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Benutzername: 
Julia
Wohnort: 
Kassel

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 22.10.2020
Der letzte Papierkranich - Eine Geschichte aus Hiroshima
Drewery, Kerry

Der letzte Papierkranich - Eine Geschichte aus Hiroshima


ausgezeichnet

1945: Ichiro und sein bester Freund Hiro überleben knapp den Atombombenangriff auf Hiroshima. Nach dem ersten Schreck wächst die Sorge, was aus Hiros kleiner Schwester Keiko geworden ist, sie ist morgens von den beiden in den Kindergarten gebracht worden. Sie machen sich in der zerstörten Stadt auf die Suche. Ab da belasten ein altes und ein neues Versprechen Ichiro Seele schwer. Erst als er ein alter Mann ist, lockt seine Enkelin Mizuki das Geheimnis aus ihm heraus.

Ein ganz besonderes Buch, schon für Jugendliche geeignet. Die Erzählweise ist ungewöhnlich, Beginn und Ende der Geschichte sind lyrisch, jede Seite bietet kleine Weisheiten, sogenannte Haikus, die mit japanischer Kalligraphiekunst sehr anmutig wirken. Der Mittelteil, der im Jahr 1945 spielt, ist prosaisch, die Atmosphäre der Erzählung wird durch Illustrationen perfekt eingefangen.

Das ganze Buch wirkt hochwertig und aufwendig, wirklich eindrucksvoll.

Und das Beste: Die Geschichte über ein Versprechen, das nicht gehalten werden konnte, über Mut und Verzweiflung, über Schuld und Vergebung aber auch über Hoffnung ist einfach großartig.

Bewertung vom 06.10.2020
Der Winter des Bären
Hargrave, Kiran Millwood

Der Winter des Bären


weniger gut

Ich habe "Der Winter des Bären" meinen 3 Kindern vorgelesen, sie sind 6, 11 und 14 Jahre alt. Das empfohlene Lesealter ist 8-14 Jahre.

Mich als Vorleserin hat das Buch leider nicht begeistert. Die Geschichte um 4 Waisenkinder, die in einem zu ewigem Winter verzauberten Wald leben ist grundsätzlich spannend. Man wird von einem Erzähler durch die Ereignisse geführt und dabei hauptsächlich auf Milas Sicht eingegangen. Das hat mich irgendwie irritiert, sie war ganz klar die Hauptfigur, ich hab nur bis zum Schluss nicht verstanden, wieso. Es war irgendwie subjektiv betrachtet eine inkonsequente Erzählweise. Was ich zunehmend anstrengend fand, war die Theatralik der beschriebenen Gefühlswelt. Bohrende Schmerzen in der Schläfe, eisige Krallen, die sich um das Herz schließen in fast jedem Satz. Und alles sehr negativ belastet, ständig Schmerz und Leid und Angst, eine düstere Atmosphäre, die ich absolut nicht geeignet für ein Kinderbuch finde.

Aus Sicht meiner Kinder gibt es zu viele Todesfälle, nicht grade zimperlich beschrieben mit viel Blut und einfach unnötiger Grausamkeit. Es gibt auch zu viele Unklarheiten am Ende und den Kindern war nicht klar, wer nun gut und böse war.

Fazit der Kinder: War okay, müssen wir aber nicht nochmal lesen.

Mein Fazit: zu grausam und negativ für junge Kinder, ältere durchauen aber die vielen Schwachpunkte der Handlung.

Bewertung vom 22.09.2020
Die zitternde Welt
Paar, Tanja

Die zitternde Welt


ausgezeichnet

Ich weiß jetzt, wieso der Klappentext und die Inhaltsangabe von "Die zitternde Welt" so nebulös formuliert sind. Auch Titel und Cover werfen mehr Rätsel auf als Licht in den Inhalt des Buches!
Es handelt sich um eine Familiengeschichte, beginnend mit Maria, die hochschwanger Wilhelm, dem zukünftigen Vater des Kindes, nach Anatolien folgt. Sie bauen sich dort eine Heimat auf und gründen eine Familie. Die Beziehung zwischen Maria und Wilhelm, die es zu Wohlstand gebracht haben, ist geprägt von Unterschieden, sowohl was ihr Temperament angeht als auch das Verständnis von Glück, von Freiheit.
Als der erste Weltkrieg ausbricht wird die Idylle zerstört, das, was Glück und Heimat für Maria bedeutet, wird ihr genommen. In immer schneller kreisenden Perspektiv- und Ortswechseln und Zeitsprüngen erleben wir, wie eine Familie teils zerrissen wird, sich andererseits auch völlig bewusst voneinander entfernt.
Für mich standen im Zentrum der Geschichte die sich gegenüberstehenden Seiten. Vieles steht in Konkurrenz oder Konflikt zueinander.
Heimat und Herkunft.
Zugehörigkeit und Ausgrenzung.
Verlust und Gewinn.
Kultur, Tradition, Vorurteile, Werte.
Es geht auch um die Rolle der Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um die Rolle der Frau im osmanischen Reich, in Europa und auch das Rollenverständnis losgelöst von Kultur und Zeitalter.
Man erfährt auf den verblüffend wenigen 300 Seiten des Buches allerhand Hintergründe aus Politik, Geschichte und Wirtschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Diese fügen sich wie selbstverständlich in die Geschichte der Familie und ihres Umfeldes ein.
Am Ende des Buches, das mitten im 2. Weltkrieg spielt, fragt man sich: Ist Heimat ein Segen oder ein Fluch? Was, wenn man nicht zurück nach Hause kann oder will. Was, wenn man überall fremd ist, weil es deine Heimat so wie du sie kennst nicht mehr gibt?
Ein hochaktuelles Thema in einer Familiengeschichte verpackt, die alles einmal anders erzählt, ungewohnt und ungewöhnlich.
Tanja Paar ist es gelungen, mich in den Bann der geschichtlichen und politischen Verwicklungen zu ziehen und hat bei all der Tragik der geschilderten Ereignisse trotzdem kein trauriges Buch geschrieben.
Mir hat besonders die Zeichnung der Charaktere gefallen, alle Figuren sind sehr echt und lebendig, greifbar für mich gewesen. Obwohl die Erzählweise nicht homogen ist und der Perspektivwechsel teils aprupt fand ich nie etwas unübersichtlich oder verwirrend, ich fand den Stil ganz neu und das hat mir gut gefallen.
Es ist ein einzigartiges Buch muss ich sagen, es sticht heraus, es bleibt im Kopf. Ich habe es sehr gemocht!

Bewertung vom 08.09.2020
Jahresringe
Wagner, Andreas

Jahresringe


ausgezeichnet

Leonore ist fremd, ein Mädchen, allein auf sich gestellt, heimatlos. "Nach Westen, nur nach Westen" hat ihre Mutter sie beschworen. Dann strandet sie, eine Evangelische, in einem erzkatholischen kleinen Dorf, doch so schwer es ihr auch gemacht wird, sie sie findet Vertraute und Freunde - und bleibt.
Leonore begleitet uns durch das ganze Buch, doch nur im ersten Drittel ist sie die Hauptfigur. Im zweiten Drittel tritt Leonore in den Hintergrund, erzählt wird nun nach einen Zeitsprung von Pauls Kindheit und Jugend, er ist Leonores einziges Kind. Seine Sicht als Heranwachsender auf seine Heimat, seine Mutter und seine enge Freundschaft zu John tragen die Geschichte weiter. Zum Ende des zweiten Abschnitts spitzt sich eine Entwicklung zu, die nach und nach alle Bewohner des Dorfes zu Heimatlosen macht, das Wohngebiet muss einem Braunkohletagebau weichen, Paul und Leonore und alle Nachbarn werden umgesiedelt.
Im letzten Drittel spielen Leonore und Paul weiterhin eine Rolle. Hinzu kommen nun Sarah und Jan, Pauls Kinder. Und diese stehen auf ganz unterschiedlichen Seiten, Sarah als Klimaaktivistin im Baumhaus des bedrohten Waldes, Jan im Bagger des Braunkohlebergwerks. Für beide gibt es nur ihre Seite als die Richtige.
Mir hat "Jahresringe" von Andreas Wagner sehr gefallen. Und zwar, weil es zwar in einer bestimmten Zeit spielt, an einem genau benannten Ort, jedoch könnte es auch an jedem anderen Ort der Welt sein. Um was es in dem Buch geht, Heimatlosigkeit, Entwurzelung und Verlust von Traditionen, das passiert überall auf der Welt. Freundschaft, Familie, Trennung und Verlust sind Themen, die jeden beschäftigen. Finanzielle Sicherheit, Zukunftsängste, Verantwortung tragen, wen treibt das nicht um.
So vieles steht in diesem Buch, auf diesen 260 Seiten, in einer Sprache so einfach und schlicht, aus Worten die nicht weh tun, auch wenn sie Trauriges erzählen. Eine Sprache, die tröstet, die einen verstehen macht, die einen wärmt.
Ich kann nur Gutes sagen, ein wunderbares Romandebüt mit einer - nein vieler wichtiger Botschaften.

Bewertung vom 01.09.2020
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Ferrante, Elena

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen


sehr gut

Dies war mein erster Roman von Elena Ferrante und ich muss zugeben, dass ich vorher noch nicht von ihr gehört habe. Um die Autorin gibt es einen ziemlichen Hype, was nicht zuletzt daran liegt, dass der Name ein Pseudonym ist, ist es überhaupt eine Autorin? Oder mehrere? Oder hat nicht sogar ein Mann die Bücher geschrieben?
Nun, für mich als Leser ist das tatsächlich völlig unwichtig, auch die Begeisterung um ihre Bücher, und so machte ich mich auf, selbst eines ihrer Bücher zu erkunden und mir eine eigene Meinung zu bilden - und das war in der Tat nicht so einfach!
"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" wird aus Sicht von Giovanna erzählt, die behütet und wohlerzogen im gehobenen Wohngebiet von Neapel aufwächst. Von ihren Eltern geliebt und gefördert erlebt sie eine glückliche, unbeschwerte Kindheit ohne Sorgen mit festen Arbeitszeiten der Eltern und eingespielten Alltagsritualen. Doch die Sicherheit gerät mit Beginn der Pubertät ins Wanken durch eine Äußerung des Vaters, in deren Folge das Mädchen sich, ihr Aussehen, ihre Freundschaften und das perfekte Familienleben infrage stellt. Wer bin ich? Bin ich gut oder bin ich schlecht? Auf wessen Seite stehe ich und wer steht auf meiner? Was macht mich glücklich?
Elena Ferrante beschreibt ganz großartig das Seelenleben eines Teenagers zwischen 13 und 15 Jahren, die Unsicherheit und das plötzliche Wahrnehmen der Welt um sie herum mitsamt ihrer Lügen.
Ich habe mich jeden Tag gefreut, nach Hause zu kommen und weiter über diese Familie zu lesen, deren Fehler Giovanna nach und nach aufdeckt und analysiert, teilweise auch imitiert. Ich finde das sehr gelungen beschrieben, diesen plötzlichen Wandel, der über die Pubertierende hereinbricht, das Rebellische, die Wut und die Verzweiflung, aber auch die Zufriedenheit darüber, sich bewusst zu werden, dass auch sie Einfluss haben kann auf andere, und wenn es schlechter Einfluß ist.
Nun das Aber: Es geht mir zwischendurch zu sehr um das sexuelle erwachsen werden. Ich glaube wohl, das ist ein großer Teil der Entwicklung, aber es kommt mir doch etwas zu derb und zu vulgär daher und scheint nichts Gutes an sich zu haben, Hauptsache man verliert seine Unschuld. Das hat den Rest leider ein bisschen überlagert, die mit einer so tollen Sprache dargestellte ambivalente Stimmung, das mit sich selbst nicht im Reinen sein einer Heranwachsenden. Die Protagonistin kommt mir, was das Sexuelle angeht, zu abgeklärt vor, es ist keine Unsicherheit spürbar.
Die Geschichte wird retrospektiv betrachtet, wie alt die Erzählerin ist, wird nicht gesagt. Doch mal wird ein Erlebnis mit den Worten abgetan, genau wisse sie das auch nicht mehr, wobei ansonsten alles Wort für Wort mit Hintergrundgeräuschen und vorherrschendem Wetter und Gesichtsausdruck der Personen wiedergegeben wird, diese Passagen kamen mir vor, als hätte sie ein anderer geschrieben.
Alles in allem ein tolles Buch. Ich habe eine 14-Jährige Tochter und ich war selbst einmal eine 14-Jährige Tochter. Uns beide würde ich nicht als rebellisch beschreiben, aber was in diesem Buch steht ist so treffend formuliert, dass ich zum Teil verblüfft war.