.

Moritz Heger schreibt sehr klug über das Alter und über das, was einen nach einem arbeitsreichen Leben noch alles erwartet. Alex und Johann bin ich gerne gefolgt, in Ligurien waren sie mir jedoch sehr viel näher, ihre Vorleben hatte für mich jedoch unnötige Längen.

Bewertung vom 25.06.2024
Die Sommer mit ihm
Cowell, Emma

Die Sommer mit ihm


sehr gut

Bittersüße Romanze vor herrlicher Kulisse

Ab und zu muss es auch ein Roman sein, der die Seele wärmt. „Die Sommer mit ihm“ ist nicht nur eine bittersüße Romanze vor herrlicher Kulisse, nein - diese Sommer sind sehr viel mehr, sie erzählen von einer großen Liebe…

Sophies Mutter hat den Kampf gegen ihre Krankheit verloren und nun steht sie da, voller Trauer um ihre viel zu früh verstorbene Mutter Lyndsey, sie war eine bekannte und erfolgreiche Malerin. Sophie findet eine zusammengefaltete Kopie eines Bildes. Nach Rücksprache mit Mutters Agentin wird klar, dass es hier um das verschollene fünfte Gemälde einer Serie handeln muss. Kurzerhand fliegt Sophie nach Griechenland mit dem Ziel, in dem kleinen Küstenort Methoni danach zu suchen.

Kaum angekommen tritt sie in einen Seeigel und wie es der Zufall so will, ist ein Fischer in der Nähe. Dieser entfernt den Stachel und versorgt die schmerzhafte Wunde, sie kommen ins Gespräch, finden sich sympathisch und verabreden sich. Wie sich später herausstellt, hat jeder der beiden sein Päckchen zu tragen, das Leben ist weder an Sophie noch an Theo, wie der Fischer heißt, spurlos vorübergegangen.

Neben der Suche nach dem vermissten Methoni-Bild spielt natürlich die Liebe eine Rolle, wenngleich es zu so manchem Missverständnis kommt. Emma Cowell hat mir nicht nur all dieses Zwischenmenschliche vermittelt, sie hat mir auch die zauberhafte Landschaft in all ihren Facetten so schmackhaft gemacht, wie es auch das griechische Essen war. Denn am liebsten hätte ich mich sofort mit ihnen allen an den reichlich gedeckten Tisch gesetzt, mit ihnen gelacht, getanzt, gesungen – und dies mit allen Sinnen genossen.

Beim Lesen spüre ich direkt die Sonnenstrahlen, spüre die Lebensfreude, aber auch eine Liebe, die mit so manchen Hindernissen zu kämpfen hat. Und da ist auch noch die Vergangenheit, die eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Das Buch ist perfekt, um sich wegzuträumen.

Bewertung vom 24.06.2024
Long Island
Tóibín, Colm

Long Island


ausgezeichnet

Geschichten, die das Leben schreibt

„Long Island“ knüpft an „Brooklyn“ an, in dem es die Irin Eilis in jungen Jahren der Arbeit wegen nach New York verschlägt. Familiär bedingt kehrt sie für einige Wochen nach Irland zurück, dies alles geschieht in den 1950er Jahren.

Nachdem ich „Long Island“ vor mir liegen hatte, habe ich beschlossen, den Vorgängerband zu lesen, was sich als sehr gute Entscheidung herausgestellt hat. Hatte ich doch besseren Zugang zu dem Personenkreis, allen voran zu Eilis und Jim, den sie nach zwanzig Jahren in den USA nun in ihrer alten Heimat wiedertrifft. Damals waren sie ein Liebespaar, das durch Eilis Abreise jäh getrennt wurde. Und nun sehen sie sich wieder, die alte Leidenschaft erwacht neu.

Vordergründig ist Eilis zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter herübergeflogen, der eigentliche, der schwerwiegendere Grund dürfte jedoch an Tony liegen, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet ist und mit ihm und den beiden gemeinsamen Kindern in einem der vier Häuser lebt, die von seiner italienischen Familie auf Long Island erbaut wurden. Soweit, so in Ordnung. Wäre da nicht das Baby, das Tony mit einer anderen, einer ebenfalls verheirateten Frau, gezeugt hat und deren Ehemann dieses Kind, sobald es auf der Welt ist, vor Tonys Tür legen wird. Nicht nur dieser gehörnte Ehemann weigert sich, das Kind bei sich zu haben, auch Eilis sträubt sich dagegen und lässt dies sowohl Tony als auch dessen Familie wissen, was diese jedoch nicht zu stören scheint. Allen voran ist Eilis Schwiegermutter fest entschlossen, Tonys außereheliches Baby in die Arme der Großfamilie zu schließen, der werdende Vater verweigert jegliche Aussprache mit seiner Frau und verkriecht viel lieber hinter seiner dominanten Mutter.

Eilis Welt bricht entzwei, der Flug nach Irland und der geplante, mehrwöchige Aufenthalt dort verhelfen ihr zu dem so dringend nötigen Abstand. Hier trifft sie auf Jim, die beiden verband vor zwanzig Jahren eine kurze, heftige Liebe, sie nähern sich wieder an, die alte Leidenschaft scheint neu entflammt. Dass Jim anderweitig liiert ist, weiß sie nicht.

Colm Tóibín schreibt unaufgeregt, es scheint nicht viel zu passieren und doch geschieht eine ganze Menge. Die Liebe zu Jim in Irland flammt erneut auf, sie genießen diese gestohlenen Stunden, denn die beiden wollen ihre neu gewonnene Zweisamkeit ganz für sich alleine. Jim, der ewige Junggeselle, hat schon länger eine ebenfalls heimliche Affäre mit Nancy, einer Jugendfreundin von Eilis, die jung verwitwet ist. Nancy hat ihre Träume und Ziele, genau so wie Jim, der zwischen den beiden Frauen steht, ohne dass die eine von der anderen weiß.

Aus Sicht dieser drei Protagonisten erfahren Tóibíns Leser so einiges. Eilis ist eine zupackende, lebenserfahrene Frau. In ihre Ehe mit Tony hat sich der Alltag eingeschlichen. In „Booklyn“ habe ich Tony als wunderbaren, sehr einfühlsamen jungen Mann kennengelernt, von dem aber nicht mehr allzu viel vorhanden ist. Er entpuppt sich als Muttersöhnchen, der jegliche Verantwortung von sich schiebt.

Der Ire Jim ist noch immer Junggeselle, er ist eher der Geheimniskrämer, der auch die Liaison zu Nancy im Verborgenen lebt. Natürlich gehören dazu immer zwei, Nancy kann sich damit gut arrangieren.

Colm Tóibín zeichnet ein nuanciertes Bild einer Familie, deren Idylle einen Riss bekommt. Das noch nicht geborene Baby fördert Gefühle und entschlossene Handlungsweisen zutage, die bis vor kurzen gut unter Verschluss gehalten werden konnten. Da ist die betrogene Ehefrau, die plötzlich vor den Scherben ihrer Ehe steht und nicht nur das, auch ihre Schwiegerfamilie wendet sich gegen sie. Auch wenn ich nicht alles gutheißen mag, was Eilis in dieser für sie sehr verletzenden Situation macht, so ist es doch sie, die mit ihrem Ehemann mehrfach das Gespräch sucht, er jedoch darauf abweisend reagiert.

„Long Island“ ist direkt aus dem Leben gegriffen, geht es doch wie so oft um diese Sprachlosigkeit, um Heimlichkeiten und um viele verpasste Chancen. Hätte man besser kommuniziert, dem anderen zugehört, die Liebe und die Zweisamkeit besser gepflegt, dann hätte man so einiges verhindern können. Colm Tóibín gelingt es meisterlich, all diese menschlichen Unzulänglichkeiten einzufangen, sie in eine gut lesbare Form zu bringen. Er beobachtet genau, ohne zu werten. Gewertet werden seine Figuren von uns, den Lesern. Und wenn das geschieht, wenn man sich mit den einzelnen Protagonisten auseinandersetzt, sie mag oder sie verdammt, dann hat der Autor alles richtig gemacht, wie ich finde.

Ein großartiger Roman ist ausgelesen, ich habe mich mit ihnen allen ausgesöhnt, bin froh, vorab „Brooklyn“ gelesen zu haben und kann „Long Island“ all jenen empfehlen, die nicht nur von einer heilen Welt lesen wollen. „Long Island“ erzählt Geschichten, die das Leben schreibt. Leise und dennoch kraftvoll vorgetragen.

Bewertung vom 24.06.2024
Oma Hildegard und der Spielplatz des Schreckens
von Henn, Hildi

Oma Hildegard und der Spielplatz des Schreckens


sehr gut

Coole Oma

Oma Hildegard beweist, dass man es auch mit Siebzig plus noch krachen lassen kann. Sie ist alles, nur nicht langweilig. Auch wenn sie dem eher verarmten Adel angehört, so hat sie doch genug Bekannte und Freunde, viele davon – auch Prominente – sind ihr aus ihrer beruflichen Zeit hoch oben über den Wolken noch wohlgesonnen. Sie kommt gut klar, wechselt zwischen Porsche und Defender und ist mit ihrer Freundin Tati auf dem Weg zu ihrem Lieblings-Ashram. Gerade noch rechtzeitig erreicht sie ihre verzweifelte Tochter, die sie dringend braucht, ist doch der Kita-Platz für Fritz-Ferdinand und Sophia weg. Mama muss arbeiten, sie muss für die Familie die Brötchen verdienen, denn Papa ist gerade mit seiner Idee des Bierbrauens schwer beschäftigt und so muss es Oma richten.

Schon der Anfang hat es in sich, das Buch ist voller Anekdoten. Die Über-Mütter und ihr so modernes Weltbild werden kräftig auf die Schippe genommen, das korrekte Gendern, die militanten Besserwisser, die Lastenradfahrer und noch so einige und einiges mehr werden gut karikiert, gar überspitzt wiedergegeben.

Es ist ein launiges Buch mit kurzem Kapiteln, am Stück gelesen laden sie ein zum Schmunzeln oder aber man pickt sich je nach Lust und Laune einige heraus, die aussagekräftigen Überschriften sind dabei eine gute Hilfe. Es sind kurzweilige Anekdoten und auch solche, die sich in die Länge ziehen, die Mischung machts. Aber so viel steht fest: Oma Hildegard ist eine coole Socke, die viel Lebenserfahrung mitbringt, für ihre beiden Enkel ist sie die Beste.

Bewertung vom 22.06.2024
Hast du Zeit?
Winkelmann, Andreas

Hast du Zeit?


ausgezeichnet

Wer hat heute noch Zeit?

Die Zeit ist ein kostbares Gut und nicht immer gehen wir sorgsam mit ihr um. Sie zerrinnt uns zwischen den Fingern, wir laufen ihr hinterher, haben wieder mal keine Zeit. Es liegt bei uns, was wir aus den Minuten, den Stunden und Tagen machen und solange kein anderer darunter leidet, können wir sie auch verschwenden. Und da kommt er ins Spiel, denn ihm wurde etwas genommen. Er leidet. Und nun ist es genug. Sie sind dran. Sie werden dafür bezahlen. Ihre Zeit läuft ab.

„Alles ist fremdes Eigentum. Nur die Zeit ist unser. Dieses so flüchtige so leicht verlierbare Gut ist der einzige Besitz, in den uns die Natur gesetzt hat, und doch verdrängt uns darauf, wer da will.“

Kurz blicken wir vier Jahre zurück zu Maren Liefers, einer Bestatterin, in deren Kühlkammern ein über Neuzigjähriger wartet. Seine Zeit ist abgelaufen, Maren hingegen hätte genug davon, denn ihr Unternehmen läuft eher schleppend und sie wartet auf „Kundschaft“. Eine Gestalt nähert sich ihr…

Jahre später ist es die Krankenschwester Conny, die instinktiv spürt, dass sie verfolgt wird. Als ihr dann auf dem Weg nach Hause einer nachschleicht, ruft sie die Polizei. In den Büschen wird einer aufgegriffen, seine harmlose Erklärung ist nicht recht glaubhaft und doch müssen sie ihn laufen lassen. Und dann ist es zu spät für Conny. Die Polizei unternimmt nichts, sie legt den Fall zu den Akten. Michelle, ihre Kollegin und beste Freundin, kann und will dies nicht akzeptieren, sie springt über ihren Schatten und nimmt nach Jahren der Sprachlosigkeit mit ihrem Vater, dem ehemaligen Polizisten Grotheer, Kontakt auf. Er gräbt tief, seine privaten Ermittlungen sind so halb legitim und doch lässt er nicht locker, auch ergreift er seine Chance, sich seiner Tochter wieder anzunähern.

Dann ist da die Fotografin Lilly, die nach ihrer Lebensgefährtin Felicitas sucht. Die junge Schornsteinfegerin wurde direkt aus ihrem Fahrzeug entführt und ist seither nicht auffindbar. Sie ist nicht die einzige, die von ihren Lieben schmerzlich vermisst wird, die Polizei jedoch sieht keinen Grund, sich intensiv darum zu kümmern. Denn Erwachsende müssen sich nicht abmelden, sie können ihren Aufenthaltsort, wo auch immer er sein mag, selbst bestimmen. Ein schreckliches Szenario für die Angehörigen und doch verschwinden Jahr für Jahr Menschen, so etliche davon tauchen nie wieder auf.

„Hast du Zeit?“ Diese so lapidar dahingesagten drei Worte haben es in sich. Während des Lesens betrachte ich mir das Cover nochmal und sehe es ganz neu, beurteile diese Sanduhr mit ganz anderen Augen. Neben der Suche nach den Vermissten kommt mehrmals die Täterperson zu Wort, seine Erzählung scheint zunächst keinen rechten Sinn zu ergeben, was sich jedoch mehr um mehr ändert.

Andreas Winkelmann beherrscht das subtile Spiel mit seinen Lesern perfekt. Er fächert das Zeitguthaben jeder seiner Protagonisten auf und bald denke ich, der Täterfigur auf der Spur zu sein, zu vieles deutet auf diese zwanghaft agierende, äußerst unsympathische Person hin. Und dann werden die Karten wieder neu gemischt. So einige geraten in den Focus, auch stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Opfer ausgesucht werden. Und warum. Weil sie es verdienen? Weil sie mit seiner Zeit Schindluder getrieben haben? Die Spannung hält von der ersten Seite, dem total verwirrenden Prolog, bis zuletzt an. Das Motiv und das gar perfide Spiel um die Zeit wird sichtbar, das ganze Ausmaß dessen, was damit geschehen ist, ist doch irgendwie unbegreiflich. Das Buch habe ich an einem Tag ausgelesen, es hat mich atemlos durch die Seiten fliegen lassen, das finale Ende hat mich schwer schlucken lassen - es ist definitiv nichts für Zartbesaitete.