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leukam
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Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 20.01.2023
Feldpost
Borrmann, Mechtild

Feldpost


sehr gut

Historie wird lebendig

Von Mechtild Borrmann kenne ich fast all ihre Bücher, angefangen von ihren Krimis. Für „ Wer das Schweigen bricht“ erhielt sie 2012 den Deutschen Krimipreis.
Ihre weiteren Romane waren allesamt Bestseller. Gekonnt verknüpft sie darin Zeitgeschichte mit einer packenden fiktiven Rahmenhandlung. Führt uns der ebenfalls preisgekrönte Roman „ Der Geiger“ in das Russland der 1940er Jahre, so ist der Ausgangspunkt in „ Die andere Seite der Hoffnung“ die Katastrophe von Tschernobyl. „ Trümmerkind“ und „ Grenzgänger“ spielen in den unruhigen Nachkriegsjahren.
Etwas weiter zurück liegen die dramatischen Geschehnisse von ihrem neuesten Roman „ Feldpost“.
Die Geschichte beginnt allerdings kurz vor Weihnachten 2020. Die Kassler Anwältin Cara Russo sitzt in einem Café und schreibt Weihnachtskarten. Da setzt sich eine fremde Frau zu ihr, verwickelt sie in ein Gespräch über eine vermisste Frau namens Adele und hinterlässt dann einen alten braunen Aktenkoffer. Darin befinden sich einige Feldpost- Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg und ein paar beinahe unleserliche Dokumente. Die Neugierde der Anwältin ist geweckt und sie beginnt Nachforschungen anzustellen.
Der zweite Erzählstrang führt zurück ins Jahr 1935. Die beiden Familien Kuhn und Martens sind befreundet, ihre Kinder Albert und Adele sowie Richard und Dietlinde verbringen viel Zeit miteinander. Das Verhältnis beginnt mit dem Aufkommen der Nazis merklich abzukühlen. Während der Apotheker Martens ein Parteigenosse der ersten Stunde ist, hält der Speditionsunternehmer Kuhn nichts von den neuen Machthabern. Er kommt wegen staatsfeindlichen Äußerungen für zwei Jahre ins Gefängnis, sein Geschäft wird beschlagnahmt. Danach flüchtet das Ehepaar ins Ausland . Zuvor verkaufen sie ihre Villa auf Wilhelmshöhe zu einem symbolischen Preis an den früheren Freund Martens, mit dem Recht auf einen späteren Rückkauf.
Die mittlerweile erwachsenen Kinder Adele und Albert bleiben in Deutschland zurück.
Adele ist schon länger verliebt in den Jugendfreund Richard, doch irgendwann muss sie sich eingestehen, dass diese Liebe nie erwidert werden wird. Denn Richard liebt ihren Bruder Albert. Eine Liebe, die verboten ist und die schreckliche Konsequenzen bei ihrer Entdeckung nach sich ziehen wird. Als Albert untertauchen muss, ist Adele die Botin, die die Liebesbriefe Richards von der Front an ihren Bruder weiterleitet.
Mechtild Borrmann entwickelt ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen und aus der Perspektive verschiedener Figuren. Abwechselnd begleitet der Leser Cara Russo bei ihren Recherchen, dann wieder geht es zurück in die Vergangenheit. Dabei hält sie gleichbleibend die Spannung.
Für diesen Roman hat die Autorin im Tagebuch- Archiv Emmendingen recherchiert. Briefe und Aufzeichnungen aus der Nazi-Zeit sind die Grundlage für diesen Roman. Dabei ist Mechtild Borrmann eine eindrückliche und glaubhafte Schilderung jener Zeit gelungen. Sie zeigt, wie die aufkommende Nazi- Ideologie Freundschaften zerstört, welche verheerenden Auswirkungen der Nazi- Terror auf alle Anders- Denkenden hatte. Themen wie Homosexualität, Flucht und Vertreibung, Freundschaft und Verrat werden ganz konkret an den Figuren erlebbar gemacht. Die Sprache ist schnörkellos und trotzdem einfühlsam.
Die „ Auflösung“ am Ende hat mich sprachlos zurückgelassen.
Mit „ Feldpost“ hat Mechtild Borrmann erneut ihr Können bewiesen. Wieder ist es ihr gelungen, in einem spannenden und unterhaltsamen Roman Historie lebendig werden zu lassen.

Bewertung vom 29.11.2022
Lektionen
McEwan, Ian

Lektionen


ausgezeichnet

Ein Meisterwerk!
Ian McEwan entfaltet in seinem neuen Roman das Leben eines ganz gewöhnlichen Mannes. Geboren wird Roland Baines 1948 als Sohn eines britischen Offiziers. Seine frühe Kindheit verbringt er in Libyen, wo sein Vater stationiert ist. Mit elf Jahren kommt er nach England in ein Internat. Die Trennung von der Mutter fällt dem sensiblen Jungen schwer, doch das Internatsleben erweist sich als weniger schlimm wie befürchtet. Dagegen wird die Begegnung mit der mehr als zehn Jahre älteren Klavierlehrerin prägend für sein weiteres Leben. Belässt sie es bei dem elfjährigen Jungen noch bei sonderbaren körperlichen Übergriffen, entwickelt sich drei Jahre später daraus eine obsessive sexuelle Beziehung. Erst als Erwachsener wird Roland erkennen, welche seelischen Narben dieser Missbrauch bei ihm hinterlassen .
Nur mit der Flucht von der Schule schafft es Roland, sich aus diesem Verhältnis zu befreien. Doch er wird ruhelos sich durch sein weiteres Leben treiben lassen, wird nichts aus seinen Talenten machen. Kein Dichter, sondern Verfasser von Gebrauchstexten, keine Karriere als klassischer Pianist, sondern nur einen Job als Barpianiist. Auch privat scheitert er.
In der Anfangsszene des Romans befindet sich der Enddreißiger Roland sitzengelassen von seiner Frau Alissa mit dem 7 Monate alten Baby in seiner Londoner Wohnung. Alissa hat ihn verlassen, weil ein Familienleben mit Kleinkind sich nicht mit ihren Vorstellungen eines Schriftstellerlebens vereinbaren ließ. Nun versucht Roland völlig überfordert von seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater, seinen Sohn von der drohenden atomaren Wolke aus dem fernen Tschernobyl zu schützen.
McEwan begleitet seinen Protagonisten bis in sein 7. Jahrzehnt. Sein Anliegen ist es, ein individuelles Leben zu beschreiben und gleichzeitig die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Entwicklungen in die Biographie einzuarbeiten. So treibt die Angst vor einem dritten Weltkrieg Roland in die offenen Arme seiner Klavierlehrerin. Vom Nachkriegsdeutschland über die Suez- Krise, vom Dissidentenleben in Ostberlin bis zum Fall der Berliner Mauer, vom Brexit bis zum Lockdown in Corona- Zeiten, all das beeinflusst mal mehr, mal weniger das Schicksal seines Protagonisten.
McEwan greift in diesem Roman viele Fragen auf. Was bestimmt unser Leben? Sind es die Prägungen, die man durch Eltern und das soziale Umfeld erlebt? Sind es Zufälle, die ihre Spuren hinterlassen und was entscheidet man dabei selbst? Und wann gilt ein Leben als gelungen und erfolgreich? Wenn man, wie Alissa ein großes literarisches Werk hinterlässt, dafür aber Mann und Kind geopfert hat und nun einsam und krank in der Wohnung sitzt. Oder kann nicht Roland die bessere Lebensbilanz aufweisen, obwohl er nichts aus seinen Talenten gemacht hat, eher planlos durchs Leben gestolpert ist, dafür aber am Ende seinen Frieden gefunden hat und glücklich im Kreis seiner Familie lebt?
McEwan liefert keine eindeutigen Antworten. Es gibt keine direkten Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Dafür zeigt er, wie Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, welche Konsequenzen einmal getroffene Entscheidungen haben können.
Das ist dramaturgisch höchst kunstvoll gelöst. McEwan erzählt nicht streng chronologisch, sondern springt vor und zurück in der Handlung. Dabei verbinden sich die verschiedenen Ebenen sehr organisch, die einzelnen Erzählfäden werden immer wieder aufgegriffen. Er erzählt in einer klaren und präzisen Sprache, nüchtern und schnörkellos. Dabei entwickelt das Buch einen Lesesog, dem ich mich kaum entziehen konnte.
Roland Baines ist eine Figur, die mir am Ende richtiggehend ans Herz gewachsen ist. Mag er gesellschaftlich eher auf der Verliererseite stehen, so ist er menschlich gereift.
Aber auch die ganz privaten Themen, die im Leben dieses Anti- Helden eine Rolle spielen, sind von allgemeiner Gültigkeit. Über Kindererziehung, Beziehungsfragen, dem Verhältnis zu den Eltern, über das Alter, Krankheit und Tod macht sich Roland seine Gedanken und der Leser vergleicht mit seinen eigenen Erfahrungen.
Dies ist McEwans umfangreichster Roman, aber auch sein persönlichster. Nicht nur teilen der Autor und seine Hauptfigur dasselbe Geburtsjahr und denselben Geburtsort, es lassen sich zahlreiche weitere Parallelen zu McEwans eigener Biographie finden. Seine Kindheit in Libyen als Sohn eines Offiziers, seine Jahre im Internat, seine Erfahrungen beim Fall der Berliner Mauer fließen in den Roman ein. Auch McEwan erfuhr erst nach dem Tod seiner Mutter, dass es einen älteren Bruder gab, der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist. Nur eine solche Klavierlehrerin gab es nicht.
Der Roman ist für mich ein klassisches Alterswerk. McEwan hat hier alles reingepackt, was ihm das Leben als Lektionen erteilt hat. Dazu passt der versöhnliche Ton im Privaten und die Skepsis, was die Weltlage betrifft. Ein Meisterwerk!

Bewertung vom 28.11.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


ausgezeichnet

Eher ein Jugendbuch
Der neue Roman der amerikanischen Autorin Celeste Ng spielt in den USA in nicht allzu ferner Zukunft. Nach einer Wirtschaftskrise, die das Land ins Chaos stürzte, hat ein autokratisches System die Herrschaft übernommen. Für den wirtschaftlichen Niedergang macht man China mit seiner neuen Weltmachtstellung verantwortlich. Seitdem sehen sich asiatisch aussehende Amerikaner zahlreichen Diskriminierungen und Diffamierungen ausgesetzt, die z.T. auch brutale Ausmaße annehmen. Ansonsten ist das Land wieder zur Ruhe gekommen. Maßgeblich dazu beigetragen hat PACT - „ Preserving American Culture and Traditions Act“, das Gesetz zur Erhaltung amerikanischer Kultur und Traditionen. Damit wird alles, was als „ unamerikanisch“ gilt, verfolgt und ausgemerzt. So werden Bücher verboten und eingestampft und als besonderes Druckmittel werden regimekritischen Eltern ihre Kinder entzogen und in Pflegefamilien untergebracht.
Doch es regt sich Widerstand im Land.
Der zwölfjährige Noah, genannt Bird, ist die Hauptfigur im Roman. Er lebt allein mit seinem Vater, einem ehemals angesehenen Linguisten, in einer winzigen Zwei- Zimmer- Wohnung auf dem Campus von Harvard. Hierher sind sie gezogen, nachdem seine Mutter vor drei Jahren die Familie verlassen hat. Von ihr, Tochter von Einwanderern aus Hongkong, hat Bird sein asiatisches Aussehen. Das macht ihn zum Außenseiter. Noch mehr allerdings, dass ein Gedicht seiner Mutter, das der titelgebenden „ verschwundenen Herzen“, zur Parole der Widerstandsbewegung wurde. Birds Vater tut deshalb alles, um seinen Sohn zu schützen und nirgends unliebsam aufzufallen.
Doch eines Tages findet Bird einen Brief seiner Mutter mit einer geheimnisvollen Botschaft und er macht sich auf die Suche nach ihr.
Celeste Ng hat hier eine Dystopie entworfen, die nah an aktuellen Strömungen liegt. Wie sie in ihrem Nachwort schreibt, nahm während der Corona- Pandemie die antiasiatische Diskriminierung stark zu, geschürt noch von Präsident Trump, der vom „ China- Virus“ sprach. Und in der amerikanischen Geschichte hat diese Diskriminierung Tradition, denke man nur an die Internierung japanisch- stämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs.
Wie Margaret Atwood in ihrer berühmten Dystopie „ Der Report der Magd“ greift Celeste Ng auf tatsächliche Geschehnisse aus der Geschichte zurück. So wurden in der DDR Eltern, die als Staatsfeinde galten, ihre Kinder weggenommen und in Kanada hat man über 100 Jahre lang indigene Kinder in christliche Internate gegeben und sie so ihrer kulturellen Identität beraubt. Das verschafft ihrem Roman Authentizität .
Die Geschichte wird vorwiegend aus der kindlichen Perspektive Birds geschrieben. Dabei kommt man dieser Figur sehr nahe, nimmt Anteil an seinen Gefühlen und Gedanken. Ist er anfangs noch genervt von den Ängsten seines Vaters, seinem Duckmäusertum, versteht er im Verlaufe der Handlung, dass dies alles nur zu seinem Schutz und aus Liebe zu ihm geschah. Am Ende hat Bird auch verstanden, warum seine Mutter ihn verlassen musste und er kann sie bewundern für ihren Mut und ihren Einsatz. Mehr Happy- End gönnt uns die Autorin nicht und das ist gut so.
Der Mittelteil gehört Margaret Miu, der Mutter. Sie erzählt ihre Geschichte, vom Aufwachsen als Migrationskind, das permanent zur Anpassung angehalten wird, vom Rückzug in die private Idylle, so lange, bis Wegschauen keine Option mehr ist. Diese mehr berichtende Erzählweise erschwert den emotionalen Zugang zu dieser Figur.
Die Geschichte liest sich leicht und ist packend. Allerdings hat die Autorin ein Anliegen und eine eindeutige Botschaft, das gibt dem Roman etwas Konstruiertes und Schablonenhaftes. Die leicht märchenhaften Züge erschienen mir dagegen passend.
Dass Celeste Ng der Poesie die Kraft zum Widerstand zuschreibt und Bibliotheken zu Orten der Auflehnung und der Zuflucht macht, erfreut natürlich jeden Bibliophilen, ist aber eher Wunschdenken.
Für mich liest sich das Buch, trotz zahlreicher Verweise auf Reales, weniger als realistische Geschichte, sondern wie eine Parabel.
Sprachlich konnte mich die Autorin nicht durchgängig überzeugen. Die kraftvolle Poesie kippt gegen Ende leider nahe hin zum Kitsch.
„ Unsere verschwundenen Herzen“ ist eine spannende und bewegende Dystopie, die gegen staatliche Repressionen auf die Kraft von Liebe und Hoffnung setzt.
Obwohl die Autorin hier hinter ihren ersten beiden Büchern erzählerisch und sprachlich zurückbleibt, so lohnt sich die Lektüre trotzdem. Vielleicht ist der Roman im Bereich „ Jugendbuch“ besser aufgehoben.

Bewertung vom 28.11.2022
Mein Sachen suchen Riesenbilderbuch
Gernhäuser, Susanne

Mein Sachen suchen Riesenbilderbuch


ausgezeichnet

Wimmelbuch im XXL- Format

Wimmelbücher sind aus der Bilderbuchwelt nicht mehr wegzudenken und die Kinder lieben sie. Auf jeder Seite gibt es ein lebhaftes Durcheinander, bei dem es für die Kleinen beständig was zu entdecken gibt. Vertraute Szenen aus dem kindlichen Umfeld wechseln sich ab mit unbekannten Situationen. Wimmelbücher fördern das detaillierte Hinschauen und Benennen und tragen so auf spielerische Weise zu einem größeren Wortschatz und einem genauerem Wahrnehmungsvermögen bei. Gleichzeitig stärkt es beim Weitererzählen der verschiedenen Szenen die kindliche Phantasie. Wimmelbücher sind also pädagogisch wertvoll und sorgen für Spaß beim gemeinsamen Betrachten.
„ Mein Sachen suchen Riesenbilderbuch“ ist ein Wimmelbuch im XXL - Format.
Auf sieben großformatigen Doppelseiten werden verschiedene Themenbereiche abgedeckt, vom Trubel in einer Stadt und vom Leben auf einem Bauernhof , über einen Waldlehrpfad oder einem Besuch im Zoo. Bei
„ Hier entsteht ein Spielplatz“ werden gleich zwei Themen kombiniert, die Kinder interessieren und begeistern, nämlich die Arbeit auf einer Baustelle und vertraute Spielgeräte.
Ein kurzer Einführungstext auf jeder Seite liefert Informationen und stellt Fragen zur Illustration. Suchbilder am Rand sind eine erste Anregung, genauer das Gesamtbild zu betrachten. Die farbenfrohen Bilder sind ausdrucksstark und ansprechend und nie überladen. So zeichnet sich z.B. die Seite „ Im Winterwald“ durch eine besondere Zurückhaltung aus. Durch die stabile Gestaltung eignet sich das Buch auch als Kulisse für Spielszenen im Kinderzimmer.
Ein rundum gelungenes Exemplar eines Wimmelbuches, das sich für Kinder ab zwei Jahren eignet.

Bewertung vom 18.11.2022
Agent Sonja
Macintyre, Ben

Agent Sonja


ausgezeichnet

Packend und informativ!
Der englische Schriftsteller Ben Macintyre hat schon einige Bücher über Spionage geschrieben. In diesem hier erzählt er detailgenau und spannend die faszinierende Geschichte der Frau, die unter dem Decknamen „ Sonja“ jahrelang als kommunistische Spionin tätig war.
Geboren wurde Ursula Kuczynski, wie sie tatsächlich hieß, 1907 als Tochter einer vermögenden jüdischen Familie in Berlin. Ihr Vater war ein angesehener links stehender Gelehrter. Auch Ursula liest begeistert die Schriften Marx und Engels. Ein Polizeiknüppel auf ihrem Rücken, als sie an einer Demonstration der kommunistischen Jugend mitmarschierte, war die Initialzündung für ihr Engagement. Ihr Kampf galt danach dem Sieg des Kommunismus.
Der führte sie in alle Welt. Die erste Station war Shanghai, zu Beginn der 1930er Jahre eine Stadt der Gegensätze. Das „Paris des Ostens“ war gleichzeitig die „ Hure des Ostens“, ein Zentrum für Drogen und Kriminalität, aber auch der Spionage. Ursula lebt hier mit ihrem ersten Mann, einen Architekten und ihrem kleinen Sohn Michael, als sie Richard Sorge kennenlernt, einer der berühmtesten Spione des 20. Jahrhunderts. Er macht sie nicht nur zu seiner Geliebten, sondern rekrutiert sie auch für den russischen Geheimdienst. In Moskau erhält sie eine Ausbildung als Funkerin. Einsätze folgen in die Mandschurei und nach Polen. 1938 flüchtet Ursula in die Schweiz, wo sie Widerstandsgruppen gegen Nazi- Deutschland aufbaut. Und 1940 kann sie nach England emigrieren, was ihr als Jüdin mehr Sicherheit bietet. Doch auch ihre neue Heimat spioniert sie für die Sowjets aus. Russland befindet sich gerade in einem Wettlauf mit den Amerikanern bei der Herstellung einer Atombombe. Hierzu kann Ursula wertvolle Informationen liefern.
Ein unglaubliches Leben, v.a. wenn man bedenkt, dass Ursula neben ihrer Tätigkeit als Topagentin Hausfrau und Mutter war. Anschaulich beschreibt Macintyre, wie sie versucht, das alles unter einen Hut zu bringen. Die Ehe mit ihrem ersten Mann zerbricht; Ursula bekommt noch in Asien eine Tochter von einem ehemaligen Führungsagenten und in der Schweiz lernt sie einen englischen Kommunisten und Spanienkämpfer kennen. Die Ehe mit ihm verschafft ihr die englische Staatsbürgerschaft. In der ländlichen Umgebung von Oxford führt sie mit Mann und mittlerweile drei Kindern das Leben einer ganz normalen Familie. Die anderen Dorfmitglieder wären sehr überrascht gewesen, hätten sie gewusst, warum ihre nette Nachbarin so oft mit dem Fahrrad unterwegs ist.
Ursula versuchte immer, ihren Kindern eine gute Mutter zu sein. Das ging nicht ohne Kompromisse.
Auch schwerwiegende Maßnahmen der sowjetischen Regierung zerstörten nicht ihren Glauben an die kommunistische Idee. Das eine waren Stalins Säuberungsaktionen, denen unzählige Genossen zum Opfer fielen. Ursula versuchte zu verdrängen, dazu kam ihre Angst, selbst fälschlicherweise unter Verdacht zu geraten. Doch der Hitler- Stalin- Pakt 1939 schockierte Ursula zutiefst. Der Kommunismus machte gemeinsame Sache mit Nazi- Deutschland, das sie zutiefst hasste und bekämpfte. Aber auch hier konnte sie sich arrangieren.
Obwohl der britische Geheimdienst auf Ursula aufmerksam wurde, geriet sie nie ernsthaft in Verdacht. In der Männerwelt der Spionage und der Spionageabwehr war es unvorstellbar, dass eine Hausfrau und Mutter gleichzeitig eine große Agentin sein kann.
Ben Macintyre hat für dieses umfangreiche Buch akribisch recherchiert. Dazu standen ihm eine Unmenge an Quellen zur Verfügung, darunter auch Ursulas Autobiographie, die sie unter dem Namen Ruth Werner 1977 in der DDR veröffentlicht hat: „ Sonjas Rapport“. Der englische Autor erzählt noch von Ursulas Leben nach Beendigung ihrer Agententätigkeit. 1950 zog Ursula mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Ostdeutschland, wo sie unter ihrem neuen Namen Kinderbücher schrieb. Im Juli 2000 starb Ursula Kuczynski im Alter von 93 Jahren.
Diese Biographie liest sich wie ein Roman. Trotz der vielen Informationen , die das Buch liefert, entsteht ein fesselndes und lebendiges Bild einer ungewöhnlichen Frau. „ Ursula wurde dem Proletariat und der Revolution zuliebe eine Spionin; doch sie tat es auch für sich selbst, getrieben von einer außerordentlichen Kombination aus Leidenschaft, Romantik und Abenteuerlust, die in ihr sprudelten.“
Neben Ursula porträtiert der Autor auch zahlreiche Weggenossen, die für sie bedeutsam waren, Ehemänner, Liebhaber, Freunde und Feinde. Der historische Hintergrund, vor dem die Figuren agieren, fließt organisch in die Handlung ein. Gleichzeitig bekommt der Leser ein authentisches Bild von der Welt der Spione.
Lobenswert und der Veranschaulichung dienlich sind auch die vielen Photographien, die dem Text beigefügt sind.
Ein äußerst lesenswertes Buch für Leser von Biographien und für historisch Interessierte.

Bewertung vom 18.10.2022
Miss Kim weiß Bescheid
Cho, Nam-joo

Miss Kim weiß Bescheid


sehr gut

Genauer Blick auf Lebensverhältnisse

Die südkoreanische Autorin Cho Nam -Joo hat mich schon mit ihrem Roman „ Kim Jiyoung, geboren 1982“ begeistert. Darin zeigt sie exemplarisch an ihrer Hauptfigur die strukturelle Diskriminierung, der Frauen in Südkorea ( und nicht nur dort) ausgesetzt sind.
Deshalb habe ich mich gefreut, dass ein neues Buch von ihr erschienen ist, dieses Mal kein Roman, sondern ein Band mit insgesamt acht Erzählungen. Ihre Protagonistinnen sind Frauen verschiedenster Altersstufen, vom Mädchen bis zur Greisin.
In der Eingangsgeschichte geht es um eine ältere Frau, die ihre demente Schwester im Pflegeheim besucht. Dabei kreisen ihre Gedanken um die Mühen des Alters, gehen aber auch zurück in die Vergangenheit der Frauen.
Ihre eigenen Erfahrungen mit Hasskommentaren nach der Veröffentlichung ihres Buches verarbeitet die Autorin in einer weiteren Erzählung.
Eine Familie wächst nach dem Verschwinden des Vaters wieder näher zusammen und muss feststellen, dass es ihnen auch ohne ihn ganz gut geht.
In Form eines Briefes lehnt eine junge Frau den Heiratsantrag ihres langjährigen Freundes ab. Denn ihr ist endlich bewusst geworden, wie sehr sie sich von dessen dominanten, alles bestimmenden Wesen jahrelang beherrschen ließ.
In der längsten und auch einer der besten Geschichten reist eine 60jährige Witwe mit ihrer Schwiegermutter nach Kanada, um die Polarlichter zu sehen. Nachdem sie ihr Leben lang für Mann, Tochter und Enkelkind da war, möchte sie sich endlich diesen lang gehegten Wunsch erfüllen.
Die Geschichten geben einen guten Einblick in die koreanische Kultur und das Alltagsleben dort. Trotzdem lassen sich viele Parallelen zu unserer Gesellschaft finden. Viele der Themen, die im Buch angesprochen werden, sind auch für Frauen hier relevant: Benachteiligung am Arbeitsplatz, der ständige Spagat zwischen Familie und Beruf, häusliche Gewalt, Care- Arbeit und manches mehr.
Die Protagonistinnen hier werden sich ihrer eigenen Bedürfnisse und Wünsche bewusst, lehnen sich auf gegen die Erwartungen von außen, wehren sich und versuchen, ihren eigenen Weg zu finden.
Sämtliche Geschichten werden aus der Ich- Perspektive erzählt. Das ermöglicht eine intensive Nähe zu den Figuren; ihr Handeln wird dadurch verständlich und nachvollziehbar. Es ist beachtlich, wie gut sich die Autorin in die Gefühls- und Gedankenwelt der verschiedensten Altersgruppen einfühlen kann.
Die Sprache ist klar und eher nüchtern, die Erzählweise ruhig und unaufgeregt. Trotzdem packen die Schicksale, denn die Figuren werden vielschichtig gezeichnet, die angesprochenen Themen sind von großer Relevanz.
Nicht jede der acht Geschichten hat mich gleichermaßen angesprochen, dennoch gebe ich gerne eine Leseempfehlung für das neue Buch von Cho Nam- Joo . Zu loben ist auch der Verlag für die passende Cover- Gestaltung.

Bewertung vom 04.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Beeindruckend und erschütternd
Der 1976 geborene Alex Schulman ist einer der bekanntesten schwedischen Autoren der Gegenwart. Mit großer Begeisterung habe ich seinen 2021 auf Deutsch erschienenen Roman „ Die Überlebenden“ gelesen. Deshalb bin ich nun mit hohen Erwartungen an sein neues Buch herangegangen.
Nach einem furchtbaren Streit mit seiner Ehefrau wird Alex Schulman bewusst, dass er etwas tun muss. Seine unvorhersehbaren Wutanfälle drohen seine Ehe zu zerstören. Sogar die Kinder haben Angst vor ihm. Eine Therapie in Form einer Familienaufstellung soll zur Klärung beitragen und so eine Verhaltensänderung ermöglichen. Dabei wird gleich ersichtlich, wo er suchen muss, nämlich in der Familie seiner Mutter. Hier sind schon immer alle Familienmitglieder heillos zerstritten.
Das „ Wut- Zentrum“ findet Alex Schulman in der Person seines Großvaters Sven Stolpe. Der war und ist in Schweden eine Berühmtheit: Schriftsteller, Übersetzer, Literaturwissenschaftler und Kritiker, tiefgläubiger Christ, ein Mann mit hohen Erwartungen an sich selbst und an seine nächste Umgebung. Als Kind hatte der Autor ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Großvater. Der machte zwar gerne Späße mit den Enkeln, gleichzeitig war er unberechenbar in seiner Wut.
Alex Schulman beginnt nun sich näher mit seinem Großvater zu beschäftigen und stößt dabei auf das Jahr 1932. Hier muss das Schlüsselerlebnis liegen, das alles verändert hat. Doch was ist damals tatsächlich geschehen?
Das Ehepaar Stolpe war Gast im Hause der Sigtuna - Stiftung. Hier trafen sich junge Autorinnen und Autoren zum Arbeiten und zum gemeinsamen Austausch. Dabei trifft die verheiratete Karin Stolpe den jungen Dichter Olof Lagercrantz, eine schicksalhafte Begegnung. Die beiden verlieben sich heftig ineinander. Karin will sich von ihrem dominanten Ehemann trennen, doch Sven weiß das mit allen Mitteln zu verhindern. Damit ist das Leben aller Beteiligten für immer geprägt. „Der eine geht in eine lebenslange Finsternis ein. Der andere hört niemals auf zu träumen.“ Und Karin harrte aus, neben dem ungeliebten Ehemann. „Sie schrumpfte mit geradem Rücken.“
Alex Schulman erzählt auf drei Zeitebenen diese Geschichte.
Auf der Gegenwartsebene beschreibt er beinahe dokumentarisch seine Recherchearbeit und das, was dies bei ihm auslöst. Da sowohl Sven Stolpe als auch Olof Lagercrantz bekannte Persönlichkeiten waren, gibt es eine Unmenge an Material. Nicht nur deren poetisches Werk, sondern auch auf Tagebücher und Briefe konnte Alex Schulman zurückgreifen. Während sich bei Sven Stolpes Romanen als immer wiederkehrendes Motiv die treulose Ehefrau finden lässt, so hat Olof Lagercrantz seine Liebe zu Karin in vielen Gedichten beschworen.
Zwischen diesen Text aus der Gegenwart flicht der Autor zwei weitere Erzählstränge, die in die Vergangenheit führen.
Dabei geht er zum einen ins Jahr 1988, als er bei seinen Großeltern zu Besuch ist. So wirft er aus der kindlichen Perspektive einen kritischen Blick auf seinen Großvater, der seine Frau dominiert und schikaniert. Spürbar ist dabei die Liebe des Enkels zur Großmutter, die geduldig und demütig das furchtbare Verhalten ihres Mannes erträgt. Nicht ohne Grund widmet ihr Alex Schulmann sein Buch.
Im Zentrum des Romans steht aber das Schicksalsjahr 1932. Hier erlebt der Leser eine Liebesgeschichte voller Gefühl und Dramatik, eine Liebe, die, obwohl sie nicht gelebt werden konnte, ein Leben lang andauert. Davon zeugen die Liebesbriefe ( Auszüge finden sich im Buch ), die Olof an Karin gesendet hat und die sie sechzig Jahre lang heimlich gehütet hat wie einen Schatz. Mit ihnen konnte sie sich in „ das Land, das nicht ist“ hinein träumen.
Alex Schulmann beschreibt diese Liebesgeschichte einfühlsam und berührend und voller Poesie. Das ist herzzerreißend. Gleichzeitig liest man ungläubig und schockiert, was sich Sven Stolpe alles einfallen lässt, um diese Liebe zu unterbinden.
Das Buch hat mich ungeheuer beeindruckt und erschüttert. Beeindruckt, mit welcher A

Bewertung vom 13.08.2022
Isidor
Kupferberg, Shelly

Isidor


ausgezeichnet

Spuren jüdischen Lebens

Über die Zeit des Nationalsozialismus habe ich schon sehr viel gelesen - Fiktionales, Biographien, aber auch Sachbücher. Und von ähnlichen Schicksalen, von denen die Autorin Shelly Kupferberg schreibt, wird in unendlich vielen Büchern erzählt.
Trotzdem hat dieses Buch „ Isidor“ seine Berechtigung. Denn jedes dieser Leben ist es wert, aufgeschrieben zu werden, als Erinnerung und Mahnmal. Gerade weil es von den vielen ermordeten Juden so wenig Hinterlassenschaften gibt. „Umso wichtiger sind die Geschichten, die überlebt haben. Und weitererzählt werden.“ wie die Autorin in ihren Dankesworten schreibt.
Um über das Leben ihres Urgroßonkels Isidor Gellert schreiben zu können, hat die in Israel geborene und in Berlin lebende Journalistin Shelly Kupferberg ausgiebig recherchiert. Sie wurde fündig in diversen österreichischen Archiven, auf dem Dachboden ihrer Großeltern in Tel Aviv und konnte aus den Erinnerungen ihrer Verwandten schöpfen. Aus den vielen Dokumenten, Briefen, Photos und mehr hat sie ein lebendiges Bild von ihrer Familie und jener Zeit geschaffen.
Geboren wurde der Urgroßonkel Ende des 19. Jahrhunderts in einem Schtetl in Ostgalizien als Sohn eines Talmudgelehrten. Der erhielt als frommer Gelehrter keinen Lohn, deshalb lag es an der Mutter, die siebenköpfige Familie durchzubringen. Die Kinder waren weniger fromm, dafür klug und ehrgeizig und sie wollten raus aus der Enge des Schtetls. Aus Israel wurde Isidor, als er später zum Studieren nach Wien ging. Denn er begriff bald, dass der jüdische Name ein Hindernis auf dem geplanten Weg nach oben sein würde.
Isidor promoviert als Jurist und steigt schnell die Karriereleiter hoch. Er hat Glück, denn in seiner Funktion als Leiter eines kriegswichtigen Betriebes muss er nicht an die Front. Mit zusätzlichen Geschäften auf dem Schwarzmarkt verdient er gutes Geld, das er gewinnbringend anlegt. Und als der Erste Weltkrieg vorbei, das große Habsburgerreich Geschichte war, ist Isidor ein sehr reicher Mann.
Er wird Kommerzialrat und gibt Gesellschaften für die obersten Kreise Wiens.
Privat hat der Bonvivant und Frauenfreund weniger Glück. Zwei Ehen scheitern, eine junge Geliebte macht ohne ihn Karriere in Hollywood.
Doch all sein Geld und sein Ansehen nützen nichts, als die Nazis auch in Österreich an die Macht kommen. Wie so viele hat er deren Vernichtungswahn unterschätzt und seine Reputation überschätzt.
Isidor ist eine schillernde Figur. Er war stolz auf seinen gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg, von der armseligen Hütte im fernen Galizien bis in den Ersten Bezirk Wiens. Der Liebhaber von Kunst, Musik und schöner Frauen war genussfreudig und großzügig, konnte aber auch herrisch und bestimmend sein.
Neben dem titelgebenden Isidor streift die Autorin aber auch immer wieder die Lebenswege anderer Familienmitglieder und Menschen aus dem näheren Umfeld ihres Urgroßonkels. So entsteht ein anschauliches Bild jüdischen Lebens in jener Zeit.
Obwohl ich wirklich gut über das Thema Nationalsozialismus und Holocaust Bescheid weiß, konnte mich die Autorin mit einem speziellen Detail überraschen. Wer hätte gedacht, dass der „ Stürmer“- Herausgeber und Judenfresser Julius Streicher in ganz Europa eine Bibliothek jüdischer Literatur zusammengeraubt hat ? Heute befindet sich die sog. „ Stürmer - und Streicherbibliothek“ in Nürnberg , verwaltet von der Israelitischen Kultusgemeinde. Shelly Kupferberg stieß darin tatsächlich auf ein Buch aus dem Besitz ihres Urgroßonkels.
Das Buch liest sich flüssig und fesselt von Beginn an. Der Schreibstil ist eher nüchtern und sachlich, trotzdem geht dem Leser das Schicksal der Personen sehr nahe.
Ein schmales Buch, das aber mehr als ein bemerkenswertes Leben umfasst.

Bewertung vom 19.07.2022
Billy Backe und der Wilde Süden / Billy Backe Bd.3
Orths, Markus

Billy Backe und der Wilde Süden / Billy Backe Bd.3


ausgezeichnet

Herrlich schräg und voller Wortwitz

Mein 6jähriger Enkel war begeistert von den vorigen zwei Bänden von Billy Backe und da war es klar, dass der dritte Band auch gekauft werden muss.
Wieder werden das pfiffige Murmeltier Billy Backe und seine beste Freundin , das Eichhörnchen Polly Posthörnchen vor Herausforderungen gestellt. Unterstützung bekommen sie von dem Schrönk und dem Cowboy Billy the Kid mit seinem Pferd Rosa. Aber auch von dem Murmeltierbaby Mini Murmel und dessen Windel Jimbo, ein besonderes Exemplar seiner Zunft. Denn es ist eine Kampfwindel, die sprechen kann, Pipinesisch und ein paar Brocken Kakalanisch.
Schon hier ist Markus Orths spezieller Wortwitz erkennbar.
Bei ihrem neuesten Abenteuer machen sie sich auf die Suche nach den familiären Wurzeln des Schrönk. Dabei führt sie ihre Reise in den gefährlichen Wilden Süden. Doch bevor es losgehen kann, muss erst einmal der Schrönk aus seiner Ohnmacht geweckt werden. Das schafft schließlich Billy the Kid mit Hilfe blähender Lebensmittel.
Für empfindliche Gemüter ist diese Geschichte also nichts. Alle anderen, Kinder vor allem, werden ihre helle Freude haben an den aberwitzigen Abenteuer dieser Bande.
Markus Orths erzählt mit viel Phantasie und Wortwitz und mit Freude an skurrilen Figuren und absurden und schrägen Episoden. Sein kreativer Umgang mit Sprache treibt herrliche Blüten. So werden z.B. die Misons, also mies gelaunte Bisons von den Rashörnern gejagt; später trifft man auf pink gefärbte Pinkuine und auf einen maulenden und werfenden Maulwurf.
Wunderbar wird der Text ergänzt durch die farbenfrohen Illustrationen, die zum Entdecken vieler Details einladen. Von Kreativität zeugt auch der weiße Text auf schwarzen Seiten für die Geschichte, die im Dunklen Wald spielt.
Hilfreich sind die beiden Landkarten, die im Einbandinneren abgedruckt sind. So lässt sich hier sehr gut verfolgen, wo der jeweilige Schauplatz der einzelnen Episoden ist. Auch der kurze Steckbrief der Hauptfiguren erleichtert den Einstieg ins Buch.
Der dritte Band lässt sich ohne Kenntnis der beiden Vorgängerromane lesen. Aber danach wird man unbedingt diese auch noch kennenlernen wollen. So lässt sich dann die Zeit bis zum vierten Band im Frühjahr 2023 überbrücken.
„ Billy Backe und der Wilde Süden“ ist ein höchst unterhaltsamer und spannender Vorlesespaß für Kinder ab 6 Jahren. Erwachsene Vorleser, die sich ein „ kindliches Gemüt“ bewahrt haben, werden auch ihr Vergnügen dabei haben.

Bewertung vom 19.07.2022
Beifang
Simons, Martin

Beifang


ausgezeichnet

Dreifacher Beifang
„ Beifang“, so heißt nicht nur die Zechensiedlung am Rande des Ruhrgebiets, wo der Ich- Erzähler aufgewachsen ist, „ Beifang“ ist auch ein Begriff aus dem Fischereiwesen. So werden Fische und andere Meerestiere bezeichnet, die zwar im Netz gelandet sind, aber nicht das eigentliche Fangziel waren. Der größte Teil davon wird als Abfall wieder über Bord geworfen - manches überlebt schwer verletzt.
Seelisch verwundete Überlebende sind beinahe alle, von denen Martin Simons schreibt.
Frank Zimmermann, ein Mann Anfang Vierzig, ist der Ich- Erzähler. Obwohl er als erster aus der Sippe der Zimmermanns Abitur gemacht und ein Studium absolviert hatte, wurde nichts aus seinem Plan, ein erfolgreicher Journalist und Drehbuchautor zu werden. Stattdessen schlägt er sich als freier Texter mehr schlecht als recht durchs Leben. Er liebt seinen 12jährigen Sohn, sieht ihn aber nur zweimal im Jahr. Mit Marie, einer verheirateten Frau, verbindet ihn ein sehr loses Verhältnis. „ Wenn lebendig zu sein bedeutete, von Emotionen und Sensationen durchströmt zu werden, dann war ich eher tot.“ So beschreibt er sich selbst.
Sind die Gründe für seine Bindungsunfähigkeit, seine Planlosigkeit in seiner Familiengeschichte zu finden?
Als die Eltern ihr Haus verkaufen, um in eine Anlage für Senioren zu ziehen, reist Frank zurück ins Ruhrgebiet. Vielleicht gibt es ja noch Dinge, die er als Andenken behalten möchte. Über eine alte Holzkiste, die der Vater von seinem Vater geerbt hatte, versucht Frank ins Gespräch zu kommen. Doch der Vater hatte schon immer auf Fragen nach seiner Kindheit sehr einsilbig reagiert, erzählte höchstens einzelne, eher skurrile Begebenheiten .
So beschließt Frank Kontakt aufzunehmen zu einigen der elf Geschwistern des Vaters. Bei den Gesprächen mit Onkeln und Tanten erfährt er manches. Und trotz unterschiedlicher Sichtweisen kristallisiert sich aus den vielen Episoden und Anekdoten das Bild einer Kindheit voll bitterster Armut, voller Gewalt und Perspektivlosigkeit..
Die Großeltern waren kaum in der Lage, ihre zwölf Kinder mit dem Allernotwendigsten zu versorgen. Vom Wirtschaftswunder merkte die Familie nichts. Die Wohnverhältnisse waren äußerst beengt, Hunger war steter Begleiter, Schläge waren an der Tagesordnung. In der Siedlung waren die Zimmermanns als asoziale Außenseiter verrufen.
Als Frank seinem Vater zum Geburtstag das Buch „ Die Asche meiner Mutter“ geschenkt hat, meinte dieser später nur „ Bei uns war es schlimmer.“ Wer Frank McCourts Autobiographie kennt, kann ermessen, was diese Aussage bedeutet.
Obwohl die Geschwister nicht dumm waren, blieb ihnen schulischer Erfolg und beruflicher Aufstieg versagt. Früh mussten sie in ungeliebten Berufen Geld verdienen.
Franks Vater wurde mit 18 Jahren selbst Vater und danach hieß es ein Leben lang hart arbeiten, damit es die eigene Familie mal besser hat.
Martin Simons beschreibt hier eine bundesrepublikanische Familiengeschichte, wie sie nicht oft in der Literatur zu finden war. Erst in letzter Zeit gibt es Autoren, die diesem Milieu Beachtung schenken. Denn in der Realität gibt es diese Geschichten und es ist notwendig, davon zu erzählen.
Der Autor fragt sich, was ein solches Aufwachsen mit einem macht. Wie verarbeitet man die Armut, die Gewalt? Über seinen Vater schreibt er : „Ich wusste ja nicht, was es ihn gekostet hatte, die eigene Vergangenheit zu überleben.“
Erstaunlicherweise findet der Ich- Erzähler bei seinem Vater und dessen Geschwistern kein Selbstmitleid, keine Verbitterung, kein Jammern, eher ein trotziger Stolz, es trotzdem irgendwie geschafft zu haben.
Der Ich- Erzähler hat sein Netz ausgeworfen und vieles eingefangen. Auch wenn nicht alle Fragen beantwortet wurden, so ergibt sein „ Beifang“ ein vielfältiges und faszinierendes Gesamtbild.
Martin Simons schreibt nüchtern, völlig unpathetisch. Gleichwohl hat mich das Schicksal der Figuren berührt. Anschaulich schildert er die Zustände jener Zeit, lässt die einzelnen Protagonist