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fraedherike

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Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 08.05.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


gut

"Wenn ich gute Butter esse, habe ich das Gefühl zu fallen. Ich werde nicht hinaufgewirbelt oder in die Höhe getragen, sondern ich falle. Sacht, wie man in einem Aufzug eine Etage tiefer sinkt. Mein ganzer Körper fällt, von der Zungenspitze an." (S. 34)

Butter (mittelhochdeutsch buter, althochdeutsch butera) ist ein meist aus dem Rahm von Milch hergestelltes Streichfett - und für die Köchin Manako Kajii der höchste aller Genüsse. Doch schon lange ist sie nicht mehr nur für die Rezepte und Restaurantbewertungen auf ihrem Blog "Kajiimama" bekannt: Sie sitzt im Gefängnis. Anklagepunkt: Mord in vier Fällen. Sie soll Männer mit ihren Kochkünsten verführt und anschließend umgebracht haebn. Die junge Journalistin Rika Machida ist fasziniert von den "Verführungsmorden" und beginnt zu recherchieren, denn sie möchte ein Exklusivinterview mit ihr führen - und vielleicht endlich die erste Frau sein, die einen Text in ihrer Zeitung veröffentlicht. Lange bemüht sich um einen Besuchstermin und als Manako schließlich zusagt, ist ihre Freude groß. Aber sie hat eine Bedingung: Sie würden nur über ihre Kochkünste reden. Was Rika nicht ahnt: Mit jeder Aufgabe, die Manako ihr stellt, mit jedem Gericht, dass sie ihr aufträgt, nachzukochen, um sich dessen Geschmack detailliert beschreiben zu lassen, schärfen sich nicht nur ihre Sinne für außergewöhnliche Genüsse, nein, ihr komplettes Arbeitsumfeld und ihr Privatleben, insbesondere die Beziehungen zu ihrer besten Freundin Reiko und ihrem Geliebten Makoto, drohen unter ihrer inneren und äußerlichen Veränderung zu zerbrechen. Und das nur, weil sie dem Zauber Manakos immer mehr erliegt. Kann sie sich von den Fesseln befreien?

Stünde nicht klein "Roman" über dem Titel, könnte man meinen, man halte eine Familienpackung Butter im Retrodesign in der Hand. Und liegt damit gar nicht mal so verkehrt, denn darum geht es in Asako Yuzukis Roman "BUTTER" (OT: バター, Batā, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe) allemal: die Butter in all ihren Erscheinungsformen und Bedeutungen, im physischen wie im übertragenen Sinne. Sie ist nicht nur Geschmacksträger, Basis jeglicher kulinarischer Exzesse, sondern steht auch für die wirtschaftliche Situation eines Landes, in der es immer weniger Milchbauern gibt und in Folge dessen zu Lieferengpässen; für Maßlosigkeit und mangelnde Selbstdisziplin; für Wohlstand und Leidenschaftlichkeit.

Eindrücklich beschreibt die Autorin die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur Japans, in der das Patriachart im privaten und öffentlichen Raum den Ton angibt. Anhand verschiedenster Situationen, vor allem aber der offensichtlichen Veränderungen Rikas durch ihre neuen Essgewohnheiten sowie ihrer sich sehnlichst ein Kind wünschenden Freundin Reiko deutlich, wie konservativ und oberflächlich die Traditionen und Wertevorstellungen doch noch sind: Es gilt, den Männern den Vortritt zu lassen, der allgemeinen Norm zu entsprechen, dünn zu sein, denn alles andere würde mangelnde Selbstbeherrschung bedeuten. Rika muss schmerzhaft lernen, dass ihr Äußeres Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Beziehungen hat. Und: dass sie abhängig geworden ist von Manako, jedem Wort von ihr blind Folge leistete, ohne den Sinn und Zweck zu hinterfragen. Von ihr, die das Bild der konservativen, heimeligen Frau (und Mutter) auskleidet. Denn Rika wollte unbedingt einen eigenen Artikel veröffentlichen, sie wollte herausstechen, denn sie hat den Willen und die naive Chuzpe, dass sie es schaffen kann.

Teilte man den Roman in Vorspeise, Hauptgang und Nachspeise auf, wäre ersteres wohl mein Favorit. Das erste Drittel des Romans gefiel mir unglaublich gut, all die Beschreibungen des Essens, das Zusammenspiel und die Beziehungsgefüge der einzelnen Charaktere, das war wie das Gleiten durch Butter. Doch allmählich merkte ich, dass ich Butter doch eigentlich gar nicht so gerne mag: Das wiederholte Aufkommen von Fatshaming und insbesondere die mit Essstörungen assoziierten Beschreibungen waren grenzwertig, die Passagen wurden immer

Bewertung vom 27.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


gut

Seit nun mehr zwanzig Jahren arbeitet Friederike Andermann für das deutsche Konsulat. Ihr Ehrgeiz, Pragmatismus und die ihr ganz eigene, unerschütterlichen Ruhe zeichnen sie aus, auch wenn Einsätze in der Vergangenheit nicht spurlos an ihr vorübergegangen sind. Und dennoch: Nach außen hin strahlt sie Verlässlichkeit und Souveränität aus. Doch dann kam Montevideo. Eine Fehleinschätzung mit Folgen, ihre Fassade reißt und sie wird zurück in die Berliner Zentrale des Krisenreaktionszentrums versetzt. Nach einem Jahr trister Büroarbeit erhält sie eine neue Chance: Istanbul. Es verspricht ihre bislang größte Herausforderung zu werden, denn das Land ist politisch aufgeheizt, ihr Stolz noch immer angeschlagen und die Einsamkeit lässt ihre Zweifel, aber auch ihr Verlangen nach körperlicher Nähe umso lauter hallen. Sie beginnt, intuitiv zu handeln, Kopf aus, Herz voran.

"Ich wollte in aller Unschuld noch einmal von vorn beginnen, wollte keine Angst kennen, keine Zweifel, keine Lügen. Ich wollte in diese Welt geworfen werden und nirgendwo aufschlagen." (S. 103)

In ihrem neuen Roman „Die Diplomatin“ erzählt Lucy Fricke lakonisch und voll trockenem Humor, oftmals aber auch zart, vulnerabel und mit leisen Tönen, welche Kämpfe die 40-jährige Fred in ihrer Rolle als Diplomatin täglich ausfechten muss – nicht nur beruflich, auch privat. Eindrucksvoll arbeitet sie die zwei Seiten der Protagonistin heraus: Da ist die kämpferische, unerschrockene Fred, stets engagiert und voll deutscher Arbeitsamkeit, kurzum: toughe Karrierefrau. Und da ist aber auch die zarte Fred, die an PTBS leidet, seit sie in Afghanistan stationiert war, die sich einsam fühlt, die Nähe eines anderen Menschen vermisst und stets von ihren Kollegen und deren Ehefrauen vorgeführt bekommt, wie schön das Leben als Familie ist. Etwas, das sie in ihrer Kindheit nur bedingt zu spüren bekommen hat, war ihre Mutter alleinerziehend und kaum daheim, musste sie sich und ihre Tochter schließlich irgendwie ernähren, am Leben halten. Nun ist ihre Familie das Personal im Konsulat – doch auch sie sind nur freundlich, weil sie dafür bezahlt werden. Noch immer denkt sie an die Beziehung, in die sie den Glauben verlor, ach, was wäre, wenn. Durch all die Schichten – die harte Schale, den weichen Kern – wird Fred nahbar, unglaublich sympathisch und in ihrer Bissigkeit bewundernswert; eine meiner liebsten Protagonistinnen seit langem (und das liegt nicht nur an dem fast gleichen Namen).

Doch nicht nur die interpersonelle Ebene, auch das Abstrakte, die Einbindung in das politische Weltgeschehen und die Rolle Freds darin bedient Lucy Fricke geschickt: Kritisch beschreibt sie Szenen bar jeder Menschlichkeit, Korruption und Bestechlichkeit, die Härte politischer Systeme, in denen die freie Meinungsäußerung keine Selbstverständlichkeit ist. Ein Tanz zwischen Ohnmacht und Hilflosigkeit. Aber auch die scheinbare brückenschlagende Rolle, die Fred innehat, ist manchmal auch nur Schein, denn sie war eine von denen mit „den freundlichen Lügen, die nur das glaubten, was [sie] nicht sagten“ (vgl S. 80). In einem System, in dem der kleinste Fehler zum Verhängnis werden kann.

Der Roman war für mich ein Wechselbad der Gefühle. Während die erste Hälfte des Romans mich in all den Aspekten menschlichen Abgründe und politischer Diskrepanzen gefesselt hat, verlor mich die zweite Hälfte relativ bald. Zwar gab es immer wieder Szenen, die mich schmunzeln ließen, aber auch sie trösteten mich nicht darüber hinweg, dass alles nur noch zu schweben schien, während ich auf dem Boden lag. Doch nichtsdestotrotz habe ich Friederike ungemein ins Herz geschlossen, sie bleibt.

Bewertung vom 11.03.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Dreißig Jahre lang arbeitet Hüseyin, dreißig harte Jahre arbeitet er dafür, seiner Familie in Deutschland ein gutes, ja, ein besseres Leben zu ermöglichen, nachdem sie Anfang der 70er Jahre aus der Türkei kamen. Und nach diesen dreißig langen Jahren erfüllt er sich endlich einen lange gehegten Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Doch kaum dass er das erste Mal die Aussicht genossen, den Duft frischer Farbe eingesogen hat, sticht es in seiner Brust, es zieht im Arm. Herzinfarkt. Als sie die Nachricht seines Todes erreicht, reist seine Familie sofort aus Deutschland nach, um sich von ihrem Vater und Ehemann zu verabschieden. Aber nicht nur der Tod ihres Baba liegt ihnen schwer auf dem Herzen: Sie alle haben ihre Geschichte, Ängste und Sorgen, Wünsche und Wunden, die wieder aufzureißen drohen.

In ihrem zweiten Roman „Dschinns“ entwirft Fatma Aydemir das schmerzhafte Panorama einer kurdischen Einwandererfamilie der ersten Generation, deren Mitglieder sich über die Jahre voneinander entfernt haben, sich fremd zu sein scheinen. Das einzige, was sie für den Moment zu verbinden scheint, ist die Trauer um den Verstorbenen, das Blut, das sie eint, doch da ist so viel mehr. Jedes der vier Kinder und auch ihre Mutter Emine hat seine eigene Geschichte zu erzählen, die von den jeweiligen Migrationserfahrungen geprägt ist. Sie alle haben einen unterschiedlichen Stand in der Welt, aber ihre Suche nach Halt, nach einem Ort, an dem sie sich verstanden fühlen, vielleicht sogar Heimat nennen können, und das Gefühl der Einsamkeit einen sie. Doch Einsamkeit hat viele unterschiedliche Facetten, für die eine bedeutet sie Stärke, für den anderen Schmerz. Vor der Welt und den Augen anderer versteckt, sind es die Dschinns, geisterähnliche Wesen, die mit und unter uns wandeln, über die aber nicht gesprochen werden darf, die einen Blick auf die dunklen Erinnerungen und Erfahrungen erhaschen, auf die Dinge, die unsichtbar bleiben, weil sie versteckt, verdrängt werden: Ümits Suche nach seiner Sexualität und dem damit verbundenen Schmerz, der in Scham resultiert; Sevdas Streben nach Unabhängigkeit und Anerkennung; Perihans Frage nach ihrer Herkunft, die vom Schweigen ihrer Eltern übergangen wird; und das Geheimnis Emines, das ihrer aller Leben unbewusst beeinflussen sollte, ein vererbtes Trauma.

Es ist beeindruckend, mit welcher Emotionalität, mit wie viel sprachlicher Feinheit Fatma Aydemir die jeweiligen Geschichten sich entfalten lässt, dabei aber dem Ungesagten, den blinden Flecken den Raum zwischen den Zeilen lässt, um mit dumpfer Gewalt das Herz zu befallen. Jedem Protagonisten ist eine ganz eigene, besondere Atmosphäre inne, die sprachliche Gestaltung, das emotionale Gerüst und der Inhalt der persönlichen Erinnerungen stehen für sich und könnten durchaus auch als Kurzgeschichte funktionieren. Noch jetzt, Wochen, nachdem ich das Buch gelesen habe, bekomme ich noch Gänsehaut, wenn ich an die Familie Yilmaz denke, an jedes einzelne Schicksal, wobei mir besonders Ümit und Perihan enorm ans Herz gewachsen sind. Wie wäre es denn mit einem Spin Off, zwanzig Jahre später? Dieses Buch hat mich Tränen gekostet, meine Atmung stocken lassen und mein Herz zum Schlagen gebracht, und es bleibt. Für immer in meinem Herz, unwiederruflich. Ich habe keine Worte.

Bewertung vom 08.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Schon als junges Mädchen war Mélanie fasziniert von den Reality Shows im Fernsehen und fieberte allabendlich gemeinsam mit ihrer Familie vor dem Bildschirm mit, wer gewinnen würde – und schon damals wusste sie: das will ich auch. Berühmt, überall erkannt werden. Doch noch viel eher: Geliebt werden. Jahre später hat sie sich diesen Traum erfüllt: Nach der Geburt ihrer zwei Kinder Sammy und Kimmy gründet sie nach Vorbild zahlreicher Youtuber den Kanal „Happy Recré“, der schon kurz nach der Veröffentlichung der ersten Videos mehrere Millionen Follower hat. Beinahe täglich postet sie Videos aus ihrem Familienalltag, teilt jeden Schritt, jedes Wort ihrer Kinder mit der ganzen Welt. Drei Jahre besteht der Kanal schon, alle Menschen lieben ihre Challenges, die Unboxings, diese ach so glückliche Vorzeigefamilie – doch irgendwas stimmt nicht. Kimmy wirkt in sich gekehrt, abweisend, scheint keine Lust mehr zu haben, auf Knopfdruck in die Kamera zu lächeln und ihren Followern Schmuseküsse zu schicken. Bestimmt nur eine Phase, die vorüber geht, denkt sich Mélanie, warum sollte ihr all das keinen Spaß mehr machen bei all der Liebe, die sie bekommt? Kurze Zeit später verschwindet Kimmy spurlos. Und die Suche nach Verdächtigen erweist sich für die ermittelnde Polizeibeamtin Clara als ein scheinbar undurchdringbares Netz in der digitalisierten Welt.

In ihrem Roman "Die Kinder sind Könige" (OT: Les enfants sont rois, aus dem Französischen von Doris Heinemann) zeigt Delphine de Vigan eindringlich, inwiefern und mit welchen Folgen (kleine) Kinder im Internet, speziell in den sozialen Medien zu Konsumzwecken von ihren Eltern zur Schau gestellt, ausgebeutet werden, ohne jemals ein Mitspracherecht zu haben, nein: Sie müssen funktionieren, zu jeder Tag- und Nachtzeit lächeln, perfekt sein. Erniedrigt und bloßgestellt trifft es in manchen Fällen vielleicht eher. Sind es all die Likes, die digitale Liebe und die Umsätze in Millionen, die durch minutiös gescriptete Stories, Unboxings oder den Verkauf von Merchandising generiert werden, wert, seine Kinder zu Marionetten zu degradieren, sie durch die frühe mediale Präsenz krank zu machen, ihnen jegliches Mitspracherecht untersagt?
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Mit der Spannung eines Krimis, der detaillierten Nüchternheit eines wissenschaftlichen Artikels und der liebevollen Zeichnung eines Romans beschreibt die Autorin ausgehend der Kindheit der beiden Protagonistinnen Mélanie und Clara, wie ihre von Grund auf unterschiedliche Erziehung und Kindheit ihre späteren Lebenswege prägen würde, es die eine in die Öffentlichkeit zieht, während die andere sich im Hintergrund hält. Allmählich erhält man einen Eindruck, aus welchen Gründen Mélanie sich dazu entschloss, Videos ihrer Kinder auf YouTube zu posten, immer öfter, immer professioneller – bis ihr Mann Bruno schließlich sogar seinen Job kündigt, weil die Produktion zunehmend zeitaufwändiger und die Verträge mit ihren Werbepartnern immer ertragreicher werden. All die Likes und die bewundernden Kommentare geben ihr die Anerkennung, ja, Liebe, wenn man so mag, nach der es sie seit ihrer Kindheit verlangte, ihr aber nie zuteilwurde. Doch die Bekanntheit hat auch ihre Schattenseiten: Die Stimmen ihrer Neider werden immer lauter, und die öffentliche Kritik an der „Kinderarbeit“ wächst, erste Gesetzesentwürfe zum Schutz der „kleinen Stars“ warten auf die Verabschiedung. Für die Polizistin Clara ist es eine völlig neue Welt, die sie im Rahmen der Recherchearbeit im Fall Kimmy entdeckt – und was sie über die Hintergründe des Geschäfts mit den sozialen Medien herausfindet, ist gleichermaßen faszinierend wie erschreckend. Ebenso wie die Folgen des frühen Ruhms, die viele Jahre nach Abschluss des Falls am späteren Leben der einstigen Kinderstars ersichtlich werden.
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Selten hat mich eine Geschichte so viel mit mir gemacht wie „Die Kinder sind Könige“. Ich war regelrecht beklommen ob der Beschreibungen des Verhaltens Mélanies, die letztlich nicht mehr als ein realistisches Abbild dessen si

Bewertung vom 23.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


ausgezeichnet

"Alles könnte ich erzählen. Über Krimmwing und die Menschen. Die Schmerzen, die sie einem zufügen. Dass es keinen Unterschied macht, was man gehört hat, was die Leute sagen oder wie sehr man sich bemüht. Die Übung besteht darin, sich nicht in Nebensätzen zu verirren." (S. 7)

Es war einmal ein kleines Dorf in Österreich, das hieß Krimmwing. In Krimmwing kennt jeder jeden und jeder jedermans Angelegenheiten, denn die Menschen, die dort wohnen, sehen alles, sie reden und tratschen tagein, tagaus. Alles, was von der Norm, wie sie sie kennen, abweicht, wird von ihnen verurteilt; und entsprechend schwer haben es die, die anders sind.
Da ist etwa Lorenz Karl Ignatius Rathbauer, kurz El-Kah-Ih, der, als er zwölf Jahre alt war, feststellte, das er anders ist als alles ihm Bekannte. Er liebt es, sich vor dem Spiegel zu betrachten, der ihm eine Alternative aufzeigt: langes braunes Haar, rot bemalte Lippen. Und er hat einen Traum: Italien. Für immer weg aus Krimmwing und glücklich werden, der Mensch sein, der er in seinem Innersten ist. In ihrem Innersten ist auch Liesl ein ganz wunderbarer Mensch, doch wie die Leute nun sind, beurteilen sie erst das Äußere. Auch die junge Rosa hat es nicht leicht, ledig und alleinerziehende Mutter eines Kindes mit dunkler Hautfarbe. Der kleine Seppi versteht all die Aufregung nicht, die seineswegen gemacht wird, und er leidet: weil sein Vater in einfach zurückgelassen hat, zurück nach Südafrika gegangen ist; weil die Menschen über ihn reden, ihn ausgrenzen. Er sieht nur einen Weg, alldem ein Ende zu setzen. Und dafür braucht er nur ein Seil und einen Apfelbaum. Hat natürlich auch niemand gesehen, auch nicht geahnt. Aber auch Jahre später hat niemand in Krimmwing vergessen, was auf dem Kirschkernhügel passierte. Umso unangenehmer ist es für die Gemeinde, als Peter Dohringer, der kleine Seppi, nach Jahren wieder zurückkehrt.

"Es sind die kleinen Verbrechen an der Seele, die die inneren Blutungen ausmachen." (S. 11)

In ihrem Romandebüt "Die dritte Hälfte eines Lebens" skizziert Anna Herzig bildgewaltig und fragmentarisch, mit welch harten Worten und Handlungen die fiktive Krimmwinger Dorfgemeinde Menschen anderer Hautfarbe, sexueller Identität, gesellschaftlichen Standes oder eines anderen Phänotypen diskriminiert und ausschließt. Ihr sprachlicher Stil ist außergewöhnlich, sehr kantig und nüchtern, ohne jede Wertung; vielmehr lässt sie Worte ihre Wirkung zwischen den Zeilen entfalten - und die schlagen zu wie eine Faust. Ihre Protagonist*innen sind allesamt unglaublich liebenswert und sehr fein gezeichnet, und ich hatte sie alle direkt vor Augen - die Person an sich und ihr Leiden, die Angst, die sie ausstrahlen. Vieles bleibt vage, wird nicht bis zur Gänze ausgeführt, aber das passte hier stilistisch sehr gut und muss auch gar nicht sein. Haben wir nicht alle schon solche Situationen erlebt oder davon gelesen, wie oft wird in den Medien von Rassismus, diskriminierendem oder ausgrenzendem Verhalten, Gewalt gegenüber Minderheiten berichtet. Eindeutig zu oft.

So ist "Die dritte Hälfte eines Lebens" eine fulminante Gesellschaftskritik, die mit leisen Tönen und wenigen Worten, aber voller Dynamik so vieles ausdrückt, ein offener Appell, neu zu denken und sich und seine Gedanken zu öffnen. Eindrucksvoll und eine ganz große Empfehlung!

Bewertung vom 22.02.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


ausgezeichnet

In ihrem Roman „Unser wirkliches Leben“ (OT: A Very Nice Girl, aus dem Englischen von Sandra Voss) erzählt Imogen Crimp die Geschichte der 24-jährigen Anna, die als Sängerin in einer Bar arbeitet, um über die Runden zu kommen, wenigstens die Miete und Unterhalt zahlen zu können. Eines Abends lernt sie den um einige Jahre älteren Max dort kennen, Businessmann durch und durch; Geld spielt für ihn keine Rolle. Er lädt sie ein, in sein Leben zu gucken, führt sie in teure Restaurants und Hotels aus, kauft ihr Kleidung – und gewinnt sie ganz für sich. Sie ist verliebt, alles ist wunderbar, doch langsam häufen sich die Hinweise, dass er sie nur benutzt und es nicht ernst mit ihr zu meinen scheint. Aber sich das einzugestehen, erforderte einiges an Chuzpe, denn sie ist abhängig von ihm, finanziell wie emotional. Es ist ein toxischer Teufelskreis. Doch sie will weg, sie muss weg, es gibt keinen anderen Weg.
Es ist eine Geschichte über Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und die fatalen Folgen der sozialen Medien, in der jede*r sein kann, was er*sie will – oftmals nur nicht man selbst. Es ist eine digitale Masquerade, in der naive Menschen wie Anna nur verlieren können. Sie glaubt Max alles, gibt sich ihm voll und ganz hin und versinkt in einem toxischen Sumpft aus Machtmissbrauch und Unterordnung, ein klassischer Klassenkampf.
Die Art und Weise, wie Imogen Crimp ihre Charaktere zeichnet, sie aufeinander treffen lässt, hat mir gut gefallen, ich konnte mich in einigen Zügen auch mit Anna identifizieren. Teilweise verzweifelt ich ob der naiven Handlungsweise der Protagonistin, ich wollte schreien, sie zurückrufen, es war ein innerer Kampf. Der Schreibstil hat mir gut gefallen, der Wechsel aus nüchtern-klassischer Betrachtung und frechem, jungen Sprachgebrauch war sehr eingängig und lustig.
Ein sehr spannendes und wirklich tollen Romandebüt mit einigen Schwächen, aber rundherum unterhaltsam!

Bewertung vom 16.02.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


ausgezeichnet

„Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung. (...) Ich bilde mir ein, über eine Geschichte zu schreiben, die nicht meine eigene ist. Zu schreiben, damit ich herausfinde, warum sie mich berührt.“ (S. 89f)

Als sie nach einer Lesung von einer Fremden angesprochen wird, die behauptet, ihre Schwester zu sein, wird die Frau von Emotionen überrollt: Zunächst ist da eine unbekannte Freude ob des „neuen“ Familienmitglieds, aber auch große Irritation über plötzliches, unvermitteltes Auftauchen, später sogar Angst, Unsicherheit, ja, Ärger. Die Begegnung, so flüchtig sie auch war, lässt sie ihr Leben, alles, was sie über ihre Familie und das Leben an sich zu wissen glaubte, hinterfragen: die matriarchalen Entwicklungen im Kontext der deutschen Geschichte, die Beständigkeit ihrer Ehe, die Wahrheit.

"Nie weiß man genau, in welcher Gegenwart man lebt. Manchmal sind wir lange Zeit in Gedanken woanders, bei Menschen und Geschehnissen aus einer anderen Zeit, anderen Räumen." (S. 187)

In „Das Vorkommnis“, dem ersten Band des autofiktionalen Erzählzyklus‘ „Biographie einer Frau“, beschreibt Julia Schoch mitreißend und sehr persönlich, welche Auswirkungen das unvermittelte Aufeinandertreffen mit ihrer Halbschwester auf ihr Leben hat, wie sie ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft in Frage zu stellen beginnt. Zunächst versucht sie, die Begegnung zu verdrängen, ist froh darüber, wegen ihres halbjährigen Lehrauftrags in die USA zumindest räumliche Distanz zu schaffen – doch die Gedanken bleiben und wecken immer wieder die Geister der Vergangenheit. Sie ist getrieben von der Frage, was eine Mutter dazu bewegt, ihr Kind – im Speziellen: ihre Halbschwester – zur Adoption freizugeben, ersucht sich Rat bei ihrer „richtigen“, älteren Schwester, doch ihre Beziehung ist seit einem Vorfall distanziert und kühl, nicht einmal diese schicksalhafte Fügung bringt sie einander näher.

Doch das ist nicht das Einzige, was sie beschäftigt. Insbesondere die Rollen der Frauen ihrer Familie geben ihr keine Ruhe: So reflektiert sie ihre eigene Mutterschaft, die Phasen des Abstillens, der neuen Unabhängigkeit und die Leere, die es hinterlässt, ihre Beziehung zu ihren Kindern, aber auch das Leben ihrer Mutter, die sie in die USA begleitet hat. Sie scheint ihr Leben lang immer zurückgesteckt, keine Pause gehabt zu haben, und blüht mit dem Alter und seinen neuen Freiheiten – vielleicht auch der Distanz zu ihrem Mann – endlich auf. Geht es ihr selbst denn nicht genauso? Denkt sie nicht schon seit langem darüber nach, sich von ihrem Mann zu trennen; hatte sie nicht schon einen Zettel in ihrem Portemonnaie mit eben diesen Zeilen? Und was macht eine Familie eigentlich aus, was hält zusammen? Und immer wieder die Gedanken an ihre Halbschwester und deren Herkunft, die sie nicht loslassen.

Die Art und Weise, wie Julia Schoch sich den Fragen nach ihrem Leben, der Rolle der Frau und der alles umfassenden Wahrheit nähert, ist bemerkenswert: Ihre kurzen Anekdoten und Sinneseindrücke geben Raum und fordern dazu auf, über das Gelesene zu reflektieren, Parallelen oder Gegensätze zum eigenen Leben und Erleben zu finden. Sie wechselt immer wieder von einer sehr intimen, nachdenklichen Perspektive auf eine erhabenere Metaebene, distanziert sich, sucht Schutz hinter „geschlossenen Türen“, wie sie es öfters beschreibt – sowohl in der Sprache als auch in ihren Handlungen. Ein Gedanke baut auf den nächsten auf, und so folgt die Erzählung keiner starren Linie, es ist vielmehr ein intuitives, natürliches Spiel der Gedanken. Doch wie verlässlich unsere Erinnerungen sind, wie viel daran Wahrheit oder Fantasie, lässt sich im Rückblick oft nicht sagen. Was ich aber sicher weiß: Dieses Buch hat etwas mit mir gemacht, das ich nicht in Worte fassen kann. Es ist nicht einmal so, dass ich ihr in all ihren Gedanken und Fragen, die sie in den Raum stellt, zustimme, nein, vielmehr ist es di

Bewertung vom 14.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


ausgezeichnet

„Was für ein Abend, denkt Ivy. Winnies Auftritt, ja, aber auch die Menschen, die unverhofften Begegnungen, die sie nicht wieder vergessen wird.“ (S. 250)

Ein Abend im Theater, eine Alltagsflucht, ein Aufatmen ob der Feuer im Australischen Outback, dessen Rauchschwaden die Luft allmählich schwängern – aber davon sind die Besucher der Aufführung von Samuel Becketts „Glückliche Tage“, insbesondere die drei Frauen Margot, Ivy und Summer scheinbar weit entfernt. Während sich die Hauptfigur Winnie auf der Bühne im Stadium der Auflösung befindet, werden sie immer wieder von ihren Gedanken überwältigt: Margot, eine Literaturprofessorin, hadert mit dem nahenden Ende ihrer Lehrzeit und ihrem dementen Ehemann John, den sie über alles liebt, sowie der Beziehung zu ihrem Sohn und dessen Frau, einer wahren „Übermutter“; Ivy hingegen, Margots ehemalige Studentin und Kunstmäzenin, pendelt zwischen dem Trauma ihrer Fehlgeburt vor fast zwanzig Jahren und dem Glück, just Mutter eines gesunden Kindes geworden zu sein; Summer arbeitet als Platzanweiserin in dem Theater, doch lauter als die Stimmen der Schauspieler auf der Bühne sind das innere Pochen ihrer Angststörungen, die Sorge um ihre Freundin April, dessen Elternhaus von den Buschfeuern bedroht wird – und die Frage nach ihrer wahren Identität. In der Pause zwischen den Akten treffen sie aufeinander; eine Begegnung, die ihr Denken und ihren Blick auf die Welt verändern soll.

In ihrem Roman „Die Feuer“ (OT: The Performance, aus dem Englischen von Eva Bonné) lässt Claire Thomas unglaublich durchdacht und wunderbar konstruiert das innere und äußere Schauspiel miteinander verschmelzen: die Intimität und Härte der Gedankenwelt der drei Frauen, die sich an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens befinden, und den allmählichen Zusammenbruch Winnies.

Entgegen der Bewegungsunfähigkeit der Charaktere – sitzen sie schließlich auf ihren Stühlen im Vorstellungsraum – sind ihre inneren Monologe lebendig und einnehmend, ein Gedanke folgt auf den nächsten, sie bedingen einander gegenseitig und wandern immer tiefer und tiefer – bis ein plötzliches Geräusch auf der Bühne oder eine Aussage der Schauspielerin sie mit einem Knall wieder in die Gegenwart katapultiert. Elegant und durchdacht platziert Thomas Teile der Erzählung des Theaterstücks, um den inneren Monolog der Frauen zu unterbrechen und zu beeinflussen, sie zu den existenziellen Fragen des Lebens kommen lässt: Wer bin ich, wie lange halte ich dieses Leben, das ich führe, noch aus, bis ich daran zerbreche?

Es ist wirklich genial, wie feinfühlig Thomas in die Gefühle ihrer Protagonistinnen blicken lässt, wie sie ihren Ängsten, Sorgen und ihrer Unentschlossenheit Worte verleiht. Sie behandelt dabei eine Fülle an Themen, die gesellschaftlich aktueller denn je sind, seien es häusliche Gewalt, psychische und degenerative Erkrankungen, Mutterschaft zu verschiedenen Zeitpunkten des Lebens, stiller Rassismus und die Frage nach Herkunft und Identität sowie die Auswirkungen und Folgen des Klimawandels. Die Erzählung wirkt zu keinem Zeitpunkt überladen, vielmehr flicht sie die Themen sanft und fließend in die jeweilige Lebenswelt der Frauen ein und macht sie so nahbar, greifbar, ja, erlebbar – bis sich letztlich alle miteinander verbinden.

Claire Thomas hat mit „Die Feuer“ einen großartigen, stilistisch außergewöhnlichen Roman geschrieben, der zum Denken anregt – über sich selbst und sein Leben, die Vergangenheit und die mögliche Zukunft – und darauf aufmerksam macht, wie fragil die Welt ist, in der wir leben. Ein wahres Meisterstück!

Bewertung vom 14.02.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

"Sie ist da. Angst. Jeden Tag ist eine Möglichkeit, es zu versauen, jede Entscheidung, jedes Meeting. Es gibt keinen Erfolg, nur das vorläufige Abwenden des Versagens. Angst. Vom Vibrieren und Klingeln meines Weckers, bis ich mich wieder schlafen lege. Angst." (S. 37)

Aufsteigen, nach oben kommen, Teil der sozialen Oberschicht sein – das war schon immer ihr Ziel. Das Ziel der jungen Frau, der Kampf all der Menschen vor ihr. Doch was ihr fehlt, sind Geld und Kontakte, für sie gibt es keinen ‚easy way up‘, denn sie ist Schwarz. Und als Schwarze Frau muss sie für alles und gegen alles kämpfen: für Anerkennung, für Respekt; gegen die abschätzigen Blicke, gegen die Vorurteile, gegen die Gesellschaft. Doch all ihre Anstrengungen, die Jahre der Ungewissheit haben sich ausgezahlt: Sie ist Teil des Londoner Finanzwesens, wird befördert und von ihrem reichen, weißen Freund bei einer Gartenparty offiziell in die Familie eingeführt. Es scheint alles perfekt – wenn da nicht diese Sache wäre, die alles andere plötzlich unwichtig erscheinen lässt, denn lohnt es sich noch zu kämpfen?

Wir leben in einer Welt, in der gesellschaftlicher Status, Reich- und Besitztümer, Hautfarbe und Herkunft über unser Leben und unser Handeln entscheiden, über Sieg und Niederlage. In ihrem Debütroman „Zusammenkunft“ (OT: Assembly, aus dem Englischen von Jackie Thomae) erzählt Natasha Brown von Misogynie und Rassismus, von Herkunft und unendlichem Schmerz, der aus all diesen Dingen resultiert. Mit schneidender Klarheit und einzigartigem Stil seziert sie, welche Auswirkungen der seit Jahrhunderten in der Gesellschaft verankerte Rassismus auf das Leben der jungen Frau hat: All ihre Erfolge, all ihre Niederlagen scheinen mit ihrer Hautfarbe verbunden, sei es die Beförderung, um eine Diversitätsquote zu erfüllen, weil „Frau und Schwarz“, oder die Beziehung zu ihrem Freund, der in seiner weißen, altreichen und privilegierten Welt den Status des wertfreien Kosmopoliten innehat. Sie ist sich dessen bewusst und stellt sich ihr Leben immer wieder in Frage: Wozu all die Anstrengung, wenn es, wenn sie eh nie genug sein wird? Da scheint es Schicksal zu sein, dass sie sich gegen alle weiteren Kämpfe stellt, die die Diagnose ihrer Ärztin bedeuten würden – und für ihre allmähliche, schmerzhafte Transzendenz.

„Zusammenkunft“ ist ein Kunstwerk, ein literarisches Stakkato, das mit kurzen, kräftigen Schlägen all die Ungerechtigkeiten herausschreit. Sie sind der Soundtrack für die Metaphern, die ihr sprachliches Genie sichtbar machen, und die Bilder, die sie beschreibt. Natasha Brown beweist, dass es nicht vieler Worte bedarf, um viel zu sagen – auf die Art und Weise kommt es an, und das zeigt sie mit ihrem Debüt eindrucksvoll. Was für ein Buch!

Bewertung vom 23.01.2022
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

„Es spielt keine Rolle, ob du wegrennst oder dich wegschleichst, er ist immer genau hinter dir, wie ein Schatten. Der Trick ist, nicht zu vergessen.“ (S. 292)

Glasgow, 80er Jahre: Das Land ist gezeichnet von der gnadenlosen Wirtschaftspolitik Thatchers, die Menschen leiden unter der Arbeitslosigkeit, die Armut und Hoffnungslosigkeit lässt viele in die Alkoholabhängigkeit abstürzen. Dieses Elend erleben Shuggie und seine Geschwister tagtäglich. Der Siebenjährige ist das Antidot zu all der Tristesse, in der die Arbeiterfamilie versinkt: Shuggie ist fröhlich und gewitzt, voller Fantasie; er ist anders als die Kinder in seinem Viertel, sein Gang ist feminin, wie der eines Tänzers und das verschafft ihm keinen leichten Stand. Die Folgen: Er wird gemobbt und drangsaliert, ausgeschlossen; er ist alleine, denn auch Zuhause erwartet ihn kein wohlig behütetes Umfeld. Zwar liebt seine Mutter Agnes ihn bedingungslos, versteht ihn und beschützt ihn, aber sie verliert sich immer mehr in ihrer Alkoholsucht. Energisch versteckt sie sich hinter eine Fassade aus Make-up, feiner Kleidung und strahlenden Kunstzähnen, doch auch das kann Shuggie nicht darüber hinwegtäuschen, so es um seine Mutter steht. Voller Hingabe und Angst setzt er alles daran, sie zu retten, Jahr um Jahr, bis jede Hoffnung sinnlos erscheint...

Eigentlich bin ich nicht um Worte verlegen, aber Douglas Stuarts Debütroman „Shuggie Bain“, in der grandiosen Übersetzung von Sophie Zeitz, hat mich sprachlos gemacht. Ich habe keine Worte dafür, wie sehr mich diese Geschichte, diese sensible, behutsame und überwältigend eindringliche Art zu schreiben berührt hat. Stuart gibt den Menschen, die vergessen werden, die von der Gesellschaft als Verlierer bezeichnet werden, eine Stimme, und zeigt auf, was für Mühe es die Menschen kosten kann, gesellschaftlich aufzusteigen, Essen und Bildung zu erhalten – Dinge, die für unsere westliche Welt heute selbstverständlich sind. Und das alles kommt nicht von ungefähr: Mehr als zehn Jahre schrieb Stuart an seinem Debütroman, verarbeitete mit dem Schreiben nicht nur autobiografische Elemente, sondern versuchte auch herauszufinden, ab wann Alkohol zum Problem wird, wann ein Leben daran zerbricht – und eine ganze Familie mitreißt – und wie es ist, in einer patriarchal und viril geprägten Gesellschaft aufzuwachsen, wenn man homosexuell ist.

Doch er zeigt nicht nur die dunklen Seiten auf, die das Leben bereithält, denn in „Shuggie Bain“ steckt so viel mehr, so viel Gutes: Es ist eine große Liebe, die Shuggie und seine Mutter verbindet, eine Liebe, die alles überstrahlt und die in diesem jungen Alter nicht selbstverständlich ist. Es brach mir jedes Mal das Herz, wenn Agnes wieder einmal rückfällig geworden ist, alle Hoffnung in Scherben am Boden lag – und Shuggies Herz gleich mit. Trotz allem kämpfen die Geschwister darum, es später einmal besser zu haben, stecken aber immer wieder zurück – bis es zum Äußersten kommt.

Der Roman hat mich fliegen und unsanft zu Boden fallen lassen, dass es wehtat und Narben zurückließ, doch sie erinnern mich nur daran, was für unglaubliche Gefühle ich erlebt habe, wie oft ich zwischen Lachen und Weinen schwankte, zwischen Liebe und Verdruss – und immer wieder muss ich daran denken, wie Agnes und Shuggie gemeinsam tanzen, dieser Moment voller Sorgenlosigkeit und Glückseligkeit. Und schon stehen mir wieder die Tränen in den Augen.