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Emmmbeee
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Feldkirch

Bewertungen

Insgesamt 112 Bewertungen
Bewertung vom 16.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


sehr gut

Traurige, aber reale Geschichte

Dass soziale Medien und mit ihnen YouTube heutzutage eine Macht ausüben, die alles Bisherige übersteigt, ist bekannt. Dass dieser Macht auch jüngere Eltern verfallen, ist logisch. Dass die ersehnte Aufmerksamkeit aber auch ihre Kehrseite hat, zeigt Delphine de Vigan im vorliegenden Roman.
In diesem Fall ist es die wohlmeinende Mutter Mélanie, die das in ihrer eigenen Jugend Versäumte nachholen und via Blog ihren Kindern die Segnungen öffentlicher Anerkennung zukommen lassen möchte. Klarerweise sind ihre Sprösslinge nicht gleichermaßen erfreut darüber. Besonders die Tochter sträubt sich gegen das Drehen der Videos. Und dann verschwindet das Kind spurlos.
Durch die Polizistin Clara Roussel, welche mit der Aufklärung des Falles betraut worden ist, erhalten wir Leser nach und nach Zugang zu dem, was geschieht und bisher geschah. Und es ist erschreckend, was alles zutage kommt. Alles ist so real, so nahe, so in unserm eigenen Umkreis möglich. Zu Königen wollen Eltern wie Mélanie ihre Kinder erheben, aber letztlich sind die Absichten nicht zum Wohl dieser Könige. Im Gegenteil: Was wird den Kindern mit dieser Erhebung zu Stars eigentlich alles angetan!
Vigan schreibt immer sehr fundiert über ihre fast immer heiklen Themen. Ihre Texte lesen sich locker-leicht, trotz aller Problematik: Ich mag ihren Stil seit jeher.
Das Cover sagt wenig über den Inhalt des Buches aus. Die Figur könnte genauso gut eine ungelenk dastehende junge Frau wie ein Kind sein und sollte wohl ein Mittelding darstellen.

Bewertung vom 14.03.2022
Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Ein inspirierendes Buch über den Lebensweg der ersten Schwarzen Booker-Prize-Gewinnerin und Bestseller-Autorin von »Mädchen, Frau etc.«
Evaristo, Bernardine

Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Ein inspirierendes Buch über den Lebensweg der ersten Schwarzen Booker-Prize-Gewinnerin und Bestseller-Autorin von »Mädchen, Frau etc.«


sehr gut

Kämpferische Frau

In einem Manifest werden konkrete Positionen festgehalten und veröffentlicht. Der Autor macht sich gleichsam gläsern bezüglich Identität, Erfahrungen, Weltanschauung, Überzeugung und Absichten. Genau das tut Bernardine Evaristo in ihrem Sachbuch. Wer im England der Sechzigerjahre etwas erreichen wollte, aber weder weiß noch männlich war, hatte es damals weit schwerer als heute. People of Color so wie Evaristo erlebten Rassismus allerorten, und dieser Begriff taucht gerade im ersten Kapitel in fast jedem Absatz auf. Sie legt den Finger auf viele heikle Stellen, klagt auch immer wieder an, wird aber nie larmoyant. Die Autorin schreibt mit Drive, sehr leidenschaftlich, mit Eigenkritik und Humor.
Evaristo bündelt die Themen in sieben Kapiteln. Damit führt sie dem Leser ihre Welt bis ins Detail vor: ihren Werdegang vom Kleinkind bis heute, der Einfluss verschiedener Menschen auf ihren Charakter und ihr Leben, ihr Schaffen auf der Bühne und als Autorin, das innerste Ich und ihre Ziele. Respekt vor dieser kämpferischen Frau, deren Werk vielen Menschen Mut machen kann.
Die Gestaltung des Buches selbst weist einige ungewöhnliche Einzelheiten auf. Jedes Mal, wenn ein neues Kapitel beginnt, wird dessen Nummer in den Sprachen ausgeschrieben, die darin eine Rolle spielen: Englisch, Altenglisch, Yoruba, Gälisch, Irisch, Portugiesisch und Brasilianisch. So lassen sich ganz nebenbei allfällige eigene Sprachkenntnisse auffrischen.
Am unteren Ende der Seiten wird der Name des Kapitels angeführt, zum Beispiel „Vier: Theater, Community, Performance, Politik“. In der Mitte des Werkes sind 16 Seiten mit Fotos, welche ausgiebig erläutert werden.
Eine sehr lange Danksagung, die sich über fünf Seiten erstreckt (auch das ist selten), beschließt das Buch. Ich empfehle es jedem, dessen Eigenmotivation ab und zu einen Schubs braucht. Oder dem, der sich an außergewöhnlichen Menschen ein Beispiel nehmen möchte.

Bewertung vom 05.03.2022
Chopinhof-Blues
Silber, Anna

Chopinhof-Blues


gut

Hoffnung für Generation Y

Im Roman „Chopinhof-Blues“ begegnet der Leser jungen Menschen, die sich selbst noch nicht für ein Lebensziel entschieden haben. Sie sind geprägt von Verletzungen, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben und versuchen mit ihren Narben zurechtzukommen.
Der Roman spannt einen Bogen zwischen zwei Hauptstädten, Berlin und Wien, das zur finalen Begegnungsstätte wird. Doch auch Budapest wirkt stark in die Handlung hinein. Aus verschiedenen Ethnien stammend, werden die kleinen Gruppen von Anna Silber in einen gemeinsamen Erzählstrang geflochten, der sich rund um einen Wiener Gemeindebau bündelt.
Es ist ein farbig-plastisch gezeichnetes Bild der Jugend von heute, zusammengesetzt aus diversen Charakteren. Doch so richtig sympathisch ist mir eigentlich keiner von ihnen, am ehesten noch Ádám, der sich sehr um seine Frau bemüht, ihr aber hilflos gegenübersteht.
Auch war mir der Schreibstil etwas zu zäh, die Handlung zu statisch, es wollte keine rechte Spannung aufkommen. Das Ende des Romans entwickelte für mich wenig Sinn, scheint der Autorin etwas entglitten zu sein. Das Cover assoziiere ich eher mit der Hamburger Speicherstadt als mit den Wiener Gemeindebauten.
Aus allen Personengruppierungen spricht das Prinzip Hoffnung, und Hoffnung hege ich auch für die weiteren Werke von Anna Silber, schließlich ist es ihr Erstling. Alles in allem jedoch ist „Chopinhof-Blues“ eine Enttäuschung für mich.

Bewertung vom 28.02.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


sehr gut

Ein Tag wie kein anderer
Pascal Friedrich, genannt Krüger, kann sich vorstellen, einmal Schriftsteller zu werden. In sein Notizbuch schreibt der Fünfzehnjährige unter anderem vier Geschichten, in denen er seine teils tief verstörenden Beobachtungen und Erlebnisse festhält. Krügers Tag verläuft völlig unvorhergesehen und verwirrend. Er gerät an seine Grenzen, macht mit seinen Schwächen Bekanntschaft, aber auch mit seiner inneren Stärke. Er steht seinen Mann, wächst über sich hinaus, verliebt sich das erste Mal nachhaltig.
Krüger hat Geheimnisse, hinter die niemand kommen darf. Bis ihm ein rothaariges Mädchen seinen Eastpak raubt und die Geschehnisse eines einzigen Tages sie, seinen besten Freund Viktor und ihn selbst eng miteinander verbindet.
Vier Teile und der Epilog geben dem Werk seine Struktur. Auch wenn der Schlussteil „Heute“ seine Längen hat und ich den Rest eigentlich schon überspringen wollte, gewinnen die letzten Seiten noch einmal an Lebendigkeit und Kraft.
Der Roman ist durchsetzt von der Musik in Krügers Kopf, deren Soundtrack auf der letzten Seite aufgeführt ist.
Dieser Ablauf eines einzigen Tages hat mich an „Ulysses“ von James Joyce erinnert, nur ist „Man vergisst nicht…“ ungleich spannender (auch wenn das jetzt respektlos klingt), und der Tag endet tragisch.
Christian Hubers Stil ist jung, frisch, süffig. Sehr gut gelang es dem Autor, von einem Kapitel zum nächsten mit Cliffhangern die Spannung zu halten. Wenn sein Protagonist sich durchringt zu erzählen, was ihn am Schwimmen hindert, geht das sehr nahe. Man möchte Krüger dann ganz fest drücken. Viktor erweist sich als echter Freund, fordert ebenfalls meine Sympathie ein, und erst recht das Mädchen Jacky.
Das minimalistisch gestaltete Coverbild mit dem springenden Jungen könnte passender nicht sein. Ich würde das Buch allen im Herzen junggebliebenen und empathischen Lesern empfehlen.

Bewertung vom 26.02.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


gut

Serienmorde und Genuss

Eine Serienmörderin? Bisher kennen wir eigentlich nur das männliche Gegenstück. Dass Liebe durch den Magen geht und Frauen ihren Wunschmann auf diese Weise becircen können, ist uns jedoch geläufig, auch, dass Butter ein Geschmacksverstärker ist.
In Asako Yuzukis Roman werden die Karten neu gemischt. Die junge Journalistin Rika soll mit der Mörderin im Gefängnis nur über deren Kochkunst sprechen. Doch sie erfährt viel mehr über den Genuss an sich, das Leben, die Männer und die Erwartungen, welche auf den japanischen Frauen von heute lastet.
Für uns Europäer*innen tut sich einerseits eine neue Welt auf, andrerseits erkennen wir vieles wieder, mit dem gerade Frauen von heute konfrontiert werden. Hier ist ein Krimi geschrieben worden – und auch wieder nicht. Manches wirkt wie eine psychologische Studie, anderes wie Anleitungen zum Leben.
Zum fernöstlichen Stil habe ich gewisse Vorbehalte, doch diesmal gefällt er mir etwas besser. Er ist flüssig und farbig, und die Autorin macht das Tor zu ihrem Szenario in sprachlicher Hinsicht angenehm auf. Vielleicht liegt es auch an der Übersetzerin Ursula Gräfe. Die Handlung geht mit Drive und Spannung voran, und ich habe die 440 Seiten relativ rasch gelesen, habe aber trotzdem nicht ganz in den Roman hineingefunden.
Obwohl mehrfache Mörderin, ist mir Manako Kajii ebenso halb-sympathisch wie Rika, welche sich bemüht, die Verhaftete zu verstehen. Dennoch ist mir am Ende des Romans im Zusammenhang mit den Morden noch vieles unklar. Aber vielleicht ist das ja auch so gewollt. Ob die Figuren authentisch sind, kann ich nicht beurteilen. Mich hat das Buch interessiert, weil es eine völlig andere Welt als die unsere zeigt. Von der Autorin habe ich bisher noch nichts gelesen.
Die Covergestaltung ist recht geheimnisvoll gehalten, fast mystisch. Passt aber zum Inhalt. Den Roman würde ich Liebhabern japanischer Romane empfehlen.

Bewertung vom 09.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


sehr gut

Kleines Dorf, dünnes Buch, alles gesagt

In diesem Roman findet sich vermutlich jeder ehrliche Leser, denn jeder von uns schaut im Lauf seines Lebens weg, wenn es zu handeln gilt. Die beschriebenen Charaktere finden sich auch in jeder Gemeinde, die Ausgrenzung, das Triezen, das Ausnutzen auch.
Im Buch spielen sich furchtbare Szenen ab, die besonders weh tun, wenn man dran denkt, dass in unmittelbarer Nachbarschaft Ähnliches stattfinden kann. Andersartigkeit wird von jeher verurteilt und bestraft, und die Andersartigen hatten es immer schon schwerer als die, welche mit dem Strom schwimmen und ihre weiße Weste ins Fenster hängen. Man senkt die Augen und hält die Hände still. Hinterher sagt man: Ich hätte ja geholfen, wenn ich etwas gewusst hätte.
Anna Herzig hat geschrieben, was zu schreiben ist, kein Wort mehr, keines weniger. Mit kräftigem Stift skizzierte sie urwüchsige, teils knorrige Charaktere, leuchtet gnadenlos in jeden Winkel. Auf wenigen Seiten ist alles gesagt.
Selten las ich einen Roman in schnörkelloserem Stil. Die Handlung fließt rasch dahin, Spannung besteht von Anfang an. Gerade die andersartigen Personen besitzen meine Sympathie, auch jene, welche an ihr scheitern.
Ein Buch, das aufrüttelt und dem Leser die Augen für seine eigene Intoleranz öffnen kann. Denn fehlerlos ist keiner von uns. Ich hoffe, dass wir von Anna Herzig noch viel lesen dürfen.

Bewertung vom 23.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


gut

Durch die Tage dümpeln

Der Ich-Erzähler Leo Gazzarra kann als verkrachte Existenz betrachtet werden, der sich durch die Sommertage treiben lässt und in der römischen Bohéme verkehrt. Er verliert seine Arbeitsstelle und wurschtelt sich mit dem Schreiben von Transkriptionen beim Corriere dello Sport grad so knapp durch. Er hängt mit seinem abgebrannten Freund rum, trinkt und bringts bei seiner jeweiligen Freundin nicht.
Nur schwer habe ich in diesen Roman hineingefunden und konnte bis kurz vor dem Ende auch nicht verstehen, warum das ein Kultbuch gewesen sein sollte. Es passiert scheinbar nichts. Nun gut, während des Sommers geschieht für die Einheimischen nie besonders viel. Dennoch, ich begann über weite Strecken querzulesen, aber nur, bis es Herbst und schließlich Winter wurde. Der Schluss überraschte mich dann sehr und mir wurde klar, warum der Roman zum Thema bei Diplomarbeiten wurde.
Die langen Absätze erleichtern das Lesen nicht gerade. Auch wird vieles in Wiederholungen und leicht abgeänderten Aussagen der Protagonisten durchgekaut. Dadurch ist in mir immer wieder die Langeweile hochgekommen, denn einen Spannungsbogen spürte ich nicht wirklich. Doch das Stimmungsbild der Gesellschaft, die man schon fast Halbwelt nennen könnte, wird in farbigen Bildern deutlich wiedergegeben, und das habe ich genossen. Einzelne Szenen, wie der Abschied vom Vater am Mailänder Bahnhof oder Leos versuchte Rückkehr kurz vor Weihnachten sind mir zu Herzen gegangen.
Der Schreibstil entspricht in seiner Trägheit der Augusthitze. Leo selbst wurde mir nie richtig sympathisch. Völlig antriebslos, schlaff, Alkohol bis zum Exzess, erfolglos, mit einem Wort: ein Loser.
Die schweren Gelbtöne des Covers vermitteln die drückende Augusthitze in Rom, und der Staub, der über allem liegt, verschleiert die Türme und Hügel. Dass der Mann auf dem Bild so korrekt gekleidet ist, scheint nicht ganz zur Figur zu passen. Doch für die Zeit, in der Gianfranco Calligarich das Buch geschrieben hat, passt es.

Bewertung vom 23.01.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


ausgezeichnet

Wieder ein Geniestreich

Das Monumentalwerk „Zum Paradies“ besteht aus drei Büchern, übertitelt mit Washington Square, Lipo-wao-nahele und Zone Acht. Das Geschehen ist jeweils um ein Jahrhundert versetzt. Es sind drei Welten, die sich um gemeinsame Themen drehen: ungewöhnliche Liebesbeziehungen, die Erwartungen der eigenen Familie, Rassismus und nicht zuletzt die Hoffnung auf eine bessere Welt und den Weg dorthin. Drum lautet der Titel auch ZUM und nicht IM Paradies. Es geht auch um Homosexualität, die bereits im 19. Jahrhundert in wenigen Kreisen zur Normalität gehört und die doch nicht so frei gelebt werden kann, wie es scheint.
Wie schon in „Ein wenig Leben“ spielen auch in diesem Roman wieder schwere Verletzungen in der Kindheit die Hauptrolle, natürlich, denn die wirken sich immer aus, in jedem Leben.
Der dritte Teil ist naturgemäß besonders erschreckend für den Leser. Denn was sich durch Covid allmählich abzeichnet, nämlich weitere Pandemien und durch ihre Bekämpfung womöglich notwendig werdende strenge, ja autoritäre Regierungen, wird in Situationen dargestellt, vor denen wir derzeit lieber noch die Augen verschließen.
Hanya Yanagihara hat mit scharfem Pinselstrich drei miteinander verbundene Schicksalsgruppen gezeichnet, wie sie in unser aller Umfeld zweifellos vorkommen. Die gesellschaftlichen Gegensätze sind groß, auch die Hoffnungen und Enttäuschungen, das Herrschafts- und Klassendenken. Jeder Protagonist kämpft um die Erfüllung seiner Bedürfnisse, für seine Liebe, die persönliche Freiheit, für seine Stellung in der Gesellschaft.
Hanya Yanagihara ist wieder ein Geniestreich gelungen. Schon „Ein wenig Leben“ hat mich überwältigt. Auch in ihrem neuen Werk besticht sie durch eine Fülle von Einzelheiten, immer wieder überraschende Wendungen, das fulminante Geschehen, ihre bilderreiche Sprache, nicht zuletzt durch die kunstvolle Verknüpfung der drei Teile miteinander. Das sehr umfangreiche Werk verlangt ein reiches Maß an Durchhaltevermögen, doch Yanagihara schreibt so mitreißend, dass ich den Roman jeden Abend erst dann beiseitelegen konnte, wenn mir schon fast die Augen zufielen.
Man muss die Konfrontationen mit den geschilderten Schicksalen aushalten, wie schon im letzten Roman, dessen Handlung ich teilweise kaum ertragen konnte. „Zum Paradies“ ist also nichts für Leser, welche seichte Liebesromane mit vorprogrammiertem Happy End oder eine heile Welt bevorzugen. „Zum Paradies“ führt ein steiniger Pfad, der im Nirgendwo endet.

Bewertung vom 06.11.2021
Das Archiv der Gefühle
Stamm, Peter

Das Archiv der Gefühle


ausgezeichnet

Zögerlicher Archivar im Schneckenhaus
Als die Sängerin Fabienne noch Franziska und ein Schulmädchen war, begann die Freundschaft (oder war es damals bereits Liebe?) zwischen ihr und dem Erzähler, dessen Namen nie genannt wird. Die beiden treffen sich nur sporadisch, ein gemeinsames Glück bleibt ihnen verwehrt. Und doch hat sie ihn so stark an sich gebunden, dass er sich auf keine andere Frau richtig einlassen konnte und auch keine Wünsche ein trautes Heim betreffend hegte.
Er sieht Gott als den großen Archivar, das Universum als ein unendliches Archiv. Als an seinem Arbeitsplatz ein sperriges Archivgestell entsorgt werden soll, erwirbt er es, obwohl in seinem Keller kaum Platz dafür ist. Hier dokumentiert er all seine Erinnerungen an Franziska, legt Listen an, eine regelrechte Akte. Ein in den Keller verbannter Liebesschatz. Eine archivierte Zögerlichkeit.
Seine eigenen Gefühle sieht er distanziert, wie durch ein schützendes Panzerglas. Mehr und mehr in sein Schneckenhaus verkrochen, wird er zum wortkargen, antriebslosen Einsiedler. Vor allem kann er sich kaum entscheiden, wenn er es sollte, egal, in welchem Zusammenhang. Sich selbst bezeichnet er durchaus treffend als „der Dabeiseiende“.
Das sehr nüchterne Coverbild zeigt eine Frau, die im Gehen begriffen ist. Eben noch da – und schon fort. So sehr ich die Sprache und den Erzählfluss in Peter Stamms Romanen mag, so sehr habe ich die Übersetzungen der französischen Textstellen vermisst. Wenigstens im Anhang wären sie kein Luxus gewesen.
Was das Lesen dieses Romans ebenfalls etwas mühsam machte, war die sparsam eingesetzte wörtliche Rede, noch dazu ohne Anführungszeichen. Auch die Fantasien oder Träume waren für mich manchmal erst im Nachhinein zu erkennen. Peter Stamm will es seinen Lesern nicht zu leicht machen. Empfohlen für alle Leser, die sich darauf einlassen wollen.

Bewertung vom 16.10.2021
Wellenflug
Neumann, Constanze

Wellenflug


sehr gut

Zwei Frauen, zwei Epochen

Marie sind ihrer Schwiegermutter nie begegnet, weil sie keine standesgemäße Frau für Annas Sohn Heinrich ist. Zudem stammt sie aus ärmlichen Verhältnissen. Heinrich kann mit dem Geld seiner reichen Familie nicht umgehen, er spielt und hat viele Frauen. Als er verarmt und von den Seinen verstoßen wird, hält Marie als einzige zu ihrem Mann. Nach dem ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise breitet sich der Nationalismus in Deutschland aus. Als Heinrichs jüdische Verwandtschaft flieht, bleibt Marie an seiner Seite und gibt ihm Halt.
Constanze Neumann versteht es, ein Bild der jeweiligen Zeiten, Orte und Milieus herzustellen, sodass die verschiedenen Handlungsweisen verständlich werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass es genauso hätte sein können und dass es ähnliche Schicksale durchaus gegeben hat. Der Schreibstil ist flüssig und elegant, Neumann hält die Spannung bis zum Schluss.
Es gibt einige sympathische Figuren, vor allem Susanne und Marie, die nicht in den Konventionen verhaftet bleiben, sondern zu helfen und zu vermitteln versuchen.
Der Titel „Wellenflug“ scheint mir jedoch gesucht. Auf Seite 260 wird er in den Text eingebaut, wo Neumann das Karussell auf dem Rummelplatz als Vergleich zum Leben heranzieht. Das scheint mir ein bisschen wenig Bezug zu sein.
Das Foto auf dem Cover ist passend zur damaligen Zeit, allerdings wirkt es leblos und eher langweilig. Da hätte ich mir etwas Farbigeres gewünscht.
Insgesamt ein interessantes Zeitbild über mehrere Jahrzehnte, verkörpert durch zwei Frauen unterschiedlicher Herkunft.