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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2023
Bruder
Khalid, Zain

Bruder


sehr gut

»Bruder« ist immer an der Seite von Youssef, mal nimmt er die Gestalt eines schützenden Hundes an, dann ist er eine mehrköpfige Schlange und oft tritt er zurück hinter den Brüdern, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit fest und innig verbunden sind.
Yousefs Ziehvater, der Imam Salim, ist streng und distanziert, voller Geheimnisse und hat nicht nur sein Begehren für Männer mit ihm gemeinsam. Die Eltern seines Bruders Dayo sind aus Nigeria, die Eltern von Iseul aus Korea, mehr wissen sie nicht, Youssef weiß nicht einmal das. Er beobachtet Salim und findet verstörende Hinweise, die sich nur langsam zusammensetzen.

Die Herkunft als Drehbuchautor ist diesem kraftvollen Debüt des New Yorker Autoren Khalid anzumerken. Szenisch und bildgewaltig ist der Sound von »Bruder«, der nicht nur nationale und sprachliche Grenzen sprengt. »Bruder« spielt im reichen Milleu von Staten Island, in Manhattan, in Syrien und in Saudi Arabien. Die Szenerie entblättert sich in Moscheen, in großen Häusern mit geheimen Zimmern, in Universitäten, in Wirtschaftsunternehmen, in Koranschulen und in neuen Palästen. Khalid öffnet eine Welt, die einen Weiß-amerikanischen Blick zurück stößt, die mit Klischees von Fundamentalismus, Kapitalismus und Macht spielt, sich manchmal darin und in Verschwörungstheorien verfängt, ohne den Moment zu verpassen, sich rechtzeitig wieder zu lösen. Denn Plot und Auflösung in diesem krimihaft-dystopischen Roman sind alles andere als simpel und erwartbar.

Neugierig? Dann warte nicht. »Bruder« schreit danach verfilmt zu werden und Khalid wird spätestens dann Fundamentalist:innen nicht gefallen, wobei seine Kritik am westlichen Kapitalismus und Rassismus nicht minder scharf formuliert ist.

Bewertung vom 15.08.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

»...Meinen Blog, mit 4000 darin gespeicherten Texten...Meinen Reisepass, auf dem Weg nach Kreta...Die Cats-2000-Sonnenbrille von Ray-Ban, fünf Mal...Den Inhalt meines Computers, kurz nach der Trennung von meinem Mann... Ein Baby... « |25f

Vergessen, verloren, gelebt hat die namenlose Ich-Erzählerin, die mitten in einer erneuten Veränderung steckt, dabei hasst sie Veränderungen doch. Ihre Kinder ziehen aus, die Wohnung kann sie sich damit nicht mehr leisten. Sie muss sich verkleinern und wohin überhaupt?

Wer nun eine Empty Nest-Geschichte erwartet oder einen sozialen Abstieg in die Altersarmut, eine Alleinerziehendengeschichte oder ein Buch über das Alleinsein, ihr bekommt das alles. Und ihr bekommt eine Figur, die quer lebt zu Klischees, die ihr Leben auf sich zukommen lässt, die Widersprüche stehen lassen kann, sich auseinandersetzt, ihren Wahrnehmungen und Erinnerungen nicht immer traut, sich widersetzt und schließlich das Schöne in den Veränderungen findet.

»Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe« ist ein warmherziges Buch über das unperfekte Leben. Ihre ehemaligen Liebesbeziehungen, naja, ihre Rolle in ihrer Familie, naja, ihr Einkommen, naja und viele Freundschaften sind warm und groß, ebenso wie ihre Liebe für ihre Kinder, was nicht heißt, dass sie sie nicht ziehen lassen kann. Denn es fällt ihr erstaunlich leicht, das Aussortieren, die freie Zeit, die sie Solitude nennt und vergeblich nach einem positiven Wort in deutsch für den Genuss des Alleinseins sucht. Ihr Hund, ihr neues Zuhause, ein Zimmer für sich allein und die Welt draußen, sie ist auch schön, wenn sie Lust darauf hat.

Es ist erstaunlich, wie wenig wir von solchen Figuren lesen, Frauen mittleren Alters im Mittelpunkt einer Geschichte, nicht perfekt, nicht tragisch, dabei klug und lustig und es ist bemerkenswert, wieviel Kritik diese Figur einstecken muss. Ich schätze »Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe« schon deshalb und mir fallen Einige ein, denen ich diese Unterhaltung mit Tiefgang gern in die Hand drücken würde.

Bewertung vom 20.07.2023
Schneeflocken wie Feuer
Conrad, Elfi

Schneeflocken wie Feuer


sehr gut

Wie betrachtet eine heute 80jährige ihre Erinnerungen eines Mädchens? Wie sieht sie auf die 17jährige, die sie einmal war? Eine 17jährige, die in den 1960er Jahren im westdeutschen Harz aufwuchs, in der tiefsten Provinz. Mit einer schwer gezeichneten Mutter, die aus Schlesien geflüchtet war, der aus ihrer hoffnungsvollen Jugend in der Hitlerzeit nur noch das Hinterhaus, die chronischen Schmerzen und die Verbitterung blieb. Mit einem sich entziehenden Vater, der schrie, Gewalt ausübte und Freundinnen hatte. Mit einer kleinen Schwester, für die sie zuständig war. Mit französischen Filmen voller Sexappeal, verinnerlichten Bildern einer kockettierenden Brigitte Bardot, mit Twist, Rock and Roll, Musik, mit einem sexuellen Erwachen. Mit abwertenden Lehrern, mit faden gleichaltrigen Jungs und dem 15 Jahre älteren Musiklehrer, der eine intime Beziehung mit ihr aufnahm. Oder verführte sie ihn?

»Schneeflocken im Feuer« springt in den Zeitebenen zwischen der heutigen Dora, die auf ein Klassentreffen in den Harz fährt und ihren Erinnerungen an ihr früheres Ich. Flüssig las sich die an Ernaux erinnernde Archäologie des Selbsts, in der sich auf Distanz der 17jährigen angenähert wird. Die junge Dora posiert wie Brigitte Bardot, fühlt sich von Lehrern gekränkt, von den Eltern nicht gesehen, da entdeckt sie ihre Macht und Stärke durch männliches Begehren hindurch.
Doch der ambivalent schonungslos nüchterne Blick auf sich selbst, der mich am Anfang begeisterte, löst sich auf. Die 80jährige erzählt die Geschichte der jungen Dora zwar weiter, diese spitzt sich auch zu, doch ist sie zunehmend mit sich selbst und ihrem eigenen reaktiven Begehren auf einen ehemaligen Mitschüler beschäftigt. Eine Bewertung, ob es sich mit dem Musiklehrer um eine Missbrauchsgeschichte handelt, bei wem Macht und Verantwortung zu sehen sind, der Mutter, des Vaters und der sich durch den gesamten Text ziehenden Fixierung auf das männliche Begehren müssen wir Lesende selbst vornehmen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.07.2023
Albanische Schwestern
Arapi, Lindita

Albanische Schwestern


sehr gut

»"Wie läuft's da drüben, in der großen Welt?" "Ich sehe sie vom Fenster aus", antwortete Alba mit einem bitteren Lächeln, doch ihre Schwester schien nicht verstanden zu haben, was sie meinte.« | 58

Alba und Pranvera könnten unterschiedlicher nicht sein. Alba ging in die große Welt, von Albanien nach Österreich. Sie heiratete, doch blieb Alba innerlich hängen in ihrer Vergangenheit, in begrenzenden Rollenbildern, stummen inneren Widerständen und Ängsten. Ihre Schwester Pranvera ist in Albanien geblieben, hat Kinder bekommen und Karriere gemacht. Sie hat sich arrangiert und beschwert sich nicht. Dabei war Pranvera einst die bewunderte, laute und schöne große Schwester, die sich dem Patriarchat nicht zu fügen schien. Bis etwas passierte, das Alba nachhaltiger zu prägen schien, als die pragmatische Pranvera.

Doch der Titel täuscht. »Albanische Schwestern« dreht sich nur am Rande um die Beziehung ungleicher Schwestern. Vielmehr handelt es sich um einen klassisch erzählten weiblichen Entwicklungsroman, in dem sich Alba lange um sich selbst dreht und dabei den Kontakt zur Außenwelt verliert. Nach und nach zieht Alba die Lesenden in ihre Erinnerungen an das ebenso von der Außenwelt isoluerte Albanien ihrer Kindheit und Jugend und vermischt diese mit aktuellen Szenen in Wien. Die Rolle der gut integrierten Migrantin und der bescheidenen Ehefrau funktionieren nicht und sie wird neue Wege finden.

Die Sprache transportiert die Beklemmung und Entfremdung der Figur Alba. Den anderen Figuren hätte mehr Komplexität und Innenschau gut gestanden. Pranvera bleibt eine Fläche für das albanische Patriarchat und die Widersprüche albanischer Frauen, ebenso wie die unsolidarische Mutter. Auch der Vater bleibt schemenhaft, wie ihr hölzerner österreichischer Ehemann, der Nähe eben so wenig kann wie Alba.

»Albanische Schwestern« bot spannende Einblick in die albanische Gesellschaft der Vergangenheit, die einen recht abgeschotteten Weg genommen hatte und in die Gegenwart, in der Migration das Land verwaist. Jetzt muss ich unbedingt Frei von Lea Ypi lesen, das wollte ich schon längst tun.

Bewertung vom 20.07.2023
Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht
Petrovic, Radmila

Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht


ausgezeichnet

Die Gedichte von Radmila Petrović sind direkt, laut, fast plauderhaft mit einer im Hintergrund bleibenden Verletzlichkeit und Schmerzen, die sich in Spannung und Wucht übertragen.

1996 ist diese energiegeladene Dichterin geboren, in Užice, Südserbien unweit der Grenze nach Bosnien. 1996, ein Jahr nach Dayton, zwei Jahre vor dem Kosovokrieg und drei vor der Natobombardierung.
Durch Petrovićs Gedichte fahren Traktoren, es duften Wassermelonen, Äpfel werden in der Luft geschossen, Tanten tratschen, Nachbarn kriegen alles mit. Großmütter und Großväter schauen auf ein widerspenstiges Mädchen, das leider kein Junge ist, das keine Kleider mag, aber Messer, das alle Erwartungen mit lebhafter Leidenschaft bricht. Das Patriarchat, die Engstirnigkeit und die Nach|Kriegszeiten scheinen durch die Gedichte bis in das städtische Leben Belgrads hinein, ebenso wie das Rütteln der Erzählstimme an Gendernormen, an der Normalisierung von Gewalt und der Vorgabe, wer wen wie lieben soll und welche Liebe ein teuflicher Import aus dem Westen ist. In ihrer Symbolik und Direktheit ist keine weitere Rahmung nötig, denn Petrović lässt Traditionen stolpern, erzeugt mit forschem Humor Dissonanz, die mit verzögerter Wucht nachhallt.

Ich hörte von grandiosen Auftritten dieser charismatisch-wirbelnden Frau, in Serbien, anderen ExYu-Ländern und in Österreich. Auch in Deutschland hat Petrović Potenzial, ihre Energie transportiert sich, ohne die Sprache kennen zu müssen, also schaut euch diese zart aussehende, mit tief-kräftiger Stimme dichtende Künstlerin an. Ich werde es tun.

Offensichtlich ist diese Veröffentlichung besonders wertvoll für Mišmašmenschen wie mich, eine, der die serbische Sprache nahe am Herzen ist und verschüttet zugleich. Beides nebeneinander lesen zu können, serbisch und deutsch, war ein Geschenk. Es würde mich brennend interessieren, wie sich die Gedichte lesen von Menschen ohne diesen Hintergrund, denn ich versuchte erfolglos zu ergründen, wie sich die Übersetzung für sich stehend liest. Doch dann las ich die begeisterte Rezension von Nadine Lange im Tagesspiegel und erlebte es.

Bewertung vom 20.07.2023
All right. Good night.
Haug, Helgard

All right. Good night.


ausgezeichnet

»Du bist hier, vielleicht aber schon fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier.« |111

Verschwinden ist der Topos dieses stark verschränkten und szenisch überzeugenden Prosa-Debüts der in der Theaterwelt bekannten Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin von Rimini Protokoll.
In einem Zwischenraum berichtet eine Tochter in kurzen kreisenden Sätzen vom Verschwinden ihres Vaters in die Demenz und verkoppelt es mit einem anderen unabschließbaren Verlust. Im gleichen Jahr, in dem der Vater sein Wesen zu verlieren beginnt, verschwindet ein Flugzeug samt 239 Personen auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking vom Radar. Wie verschluckt verlässt im Jahr 2014 die MH370 diese Welt. Die letzte gewisse Spur der Funkspruch "𝐴𝑙𝑙 𝑟𝑖𝑔ℎ𝑡. 𝐺𝑜𝑜𝑑 𝑛𝑖𝑔ℎ𝑡" vom Piloten, alles andere ist reine Spekulation, oder müssen die Informationen nur zusammengefügt werden? Die Tochter beginnt zu recherchieren, sammelt die fragmentierten Informationen über das Verschwinden der MH370, lernt über das Meer, die Luftfahrt und landet immer wieder bei den Geschichten und den Reaktionen der Angehörigen, ihrer Trauer, die im Ungewissen bleibt, die sich verabschiedet, aber zu keinem Abschluss finden kann. Die Spuren des Vaters fragmentieren ebenso, vier Postkarten zum Geburtstag mit exakt dem gleiche Text, zerfallende Erinnerung, zerfallende Sprache, intensive Nähe, unüberbrückbare Distanz und eine sich über Jahre erstreckende Verabschiedung, die zu keinem Abschluss finden kann, es ist ein Ambiguous Loss.

»All Right, Good Night« ist von der Sorte Text, die Fragen stellt, die Dimensionen zusammenbringt, die auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und damit den Blick auf die Welt weitet. Eindringlich und zurückhaltend führt der Roman zu Fragen des Verschwindens, der Zwischenräume von Loslassen und Festhalten und ohne sie direkt zu erwähnen, zu allgemeinen Fragen der menschlichen Existenz. »All Right, Good Night« ist ein kluges Buch, dem die Nähe zum Theater anzumerken ist, ohne den Eindruck zu erwecken, es fehle dem Text in Schriftform eine weitere Dimension. Die Inszenierung entsteht im Kopf.
Große Empfehlung.

Bewertung vom 15.06.2023
No Limit
Balzer, Jens

No Limit


ausgezeichnet

Es hat etwas von Größenwahn, die Vielschichtigkeit, Gleichzeitigkeit und Energie eines Jahrzehnts mit Anspruch auf Vollständigkeit in 380 Seiten zusammenzuführen, doch Balzer gelingt es effortless zum dritten Mal. Nachdem er schon die Siebziger und die Achtziger ausgehend vom Popkulturellen nahebrachte, reinszeniert er nun die Atmosphäre der Neunziger. Er verblendet die wichtigsten politischen Ereignisse, technische Neuerungen, sich verändernde Bedürfnisse, Codes, Praktiken und popkulturelle Phänomene des Jahrzehnts. Insbesondere die Popkultur beschreibt Balzer hinreißend in einem an die Neunziger anklingenden Habitus, der die Begeisterungen und Überzeugungen des Jahrzehnts mit Abstand in leiser Ironie betrachtet und es vermeidet, sich zu identifizieren. Die technischen Neuerungen, etwa Privatfernsehen, MTV, Internet und immer mobilere Telefonie, arbeitet er findig heraus. Den politischen Diskursen und Ereignissen stehen die Komprimierung und Haltung hingegen nicht immer gut. Sie bekommen zu viel Raum für eine zeitgeschichtliche Rahmung und zu wenig für eine gelungene Einordnung. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn »No Limit« gelingt es zu gut, die Stimmungen und Widersprüche der Neunziger aufleben zu lassen und die Fäden ihrer Einflüsse bis heute zu spannen.

Fast waren mir die 380 Seiten zu kurz. Ich wollte noch länger mit
»No Limit« verweilen, fing an Leute darüber vollzuquatschen, mir zu wünschen, Balzer hätte mehr über Indiemusik geschrieben, was er beiläufig über Dinosaur Jr. schrieb, war interessant. Ebenso anregend war es, sich mit Balzer die Ambivalenzen des Jahrzehnts präsent zu machen, Aufbruchstimmung und Enttäuschung, Friedenshoffnung und Kriege, rassistische Gewalt, deren Rechtfertigung und Repräsentation von Anderen Deutschen|BIPoC, der Drang der Massen zu Distinktion und Individualität. Balzer fängt das Jahrzehnt ein, um dann wieder Abstand zu nehmen und die beschriebenen Phänomene aus heutiger Sicht zu bewerten. »No Limit« ist unterhaltsam und überlegt zugleich, es sitzt. Ich empfehle euch die Lektüre sehr, wenn ihr Lust auf Sachbücher, Popkultur und Zeitgeschichte habt.

Bewertung vom 13.06.2023
Die Orte, an denen meine Träume wohnen
Sarr, Felwine

Die Orte, an denen meine Träume wohnen


ausgezeichnet

»Nach der Tradition der Heimat war Fodé zwar mein Zwillings-, aber auch mein großer Bruder. Er hatte mich zuerst zur Welt kommen lassen und war dann selbst hinaus gegangen. Er hatte mir den Vortritt gelassen.« | 93

Bouhel ist ein Suchender. Schon als Kind bereiste er die Welt in Büchern, es war klar, dass er nicht im Senegal bleiben würde und die Weite der Welt sein Leben bestimmen würde. Sein Zwillingsbruder Fodé ist einen ganz anderen Weg eingeschlagen, seine Bestimmung ist die Tiefe der Welt, die Details, die Ahnen und die Traditionen. Fodé wird spiritueller Gelehrter der Serer, den Senegal verlässt er nie.
An der Universität in Frankreich lernt Bouhel seine Liebe Ulga kennen, eine polnische Studentin, die ihn hingebungsvoll liebt, ebenso wie ihre Eltern und ihren Bruder Vladimir, der in seiner psychotischen Welt lebt. Etwas passiert, das ihre Lebenswege schlagartig ändert. Durch Fodés Hilfe und Kraft und einem Bruder im Kloster sucht Bouhel Heilung, Versöhnung und Spiritualität.

Als Ökonom, Autor, Verleger, Musiker und Professor für Romanistik hat sich der Autor Felwine Sarr einen Namen gemacht. Er zählt zur intellektuellen Elite der westafrikanischen Diaspora. Seine in der deutschen Übersetzung bei Matthes & Seitz 2019 erschienenen Sachbücher »Afrotopia« und »Zurückgeben« (mit Bénédicte Savoy) beeinflussten die Debatten zum Postkolonialismus, der Rückgabe afrikanischer Kulturgüter ebenso, wie die von ihm und Anderen in Leben gerufenen »Ateiliers de la Pensée«, die einen Ort für intellektuelle Debatten der afrikanischen Diaspora bereitstellen.

Auch wenn ich sofort zu einer der zum Teil schon stattgefundenen Lesungen und Diskussionen gehen würde, konnte der Roman meine hohen Erwartungen leider nicht ganz erfüllen. Sprachlich holperte es etwas, ob es auch an der Übersetzung der etablierten Übersetzerin Doris Heinemann liegt, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Geschwister Ulga und Vladimir waren im Vergleich zu Bouhel und Fodé weniger lebendig und stimmig. Aber überzeugt euch selbst und geht unbedingt zu einer der Veranstaltungen, wenn ihr könnt, denn Sarr ist einer der spannendsten Intellektuellen unserer Zeit.

Bewertung vom 13.06.2023
Soldaten
Schiop, Adrian

Soldaten


sehr gut

Adrian zieht es ins Ferentari, in jenes Viertel von Bukarest, in dem der Zugang zu Strom und Wasser nicht selbstverständlich ist, dafür der Verfall, Kriminalität, Drogen und Prostitution. Wer arm ist, versucht weg zu kommen. Doch das gelingt vielen, darunter oft Roma ohne Papiere, leider nicht. Mit vielen anderen Akademiker:innen und Expats hält sich der Doktorand und Arztsohn am Rande des Viertels auf, mit einem "forschenden Blick". Adrian faszinieren die Kneipen, die Direktheit und besonders die Männer, die er bezahlt, ihn zu befriedigen, wenn er betrunken ist. Zu seinem Schwulsein kann er noch nicht stehen. Als ihn seine Freundin verlässt, verschwimmen Grenzen - so scheint es - und er beginnt eine Beziehung mit Alberto, einem trinkfesten, knasterfahrenen, spielsüchtigen Mann, anscheinend Mitglied einer berüchtigten Roma-Familie.

Wer ist Romeo, wer Julio? Wer ist Bonnie, wer Clyde? Eine romantische amour fou? Niemand ist Romeo, Julio, Bonnie, niemand Clyde und auch von Liebe ist in dieser intimen Beziehung nicht zu sprechen. Alberto erwartet Geld im Gegenzug für Sex, Geschichten und einem Dach über dem Kopf. Adrian zahlt, während sein Umfeld sich abwendet, ihn vor Gewalt und Ärger warnt. Er beginnt zwar Empathie für Alberto zu entwickeln und die Phantasie, Alberto aus dem Kreislauf von Armut, Kriminalität, Prostitution und Sucht retten zu können. Aber Adrian wird auch gewahr, dass seine Doktorarbeit und sein Prekariatstourismus im Ferentari zeitlich begrenzt sind.

Soldaten ist aus Sicht von Adrian geschrieben, eine autofiktionale und ambivalente Figur, die gerade zu Beginn durch einen unempathischen und gefühlskalten Blick Antipathie auslöst. Frauen sind für ihn benutzbar oder aufgebraucht, Schwule weibisch und Heteromänner weisen ihn ab, es sei denn, er bezahlt. Die Sprache ist ebenso kühl, nüchtern, schonungslos, manchmal grob vulgär und explizit. Seine Faszination für den Ferentari und die Manele-Kultur werden im Verlauf des Romans immer mehr in Frage gestellt, ebenso wie scheinbar nebenbei seine meist Weißen rumänischen akademischen feldforschenden Kolleg:innen und Freund:innen.
Es ist nicht notwendig, die rumänische Gesellschaft in all ihren Feinheiten zu kennen, um Setting und Kritik des Autors zu verstehen.
Zwischen den Zeilen besticht sein Blick auf sich und andere priveligierte Menschen, die davon Leben, die Kultur armer prekär lebender Menschen- hier Roma- zu "erforschen und zu erklären", sich als Aktivist:innen zu verstehen, aber nichts an den Verhältnissen zu ändern, sie im Gegenteil für sich zu benutzen. Ob sie nun auf etabliertem und priveligiertem Abstand bedacht bleiben oder wie Adrian den Abstand auf Zeit verringern, macht letztlich keinen großen Unterschied. Soldaten ist eine kluge und herausfordernde Lektüre, die unbequem ist, nachdenklich macht und sich sehr lohnt.

Bewertung vom 13.06.2023
Power Bottom
Tepest, Eva

Power Bottom


ausgezeichnet

Wow, a 10... I mean the book is...

Nein wirklich, der Hype ist berechtigt. »Power Bottom« verführt sprachlich, intellektuell und auch körperlich, soweit dies einem Buch möglich ist. Tempest schreibt voller Energie über Begehren, Sex und durchdringt in ihren Essays viel mehr. Gerade das mehr und die Sprache haben mich eingenommen. Wenn ich nur ein Wort hätte, würde ich vampierisch wählen, um »Power Bottom« zu beschreiben.