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cosmea
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Witten
Über mich: 
Ich lese seit vielen Jahren sehr viel, vor allem Gegenwartsliteratur, aber auch Krimis und Thriller. Als Hobbyrezensentin äußere ich mich gern zu den gelesenen Büchern und gebe meine Tipps an Freunde und Bekannte weiter.

Bewertungen

Insgesamt 307 Bewertungen
Bewertung vom 16.04.2023
Going Zero
Mccarten, Anthony

Going Zero


sehr gut

Privatsphäre oder Überwachungsstaat?
In Anthony McCartens neuem Roman arbeitet die Firma Fusion unter Leitung des schwerreichen Social-Media-Moguls Cy Baxter mit der amerikanischen Regierung zusammen, um einen letzten Test der von der Firma entwickelten neuen Software durchzuführen, die dem Schutz des Landes vor terroristischer Bedrohung dienen soll. Der Betatest mit zehn ausgewählten Bewerbern - fünf Spezialisten, fünf Normalbürgern – soll beweisen, dass mit Hilfe dieser neuen Software jeder zu jeder Zeit an beliebigen Orten aufgespürt werden kann. Auf ein Signal hin sollen die Kandidaten sich unsichtbar machen und für 30 Tage unauffindbar bleiben. Dem Gewinner winken 3 Millionen Dollar. Das ist gar nicht so einfach im Zeitalter von Computern, Smartphones, Kreditkarten, allgegenwärtigen Überwachungskameras, Techniken der Gesichtserkennung etc. Einige Kandidaten werden schon bald aufgespürt, aber die harmlos wirkende Bibliothekarin Kaitlyn Day aus Boston erweist sich als überaus clever und entwischt den Verfolgern immer wieder. Ihr geht es nicht in erster Linie ums Geld. Sie verfolgt ein anderes Ziel. Bald gerät Cy Baxter zunehmend unter Druck und muss verhindern, dass illegale Geschäftspraktiken seiner Firma ans Licht kommen genauso, wie die CIA bestimmte fragwürdige Vorgehensweisen weiterhin geheimhalten will.
Die Geschichte dieses gefährlichen und für einen der Protagonisten tödlichen Kräftemessens wird immer raffinierter mit zahlreichen Handlungsumschwüngen. Das ist spannend zu lesen, wenn einen die zugrundeliegende Thematik interessiert: Was ist mir wichtig? Darf der Schutz der Privatsphäre immer weiter zugunsten der (angeblichen) Sicherheit des Landes vernachlässigt werden? Laufen wir Gefahr, in einem Überwachungsstaat zu landen, wenn immer neue Technologien entwickelt und zugelassen werden, um Menschen in aller Welt in jeder Sekunde ihres Lebens auszuspähen? An welchem Punkt dieser Entwicklung sind wir aktuell bereits angekommen? Auf diese Frage liefert der 2014 von der Dokumentarfilmerin Laura Poitras gedrehte Film Citizenfour eine besorgniserregende Antwort. Sie hat zusammen mit zwei Journalisten den US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden interviewt und macht in ihrem Film öffentlich, dass die NSA und andere Geheimdienste mit Hilfe des nach den Anschlägen vom 11.9.2001 geschaffenen Patriot Act umfangreiche Befugnisse bekamen, täglich Millionen von persönlichen Daten zu sammeln und damit praktisch die gesamte Menschheit unter Generalverdacht zu stellen. Die kafkaesk wirkende Realität in McCartens Roman ist also schon längst nicht mehr Teil einer erdachten Zukunft.
Ich habe diesen sehr gut konstruierten Thriller gern gelesen, auch weil es dem Autor gelingt, Spannung ohne Blutvergießen aufzubauen und den Leser vor allem durch die sorgfältig gezeichneten Charaktere und die überraschenden Wendungen der Handlung zu faszinieren.

Bewertung vom 10.04.2023
Morgen, morgen und wieder morgen
Zevin, Gabrielle

Morgen, morgen und wieder morgen


gut

Im Spiel ist nichts von Dauer
In Gabrielle Zevins neuem Roman “Morgen, morgen und wieder morgen“ geht es im Kern um Spiele, ihre Entwicklung und Vermarktung, aber auch um Freundschaft und Liebe und Verbindungen, die ein Leben lang halten. Sadie Green und Sam Masur lernen sich im Krankenhaus als Kinder kennen, als Sam sich schwerverletzt von einem Unfall erholen muss, bei dem seine Mutter starb. Sadie besucht ihre krebskranke ältere Schwester Alice. Sadie verbringt mehr als 600 Stunden mit Sam, bringt ihn wieder zum Sprechen und spielt vor allem immer wieder Super Mario mit ihm. Dann kommt es durch eine Intrige der eifersüchtigen Alice zum Bruch. Nach Jahren treffen sich Sadie und Sam als Studenten in Cambridge wieder und nähern sich einander wieder an. Ihre Leidenschaft gilt noch immer Spielen, und sie beschließen, zusammen ein Spiel zu entwickeln. Dieses wird ein großer Erfolg, und sie gründen die Firma Unfair Games. Außer Sadie und Sam spielen noch Sadies Dozent Dov Mizrah, mit dem sie eine problematische Beziehung hat und Marx Watanabe, ein Schauspielstudent aus reichem Haus, mit dem Sam die Wohnung teilt, eine Rolle.
Die aus wechselnder Perspektive erzählte Geschichte erstreckt sich über viele Jahre, zeichnet Rivalitäten und Konflikte nach und beschreibt die alles überstrahlende Kraft der Freundschaft. Mich hat dieser hochgelobte Roman nicht begeistert, weil mir die Welt der Spieleentwicklung mit all den Fachtermini zu fern ist und ich mit den Charakteren nicht richtig warm wurde. Außerdem mochte ich die Sprache der deutschen Version nicht. Hunderte von englischen und schlecht eingedeutschten Ausdrücken führen zu einem für Laien weitgehend unverständlichen Kauderwelsch. Gefallen hat mir die titelgebende zentrale Idee nach dem Shakespeare-Zitat aus dem berühmten Monolog von Macbeth („Tomorrow, and tomorrow and tomorrow…“), die zeigt, was Spiele so attraktiv macht: Hier kannst du immer wieder einen Neustart wagen und hast die Chance zu gewinnen, so lange du weiterspielst. Kein Verlust ist von Dauer, nichts ist endgültig, niemals. Du hast die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und einer unendlichen Erlösung (S. 471), die das Leben nicht bietet.

Bewertung vom 27.03.2023
Wolfskinder
Buck, Vera

Wolfskinder


ausgezeichnet

Ein Ort fürs Verstecken gemacht
Jakobsleiter ist ein Ort hoch in den Bergen, weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Dort lebt seit vielen Jahren die religiöse Gemeinschaft der Täufer mit ihrem Anführer Isaiah, der den anderen weismacht, dass unten im Dorf das Böse lauert. Sie wollen mit der modernen Welt nichts zu tun haben und bleiben unter sich. Schweigen ist hier das oberste Gebot. Die Journalistin Smilla hat in dieser Gegend zehn Jahre zuvor ihre Freundin Juli beim Campen zuletzt gesehen. Sie hat nie aufgehört, nach ihr zu suchen und sich schuldig zu fühlen. Sie sammelt alle Fälle von Frauen, die hier im Laufe der Jahre verschwunden sind und nutzt ihr Volontariat zu weiteren Recherchen. Dann verschwindet Rebekka, ein Mädchen aus der Siedlung, befreundet mit Jesse, der ebenfalls dort lebt. Wenig später wird auch Laura Bender, die Lehrerin der Dorfschule vermisst, als sie in die Berge aufbricht, um nach Rebekka zu suchen. Eines Tages begegnet Smilla ein verwahrlostes, stummes Mädchen namens Edith, das der Freundin Juli verblüffend ähnlichsieht. Ist Edith Julis Tochter? Lebt Juli am Ende noch? Im Unterschied zu Jesse und Rebekka darf die kleine Edith nicht einmal zur Schule gehen. Als durch Smillas Fund eines Videos im Archiv ihres Arbeitgebers die Medien aufmerksam werden, wird endlich auch die Polizei aktiv.
Die Autorin erzählt die von Anfang bis Ende spannende Geschichte aus sechs verschiedenen Perspektiven – Smilla, Laura, Jesse, Rebekka, Edith und Isaiah - und baut von Anfang an eine düstere, bedrohliche Atmosphäre von ständig lauernder Gefahr auf, so dass der Leser sich auf die Aufdeckung schlimmster Verbrechen gefasst macht. Einiges ahnt oder errät man, aber insgesamt birgt die Auflösung große Überraschungen. Die Charakterisierung der Figuren ist sehr gelungen, nicht zuletzt die des von Jesse geretteten und gezähmten Wolfs Freigeist, der keine unwesentliche Rolle im finalen Showdown spielt. Auch sprachlich ist der Roman durchweg gelungen. Ein erstaunliches, empfehlenswertes Thrillerdebüt.

Bewertung vom 25.03.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


gut

Der mysteriöse weiße Felsen
Anna Hopes neuer Roman “Der weiße Fels“ erzählt von vier namenlosen Protagonisten, die alle eine Verbindung zu dem legendären weißen Felsen im Meer haben, der dem Ort San Blas in der Provinz Nayorit in Mexiko vorgelagert ist. Nach der Wixárika-Legende liegt hier der Ursprung der Welt und allen Lebens. Die vier Geschichten erstrecken sich über einen Zeitraum von fast 250 Jahren. Im Corona-Jahr 2020 fährt eine Schriftstellerin mit ihrem Mann und ihrer dreijährigen Tochter, begleitet von einem Schamanen und weiteren Reisenden aus verschiedenen Ländern, in einem Van zu dem heiligen Felsen, um Opfer zu bringen als Dank für ihren mit Hilfe eines Rituals endlich erfüllten Kinderwunsch. Die zweite Episode betrifft einen berühmten Sänger, der vor der Polizei und seinen Fans flieht. Es handelt sich offensichtlich um Jim Morrison von The Doors. In der dritten Geschichte geht es um zwei Mädchen aus dem Stamm der Yoemi, die im Jahr 1907 von Soldaten aus ihrem Bergdorf entführt und als Sklavinnen verkauft werden sollen. Im Jahr 1775 erleidet ein spanischer Marineooffizier, der im Auftrag seines Königs die amerikanische Westküste erforschen und Kalifornien kartieren soll, einen Zusammenbruch. Er wird verhaftet und eingesperrt.
Der Berührungspunkt der vier Episoden ist der heilige Felsen. Allerdings sind sie nur locker verknüpft und nicht alle gleich gut gelungen, was die Charakterisierung der Figuren und die Handlungselemente betrifft. Die Schriftstellerin – hier sind autobiografische Elemente erkennbar – will ein Buch über die Geschichte des Felsens und der Region schreiben. Sie ist sich nicht sicher, ob es nicht auch eine Form der Aneignung ist, wenn sie durch eine Veröffentlichung die Verbrechen der Kolonialmächte mit all dem von ihnen verursachten Leid zum eigenen Vorteil verwertet, wie die Vorfahren Land, Bodenschätze und Kultur der indigenen Völker skrupellos ausgeschlachtet haben. Die Schriftstellerin befindet sich in mehrfacher Hinsicht in der Krise: ihre Ehe ist am Ende, weil ihr Mann sie immer wieder betrügt, und angesichts des Klimawandels sieht sie auch die größere Welt als unrettbar verloren an, was bedeutet, dass ihre geliebte Tochter vielleicht keine Zukunft hat.
Mich hat der ungewöhnliche Roman weniger überzeugt als “Was wir sind“. Für mich ist er ein interessantes, aber nicht ganz gelungenes Experiment, weil die vier Geschichten und ihr Personal nur lose verknüpft sind und der Roman kein richtiges Ende hat.

Bewertung vom 25.03.2023
Die Bibliothek der Hoffnung
Thompson, Kate

Die Bibliothek der Hoffnung


sehr gut

Was wären wir ohne den Trost der Bücher?
“Die Bibliothek der Hoffnung“ ist ein historischer Roman über das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs in London. In der noch nicht fertiggestellten U-Bahnstation Bethnal Green finden die Menschen Zuflucht vor den deutschen Fliegerbomben. Es gibt Schlafkojen für 5000 Menschen, aber auch einen Kindergarten, ein Café, ein Theater und ärztliche Versorgung. Vor allem aber hat die Bibliothekarin der zerstörten oberirdischen Bibliothek Tausende von Büchern gerettet und in dem Tunnel eine Leihbibliothek eingerichtet. Clara Button und ihre Freundin Ruby Monroe helfen den Menschen, den Mut und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht zu verlieren. Sie stärken ihr Durchhaltevermögen und sind gleichzeitig so etwas wie Sozialarbeiterinnen und Kummerkastentanten, weil sie zuhören und Trost spenden, wenn die Menschen mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer zu ihnen kommen. Clara und Ruby müssen ebenfalls schmerzliche Verlusterfahrungen verarbeiten und begegnen den Menschen mit viel Empathie. Dabei müssen sie sich immer wieder gegen die Einmischungen ihres arroganten Vorgesetzten wehren, der das Büchersortiment zensiert, so dass Frauen nicht auf „dumme“ Gedanken kommen und den unteren sozialen Schichten den Zugang zur Bibliothek verwehren will.
Die Geschichte wird mit kapitelweise wechselnden Überschriften „Clara“ und „Ruby“ erzählt, sodass die Perspektive und Lebensumstände der beiden Freundinnen zur Sprache kommen. Ich habe diesen auf Tatsachen beruhenden, sehr warmherzig geschriebenen Roman gern gelesen, auch wenn er nicht frei von Längen ist. Seine Botschaft spricht begeisterte Leser/innen besonders an: Bücher können dein Leben retten oder zumindest entscheidend verändern. Sie sollten jedem ungeachtet seiner Herkunft und Bildung zugänglich sein. Dabei ist dieser Roman kein Wohlfühlbuch, in dem einfach nur alles am Ende gut wird. Die Autorin schildert auch Kriegsgräuel und die Verbrechen in den Konzentrationslagern gut informiert und authentisch. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

Bewertung vom 18.02.2023
Young Mungo
Stuart, Douglas

Young Mungo


sehr gut

Young Mungo wird zum Mann
Mungo Hamilton, 15 wächst in den 90er Jahren in einem verarmten Arbeiterviertel im East End von Glasgow in einer kaputten Familie auf. Seine Mutter Maureen genannt Mo-Maw ist Alkoholikerin und verschwindet immer wieder unangekündigt für Tage oder Wochen auf der Suche nach Alkoholexzessen oder Männerbekanntschaften, ohne einen Gedanken an ihren vaterlosen Nachwuchs zu verschwenden. Mungos ein Jahr ältere Schwester Jodie kümmert sich verantwortungsbewusst um ihn, während sein fünf Jahre älterer Bruder Hamish genannt Ha-Ha, der gewalttätige Anführer der Prodders, einer protestantischen Jugendgang, einen Mann aus ihm machen will, indem er ihn zur Teilnahme an lebensgefährlichen Auseinandersetzungen mit den katholischen Fenians zwingen will, denn Mungo ist zu hübsch, zu zart und schüchtern. Eines Tages lernt Mungo den etwas älteren James Jamieson aus dem Haus gegenüber kennen, der Tauben in einem Taubenschlag in der Nähe hält. Die Beiden kommen sich näher, verlieben sich schließlich in einander. Damit bricht Mungo ein doppeltes Tabu: Homosexualität wird genauso wenig toleriert wie der Umgang von Protestanten mit Katholiken. In einem zweiten Handlungsstrang schickt Maureen ihren Sohn mit zwei Männern, die sie flüchtig von ihren Treffen bei den Anonymen Alkoholikern kennt, auf einen Ausflug in die schottische Wildnis und bringt ihn damit in Lebensgefahr. Auch Hamish wird aktiv und will mit äußerster Gewaltanwendung der Freundschaft zwischen Jamie und Mungo ein Ende setzen.
Für den Leser ist die zeitliche Orientierung nicht einfach, denn er muss die Geschehnisse „Im Januar davor“ von denen „Im Mai danach“ gedanklich trennen. Die beiden Handlungsstränge werden erst am Ende zusammengeführt. Der Roman erzählt eine Liebesgeschichte, aber er enthält so viele brutale und derbe Szenen, dass es auch wegen teilweise drastischer Formulierungen schwer zu ertragen ist. Allein das halbwegs hoffnungsvolle Ende versöhnt den Leser mit dieser Darstellung eines homophoben, extrem gewaltbereiten Milieus, das durch Margaret Thatchers Stilllegung der schottischen Schwerindustrie seiner Existenzgrundlage beraubt wurde. Ein ungewöhnlicher Roman, nicht frei von Redundanzen und Längen, aber sicher lesenswert.

Bewertung vom 31.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


sehr gut

Das Leben sichtbar und verständlich machen
In „Das glückliche Geheimnis“ erzählt Arno Geiger, dass er etwa 25 Jahre lang fast jede Woche einmal frühmorgens durch Wien zog und Paper-Container durchsuchte. Er fand große Mengen von Büchern, die er teilweise las, zum Teil weiterverkaufte, in Auktionshäusern, wenn sie wertvoll waren, oder auf Flohmärkten. Er fand auch alte Druckgrafiken, Brief-Konvolute Tagebücher, alte Postkarten und historische Wertpapiere. Anfangs war er als Schriftsteller weder erfolgreich noch bekannt und bestritt damit seinen Lebensunterhalt. Er setzte seine Runden aber auch noch fort, als er sein Roman „Es geht uns gut“ 2005 mit mehreren Buchpreisen ausgezeichnet wurde. Inzwischen schämte er sich nicht mehr dafür, obwohl das Risiko, erkannt zu werden, inzwischen erheblich gestiegen war. Ein Schriftsteller, der kopfüber in riesigen Container hängt und sein Tagewerk verdreckt und oft verletzt beendet, ist schon ungewöhnlich. Dass er sein glückliches Geheimnis nun öffentlich macht, bedeutet das Ende dieser Tätigkeit. Er betrachtet diese Phase seines Lebens als abgeschlossen.
Was hat ihm dieses jahrzehntelange „Containern“ gebracht? Durch die Lektüre von Tausenden von Briefen und unzähligen Tagebüchern erhält er Einblick in verschiedene Milieus, lernt nicht nur private Schicksale, sondern die Menschen allgemein und auch sich selbst besser kennen. Er erweitert seinen Horizont und hat eine nie versiegende Inspirationsquelle. Müll ist also nicht nur ein wiederverwertbarer Rohstoff, sondern auch eine kulturelle Ressource.
Neben seiner sehr speziellen Abfallverwertung behandelt der Autor auch eine Reihe anderer Themen. Der Leser erfährt, wie lang der Weg bis zum erfolgreichen Schriftsteller war. Der Autor porträtiert seine Eltern und sein Verhältnis zu ihnen und schreibt sehr detailliert über seine Frauengeschichten, nicht nur über die Beziehung zu K., der Liebe seines Lebens. Diese Passagen finde ich weniger gelungen, vor allem überwiegend entbehrlich. Ansonsten habe ich das Buch gern gelesen, vor allem wegen der gehaltvollen Umsetzung seines Anspruchs, in der Literatur das Leben sichtbar und verständlich zu machen. Nicht sein bestes Buch, aber lesenswert.

Bewertung vom 08.01.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


sehr gut

Ukrainische Geschichte
Die gebürtige Ukrainerin Victoria Belim erzählt in ihrem autobiografischen Debütroman “Rote Sirenen“ die Geschichte ihrer Familie vor dem Hintergrund von 100 Jahren ukrainischer Geschichte. Sie wanderte als 15jährige mit ihrer Mutter in die USA aus, lebte später mit ihrem Mann in Belgien und kehrte 2014 im Jahr der russischen Annexion der Krim in ihre Heimat zurück. Sie möchte ihre geliebte Großmutter Valentina wiedersehen und das Schicksal ihres in den 30er Jahren spurlos verschwundenen Urgroßonkels Nikodim aufklären. Ihre Verwandten sind nicht begeistert von diesem Vorhaben, zumal Nikodim in der Familie immer ein Tabuthema war. Victoria will ihre eigenen Wurzeln kennen, ihr Verhältnis zur Heimat klären und trotz aller Widerstände auch vonseiten der Behörden dafür sorgen, dass die Wahrheit endlich ans Licht kommt. Schon der Wunsch, die alten Dokumente einzusehen, wird ihr lange nicht erfüllt. Da gibt es das Hahnenhaus mit den roten Sirenen, auf das der Titel anspielt, lange Zeit Sitz des sowjetischen KGB und anderer staatlicher Organisationen, von der Bevölkerung nach wie vor gefürchtet und gemieden. Von 2014-2019 kehrt Victoria mehrfach in die Ukraine zurück und fördert eine Menge historischer Fakten zutage. So erfährt der Leser von all den kriegerischen Auseinandersetzungen, diversen Säuberungsaktionen und der künstlich von Stalin erzeugten Hungersnot Holodomor, die Millionen Menschenleben kosteten. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum nachvollziehbar, dass es immer noch eine beträchtliche Zahl von Ukrainern gibt, die zu Russland gehören wollen. Im Fall der Autorin geht der Riss durch die eigene Familie. Der Vater war Russe, die Mutter Ukrainerin, und ihr Onkel Wladimir verteidigt die Besetzung der Krim, was zum Zerwürfnis mit seiner Nichte führt.
“Rote Sirenen“ ist ein wichtiges Buch, das zur rechten Zeit kommt, um die aktuellen Ereignisse besser zu verstehen. Einwände habe ich lediglich gegen die Qualität der deutschen Übersetzung. Eine Reihe von Formulierungen sind schon sehr speziell, um es vorsichtig auszudrücken.

Bewertung vom 28.12.2022
Das College
Ware, Ruth

Das College


sehr gut

Das Leben davor und danach
Die junge Hannah Jones wird als Studentin im renommierten Pelham College in Oxford aufgenommen und durch ihre Wohnungsgenossin April Clarke-Cliveden sofort Teil einer Freundesclique, deren Mittelpunkt die schöne, reiche junge Frau ist. Dazu gehören noch die Freunde Will, Ryan, Hugh und Emily. Am Ende ihres ersten Studienjahres findet Hannah ihre Freundin eines Abends tot in der Wohnung. Durch ihre Aussage wird der Pförtner John Neville, der Hannah eine Zeit lang wie ein Stalker belästigt hat, zum einzigen Verdächtigen und wegen Mordes verurteilt. Er stirbt nach acht Jahren im Gefängnis, nachdem er bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hat. Hannah gerät wieder in den Fokus der Journalisten, von denen einer sie auf neue Verdachtsmomente hinweist. Hannah fühlt sich verunsichert und schuldig und will endlich die Wahrheit herausfinden, obwohl sie damit ihre Ehe mit Will und das Leben ihres ungeborenen Kindes aufs Spiel setzt. Hat sie das Leben eines unschuldigen Mannes zerstört? Sie setzt sich mit allen in Verbindung, die damals Kontakt zu April hatten. Es stellt sich heraus, dass sich mehrere Personen verdächtig verhalten haben und ein Motiv für die Tat hatten, zumal April die Angewohnheit hatte, selbst ihren besten Freunden grausame Streiche zu spielen.
Ruth Ware erzählt die Geschichte auf zwei Zeitebenen, davor und danach, das Jahr vor dem Mord und die zehn Jahre danach bis zur Erzählgegenwart. Charakterisierung, Schauplätze, Dialogführung – all das hat mich wieder überzeugt. Es gibt bis zum Schluss immer neue überraschende Wendungen, so dass der Leser die Auflösung nicht erraten kann. Allerdings fand ich den Roman insgesamt nicht so gelungen wie zum Beispiel “Im dunklen, dunklen Wald“. Hier gibt es durchaus Längen. Neben der Auflösung des Kriminalfalls spielen auch andere Themen eine Rolle wie zum Beispiel die Zuverlässigkeit von Wahrnehmung und Erinnerung, die Auswirkungen der traumatischen Erfahrung auf Hannahs weiteres Leben und die Schuld der Überlebenden, die eindrucksvoll zur Sprache kommen. Mit kleinen Einschränkungen insgesamt eine lohnende Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.11.2022
SCHNEE
Sigurdardóttir, Yrsa

SCHNEE


sehr gut

Albtraum in eisiger Wildnis
Yrsa Sigurardóttirs Thriller “Schnee“ überreden zwei befreundete Ehepaare einen Wanderführer, der irgendwo im isländischen Hochland ein Messgerät ablesen will, sie auf die gefährliche Tour mitten im Winter mitzunehmen. Dann werden die vier Freunde vermisst, und Suchtrupps und Polizei suchen ein großes Gebiet ab. Schon bald finden sie in der Nähe einer Hütte die erste Leiche im Schnee, in der Hütte selbst zurückgelassene Kleidung und Gegenstände, die den Wanderern gehört haben. Später finden sie noch vier weitere Leichen, wobei der Körper einer unbekannten Frau schon wesentlich länger dort liegen muss.
Drei verschiedene Handlungsstränge auf mehreren Zeitebenen machen den Plot aus. Außer der Gruppe der Freunde ist da noch Hjörvar, der mit dem Kollegen Erlingur auf einer einsamen Radarstation arbeitet und dort unerklärliche Geräusche und übersinnliche Phänomene wahrnimmt. Er und sein Bruder Kolbeinn haben kürzlich ihr Elternhaus an den Polizisten Geiri und seine Frau Jóhanna verkauft. Das Ehepaar hat im Garten einen vergrabenen Kinderschuh gefunden. Kurz vor dem Tod der dementen Mutter erfahren die Brüder, dass sie eine Schwester haben oder hatten. Sie versuchen, das Geheimnis aufzuklären. Jóhanna arbeitet als Freiwillige in einem der Rettungsteams und findet mit ihrem Partner die erste Leiche. Eine andere Zeitebene zeigt eine Woche vor dem Auffinden der Toten die Gruppe der Wanderer und ihre Erlebnisse. Sie sind nicht nur der Unbill des isländischen Winters mit den Schneestürmen und der Dunkelheit ausgesetzt, sondern hören ebenfalls Geräusche und Stimmen vor der Hütte, die sie sich nicht erklären können.
Lange gibt es keine Erklärung für all die Mystery-Elemente in der Geschichte und was sie mit der eigentlichen Handlung zu tun haben. Die Autorin bezieht geschickt das unwirtliche Klima und die raue Landschaft ein, um eine überaus bedrohliche Atmosphäre zu schaffen, bis am Schluss alle Elemente in einem grandiosen Finale mit überraschenden Wendungen zusammengeführt werden. Der Roman liest sich gut und wird vor allem zum Ende hin zunehmend spannender, wobei mich aber die unrealistischen übersinnlichen Elemente ein bisschen stören.