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Miro76
Wohnort: 
Österreich

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Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


sehr gut

In Connemara finden wir zwei Erzählebenen: Da sind Christophe und Hélène als Mittvierziger und Christophe und Hélène als Jugendliche.

Christophe war der Star der Schule, eine Eishockeytalent am Anfang seiner Karriere, groß und gutaussehend; Hélène war immer im Hintergrund, schüchtern und schlau. Beide hatten große Ambitionen und wollten über die Kleinstadt, in der sie aufgewachsen sind hinauswachsen. Hélène schafft das mit Eifer und Ehrgeiz. Zielstrebig absolviert sie College und Studium, lebt in Hamburg und Paris und baut sich eine Karriere im Consulting auf.

Hélène hat scheinbar alles: einen erfolgreichen Mann, zwei Töchter, ein Haus und eine relativ einflussreiche Stelle in einer Beraterfirma.

Christophe hingegen schafft es nicht in die 1. Liga. Er bleibt in der Kleinstadt, ist Vertreter für Hundefutter und ballert mit seinen Freuden auf Wäscheklammern. Mit seiner ersten Liebe hat er einen Sohn bekommen, aber die Beziehung hat nicht gehalten und jetzt will sie ihm das Kind auch noch komplett entziehen.

Und doch ist Hélène diejenige, die sich langweilt und als sie zufällig Christophe wiedersieht, nimmt sie Kontakt auf und beginnt eine Affäre.

So kommt es, dass die Träume das zentrale Thema dieses Romans sind. Hélène träumte von der großen Welt, um doch wieder in ihrer Kleinstadt zu landen. Christophe läuft seinen Träumen hinterher und kommt nicht so richtig in die Gänge und wie fühlt es sich an, wenn man sich einem Jugendtraum als Erwachsene hingibt? Träume und Illusionen werden hier ganz einfach deduziert und dabei zeigen sich blanke Tatsachen, die nicht immer so glänzen wie gewünscht.

Zwischendrin finden sich spannende Wahrheiten, wenn es um Hélène Arbeit geht, oder wenn die politische Einstellung dieser Generation beurteilt wird.

Nicolas Mathieu hat wieder einen großen Roman verfasst, in dem er einen analytischen Blick in die Seelen dieser/meiner Generation wirft.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen. Stilistisch ist es top, wie auch die Vorgänger. Nur leider finden sich zwischendurch ein paar Längen und in den medizinischen Teilen ein paar Ungenauigkeiten, die mich so sehr gestört haben, dass ich einen Stern abziehen muss. Ansonsten konnte mich der Roman aber begeistern!

Bewertung vom 05.11.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Alex muss sich eingestehen, dass seine Kinder häufig Angst vor ihm haben. Dabei erhebt er nie die Hand gegen sie. Aber Wut kann man auch anders zum Ausdruck bringen. Um dieser Wut, die immer wieder in ihm brodelt auf den Grund zu gehen, setzt er sich mit seiner Familiengeschichte auseinander und erkennt, dass alles mit seinem Großvater, dem berühmten Schriftsteller Sven Stolpe begann.

Er macht sich auf die Suche nach dem Auslöser und wird fündig in dessen Werk, seinen eigenen Erinnerungen und in Briefen einer beteiligten Person.

Sven Stolpe hat zeit seines Lebens seine Frau dominiert und diese hat es zugelassen, aus Schuldgefühlen und Angst. Auch seine Kinder hat er immer wieder schikaniert. Diese Familie hat keine Bande. Es ist eine Geschichte von gekappten Banden und schlecht vernarbten Verletzungen, die bis ans Lebensende schwelen. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen muss sich Alex seinen Vorfahren stellen.

Der Autor entspinnt hier eine spannende Suche nach dem großen Geheimnis, dass Generationen ins Unglück gestürzt hat. Er betont zwar, dass es eine fiktive Geschichte ist, bedient sich aber dennoch an den Lebensgeschichten seiner Vorfahren.

Alex Schulman erzählt die Geschichte seiner Großeltern mit Bedacht. Er verurteilt nicht; er versucht zu ergründen. Das hat mir sehr gut gefallen und imponiert mir gleichzeitig, denn es scheint viel einfacher, zu urteilen, als Verständnis aufzubringen.

Ich habe dieses Buch fast in einem Stück gelesen, denn diese Suche hat mich stark gefesselt. Diese vertrackte Ehe hat mich sehr berührt! Da das Geheimnis hier natürlich nicht gelüftet werden darf, kann ich kaum mehr verraten. Nur noch so viel: Lest dieses Buch! Es ist wirklich eine schöne, spannende und berührende Geschichte, die bestimmt mehr als einen Kern Wahrheit enthält.

Bewertung vom 19.10.2022
Die Meerjungfrau von Black Conch
Roffey, Monique

Die Meerjungfrau von Black Conch


gut

Aycaiya, die Meerjungfrau aus längst vergessenen Tagen zeigt sich nach Jahren der Einsamkeit einem jungen Fischer, der seine Lieder über die Weiten des Wasser singt. Die Musik berührt sie, zieht sie an und lässt sie nach Jahrhunderten wieder die Nähe eines Menschen suchen.

Doch das wird zu ihrem Schicksal. Sie wird geangelt. Gekascht, wie es hier heißt. Eine brutale Szene, schwer verletzt und gedemütigt hängt sie an der Mole, wo David, der Fischer sie retten kann.

Ihre Verwandlung setzt ein und damit auch die aufkeimende Liebe zwischen ihr und dem jungen Mann. Eine Liebe, die alles für ihn verändern wird.

Die Autorin greift hier auf alte Legenden der verfluchten Frau zurück. Wegen ihrer Schönheit wurde sie ins Meer getrieben, damit sie den Männer nicht mehr den Kopf verdrehen kann. Der Fluch der Eifersucht lässt sie nie mehr los.

Stilistisch ist das Buch sehr gewöhnungsbedürftig. Geschrieben in alter, archaischer Sprache passt es bestimmt gut zum Lokalkolorit. Die Bewohner auf Black Conch sind einfache Menschen. Bildung stand ihnen kaum zur Verfügung.

Mir hätte das Buch mit grammatikalisch richtigen Sätzen allerdings besser gefallen. Mir war das zu hart und zu urtümlich. Auch die lyrischen Teile der Meerjungfrau konnten mich nicht wirklich überzeugen. Die Bilder, die diese Gedichte heraufbeschwören sollten, haben mich aufgrund der fehlerhaften Sprache nicht wirklich erreicht. Mir gefällt das einfach nicht.

Ich bin mir sicher, dass genau dieser spezielle, eigentümliche Stil für viele Leser*innen die Besonderheit dieses Buches ausmachen wird und ich wünsche dem Buch solche Leser*innen. Die Geschichte an sich fand ich ja gelungen und spannend, aber es lässt sich nicht ändern. Mir hat die Sprache einfach nicht gefallen. Daher vergebe ich 3 Sterne für eine tolle Story, die mich leider stilistisch abgestoßen hat.

Bewertung vom 17.10.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


ausgezeichnet

Vier Jahre sind vergangen in denen Alice kein Wort mit ihrer Zwillingsschwester Hanna gesprochen hat und nun treffen sie sich endlich wieder. Der Anlass ist zwar ein Begräbnis, aber Alice freut sich trotzdem. All zu nah standen sie ihrer Tante Katy ja nicht.

Alice und Hanna sehen sich nicht ähnlich und auch ihre Charaktere sind grundverschieden. Während Hanna die Welt offen steht, ist Alice zurückhaltend, vorsichtig und schüchtern. Ihr fällt es schwer Freundschaften zu schließen. Sie ist immer eine Außenseiterin in der Schule, während Hanna im Mittelpunkt steht.

Doch zuhause ist es umgekehrt. Alice ist das liebe Kind der Mutter und Hanna kann eigentlich nichts richtig machen. Am allermeisten geliebt wird allerdings der große Bruder Michael.

Die Kinder werden extrem dominiert von ihrer verbitterten Mutter, deren wichtigste Eigenschaft die emotionale Kontrolle zu sein scheint. Auch ihre Beziehung zur Schwester wird thematisiert und da kommt tatsächlich auch etwas Mitleid bei mir auf. Doch man muss nicht so werden, wie man erzogen wurde. Man kann nicht alles auf die eigene Kindheit schieben.

Auch Alice wird von Hanna gefragt, wie sie ihre Kindheit empfunden hat und noch als Erwachsene nimmt Alice die Mutter in Schutz. Sie schafft es lange nicht, sich abzunabeln. Diese toxischen Bande lassen alle drei Kinder kaum los und ich fand es spannend zu lesen, wie sich dieser irre Erziehungsstil auf sie als erwachsen werdende Menschen auswirkt. Alle drei gehen ihre Wege, doch alle drei fechten ihre Kämpfe aus. Hanna, das schwarze Schaf" schafft es am schnellsten ihre Bande zu kappen, während Alice wie in einen Spinnennetz zu kleben scheint. Sie fühlt sich immer verantwortlich für das Glück ihrer Mutter.

Mir hat dieses Psychogramm dieser speziellen Familie ausgezeichnet gefallen. Die Autorin zeichnet ein schlüssiges Bild dieser toxischen Mutter und dröselt die Folgen für ihre Kinder auf. Wie mit dem Seziermesser blickt sie unter die Haut. Sämtliche Verletzungen werden offen gelegt und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Ich fand es schön, dass alle Protagonisten zu Wort kommen und sich dadurch ein vielschichtiges Bild ergibt. .

Bewertung vom 13.10.2022
Geschichte eines Kindes
Kim, Anna

Geschichte eines Kindes


sehr gut

Daniel Truttman ist in den 50er Jahren in der Kleinstadt Greenbay geboren und wurde von seiner Mutter dem Sozialdienst übergeben, weil sie ihn nicht behalten wollte. Den Vater will sie nicht preisgeben und verschleiert seine Identität auf diverse Arten. Nur eins soll er angeblich nicht sein, ein Farbiger.

Doch Danny sieht aus wie ein Mischlingskind. Die zuständige Sozialarbeiterin verbeißt sich in die Frage der Rassenbestimmung, als gäbe es nichts Wichtigeres! Sie verhindert sogar eine mögliche Adoption, weil die Identität noch nicht geklärt ist.

Diese Abschnitte lesen wir als Protokolle der Untersuchungen und Befragungen. Im zeitlichen Kontext sind sie wahrscheinlich recht realistisch verfasst, doch für unsere heutigen Sprachgebrauch ist das manchmal echt hart zu verdauen. Es macht einen regelrecht wütend beim Lesen.

Doch die Frage der Herkunft stellt sich nicht nur in der Vergangenheit, denn die Aufdeckerin der Geschichte ist ebenfalls halb europäisch, halb asiatisch. Sie landet zufällig als Untermieterin bei Danny's Frau und man sollte annehmen, gerade sie, die ihr Leben mit einer Person of Color verbracht hat, sollte etwas sensibler damit umgehen. Doch sie beharrt immer wieder auf den Unterschieden. In der Gegenwart ist sie wohl die schlimmste Rassistin.

Zusätzlich zur Rassenthematik stellt die Autorin auch die Mutterschaft infrage. Sämtlich Mütter in diesem Buch haben ihre Kinder verlassen oder in Anwesenheit vernachlässigt. Einzig Danny's Adoptivmutter scheint eine gute Mutter gewesen zu sein.

Die Verbindungen zwischen "dem Kind" und der Ich-Erzählerin sind vielfältig und doch unterscheidet sie einiges. Die Zeit in der sie leben, verbaut nur Danny die Zukunft, doch die fehlende Mutterliebe lässt beide nicht los.

"Geschichte eines Kindes" beleuchtet Rassismus hauptsächlich in historischem Kontext und die Verfehlungen der Vergangenheit sind uns größtenteils bekannt. Daher empfinde ich dieses Buch eher als Beitrag zur Erinnerungskultur. Große Fragen zur Diskussion wirft das Buch eigentlich nicht auf. Nach Sensibilität im Sprachgebrauch muss hier nicht gefragt werden, denn das Drama spielt sich in den 50er Jahren ab und wir alle wissen, welche Begriffe damals gebräuchlich waren.

Dennoch empfehle ich das Buch, denn es ist ein weiterer Beitrag, der deutlich macht, dass es keine Rassen gibt, sonder nur Menschen, die als Menschen wahrgenommen werden wollen!

Bewertung vom 05.10.2022
Kangal
Schentke, Anna Yeliz

Kangal


ausgezeichnet

Dilek ist nach Deutschland geflüchtet, doch sie weiß noch nicht genau, ob sie bleiben möchte. Auch hier fühlt sie sich nicht sicher.

Seit dem Putsch 2016 müssen Systemkritiker um ihre Freiheit fürchten. Ihre Möglichkeiten sind stark begrenzt. Doch Dilek und ihre Freunde lassen sich den Mund nicht verbieten. Als Kangal1210 veröffentlicht sich ihren Widerstand im Internet. Doch eine unterschwellige Bedrohung ist immer zu spüren und immer mehr Menschen verschwinden hinter den Mauern aus Stein.

Eine Freundin wurde bereits verhaftet, ein weitere Freund wartet auf seinen Prozess. Dilek hat Angst und haut ab.

Doch auch in Deutschland kann sie sich nicht sicher fühlen, denn 63% der Türken hier haben für ein System gestimmt, in dem sie ganz bestimmt nicht leben möchten!

In kurzen Kapiteln erzählt uns Dilek ihre Geschichte, ihre Ängste und Sorgen, aber auch ihre Vergangenheit. Es kommen außerdem ihre Cousine und ihre Lebensgefährte zu Wort, die alle einen anderen Blick auf die Situation haben.

Die Autorin spielt mit den Zweifeln der Protagonist*innen und der Leser*innen. Wer ist im Recht, wer reagiert über und wer nimmt die Realität nicht wahr? Wem können wir glauben?

Die unterschwellige Bedrohung ist in jeder Zeile zu spüren. Als Leserin wird mir da Ausmaß der Tragödie noch viel stärker bewusst und ich fühle mich mit Dilek auf der Flucht.

Für mich ist es kaum vorstellbar, seiner freien Meinung beraubt zu sein. Ich finde, Anna Yelitz Schentke hat hier ein wichtiges Buch geschrieben, dass uns zeigt, dass dieser Konflikt auch vor unserer Haustüre lauert.

Bewertung vom 03.10.2022
Das Haus über dem Fjord
Valla, Kristin

Das Haus über dem Fjord


ausgezeichnet

Elin wusste schon als Kind ziemlich genau, was sie wollte und was sie nicht wollte, war von ihrer Mutter wie eine Puppe ausstaffiert zu werden. So endet der Streit über die Anziehsachen damit, dass Elin zuhause bleiben muss. Um allein zu bleiben ist sie natürlich noch nicht alt genug. Also fährt nur der Vater mit den beiden Söhnen zu seinen Eltern und Elin und ihre Mutter bleiben für immer allein zurück.

Diese Tragödie war kaum zu verarbeiten. Nie wieder wird Elin eine Schwester sein. So wächst sie auf, mit einem schweren Schatten auf ihren Schultern. Die Mutter zieht sich immer mehr zurück und Elin lebt später bei ihrer Großmutter in Oslo. Sie wird Journalistin und landet nach einigen Jahren bei großen Zeitungen bei einem Modemagazin als Chefin vom Dienst.

Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Elin in ihren Geburtsort zurück, um das Haus auszuräumen. Dabei entdeckt sie verschiedenste Hinweise, die ihr zu denken geben. So macht sie sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihres Vaters und stößt auf eine Spur, die sich bis nach Frankreich führt.

Das Haus auf dem Fjord ist Elins Elternhaus, das sie liebt, aber nicht behalten möchte, denn die Erinnerungen lasten zu schwer. Sie ist eine Frau, die von ihrem Schicksal gezeichnet ist. Die Schwere der Tragödie hat sie etwas unsicher gemacht, aber eigentlich geht sie ihren Weg ganz unbeirrt. Mir gefällt diese junge Frau. Sie ist nicht perfekt, hat ein großes Herz, ist neugierig und stellt die richtigen Fragen. Und sie entdeckt Erstaunliches!

Gerade dieses Geheimnis hat diese Geschichte noch besser gemacht, aber das kann ich hier natürlich nicht verraten. Ein bisschen Spannung soll schon sein!

Von mir gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung an alle. Das Buch ist interessant, emotional, spannend und überraschend. Der Stil ist einfach und flüssig. Einmal zur Hand genommen, will man es eigentlich nicht mehr weglegen!

Bewertung vom 01.10.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


ausgezeichnet

Die Kriegerin bekommt erst ganz spät im Buch einen Namen, denn das ist es, worauf sie vorerst reduziert wird. Sie ist stark, unverwundbar und macht, was sie will. Zumindest ist es das, was Lisbeth in ihr sieht.

Die Kriegerin ist alles, was Lisbeth nicht ist. Denn Lisbeth ist schwach, wehrt sich nicht, wenn es drauf ankommt und nicht einmal ihre Haut ist eine schützende Barriere zur Umwelt. Immer wieder blüht die Neurodermitis so stark, dass sich Lisbeth blutig kratzt. Immer dann, wenn ihr alles zu viel wird.

So kommt es, dass Lisbeth alles zurücklässt und auf einem Kreuzfahrtschiff anheuert. Wortlos verlässt sie Mann und Kind.

Damit rührt Helene Bukowski an einen Tabuthema. Wie kann eine Mutter ihr Kind verlassen! Doch wenn man Lisbeth unvoreingenommen folgt auf ihrer Reise durch die Welt und ihrer Suche nach Vergebung, dann lernt man eine zutiefst verletzte Frau kennen, der Narben bis in die Kindheit zurückreichen.

Die Kriegerin lernte sie bei der Bundeswehr kennen, doch auch diesen Weg konnte sie nicht zu Ende gehen. Aber eine Verbindung blieb, denn Lisbeth träumt die Träume ihrer Freundin. Auch die Geschichte der Kriegerin birgt einige Brüche und sie trägt schwer an ihrem Schicksal.

Wie bereits mit ihrem Debüt "Milchzähne" überzeugt Helen Bukowski auch hier mit einem intensiven Leseerlebnis. Ihre direkte, schnörkellose Sprache vermittelt die Härte des Alltags ihrer Protagonistinnen ungeschönt und erzeugt einen Lesesog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Die Autorin hat mich quasi an der Hand gepackt und führt mich in rasantem Tempo durch diese beiden Leben, öffnet mir die Augen für Verletzlichkeit und zeigt mir, wie wichtig es ist, sich selbst zu vergeben.

Eine großartige Geschichte über zwei eigenwillige Frauen, die einen unüblichen Weg gehen!

Bewertung vom 22.09.2022
Der betrunkene Berg
Steinfest, Heinrich

Der betrunkene Berg


ausgezeichnet

Auf irgendeinem Berg mit Kogel im Namen hat sich Katharina ihr Refugium geschaffen; die höchste Buchhandlung der Welt, als Anbau einer Schutzhütte.

Und Katharina liebt ihren kleinen Laden mit noch kleinerer Wohnung hinten dran. Sie verbringt sogar den Winter einsam auf ihrem Berg.

Doch in diesem Jahr ist alles anders, denn Katharina findet auf dem Weg zum Gipfel einen Mann im Schnee. Eingerollt liegt er in einer Mulde. Seine Kleidung ist viel zu dünn, seine Schuhe nicht wirklich tauglich und seine Lider sind fast schon zugefroren. Doch er lebt und taut auch langsam auf. Katharina nimmt ihn mit in ihr Reich, gibt ihm einen Namen und lässt ihn langsam wieder zu sich kommen.

Erinnerung um Erinnerung steigt in ihm auf. Erst erinnern sich seine Hände, beim Kochen der Mahlzeiten oder beim bauen von Schneeskulpturen, doch langsam beginnt auch sein Kopf wieder zu erahnen, wer er mal war und was er hinter sich gelassen hatte. Nur warum er sich auf dem Berg eingefunden hatte, will sich nicht einstellen.

Auch Katharina hat ein Geheimnis und so verbindet die beiden mehr als sie ahnen. Beide haben Schuld auf sich geladen, beiden hat das Schicksal übel mitgespielt, doch wie es zu diesen Enthüllungen kommt, wird hier nicht verraten. Nur noch so viel: Steinfest hat hier eine spannende, etwas schräge Geschichte geschrieben, die großartig unterhält. Sprachgewandt erzählt er uns, wie der betrunkene Berg das Leben seiner Bewohner lenkt. Und wer jetzt wissen möchte, wie ein Berg betrunken sein kann, der sollte unbedingt das Buch lesen! Der Titel wird ausreichend erläutert.

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Bewertung vom 07.09.2022
Das Glück auf der letzten Seite
Bonidan, Cathy

Das Glück auf der letzten Seite


ausgezeichnet

Anne-Lise kann nicht gut einschlafen, ohne vorher ein paar Seiten gelesen zu haben. Auf der Suche nach Lektüre öffnet sie den Nachttisch in ihrem Hotelzimmer und siehe da, sie findet ein Manuskript, das jemand da vergessen haben musste.

Voller Begeisterung liest sie die maschinengeschriebenen Seiten und entdeckt irgendwo in der Mitte tatsächlich eine Adresse. Sie überlegt nicht lange und schickt das Manuskript mit einigen Zeilen zu seinem Besitzer zurück.

Dieser hatte sein unfertiges Buch allerdings vor 30 Jahren verloren! Und was noch mysteriöser ist: Jemand hat es fertig geschrieben.

Aus dieser kuriosen Tatsache entwickelt sich ein Briefwechsel und eine Dedektivgeschichte, die den Weg des Manuskripts rückwärts nachvollziehen wird.

Diese Spurensuche führt zu interessanten Begegnungen mit den verschiedensten Menschen, die das Manuskript auf diverse Arten berührt hat und manchmal zu lebensverändernden Entscheidungen geführt hat. Vergessen hat diese Geschichte niemand.

Und so schreiben sich alle Beteiligten Briefe in deren Zentrum Anne-Lise steht, die Initiatorin der Suche. Es scheint, dass diese altmodische Art zu kommunizieren, die Menschen einander viel näher bringt, als e-mails das jemals könnten. Die Worte werden bedächtiger gewählt und die Menschen geben offener Einblick in ihre Erfahrungen. Es sind Briefe, "die Klarheit ins Denken bringen und den Geist freimachen". (S. 265)

Mir hat es großen Spaß gemacht, dieser Reise zu folgen. Ich war skeptisch, denn um Briefromane habe ich bisher einen großen Bogen gemacht. Aber der Autorin ist es hervorragend gelungen, mich bei Laune zu halten. Die Briefe sind ansprechend, interessant und sorgen immer wieder Mal für Lacher mit feinsinnigem Humor.

Cathy Bonidan konnte mich wirklich begeistern mit diesem warmherzigen Roman. Ich empfehle es allen, die einfach ein schönes Buch lesen wollen, das ohne Kitsch auskommt. Es ist ein Buch für die kalten Tage, denn es zaubert den Leser*innen ein warmes Lächeln ins Gesicht!