Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ninchenpinchen
Wohnort: 
Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 72 Bewertungen
Bewertung vom 20.04.2021
Der Junge, der das Universum verschlang
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


ausgezeichnet

Vom toten blauen Zaunkönig

Das schräge, farbenfrohe dicke Buch mit seinen 560 Seiten fällt schon allein durch das prächtig gestaltete Cover, farbige Vorsatzblätter und ein wirklich prachtvolles Gesamt-Design auf. Und ich liebe gebundene Bücher mit Lesebändchen! Zwar ist der blaue Vogel auf dem Cover eher eine Meise als ein Zaunkönig(?), macht aber nichts.

Trent Dalton, der Autor, stammt aus Australien und da ich relativ selten Bücher aus Australien in Händen halte, ist dies in jedem Fall sowieso schon etwas ganz Besonderes. Alexander Weber hat kongenial übersetzt und ein großes Lob gebührt auch ihm.

Die möglicherweise autobiographische Geschichte des Autors, beginnt in den achtziger Jahren in Brisbane. Eli Bell erzählt in der Ich-Form, am Anfang ist er acht Jahre alt und sein Bruder August, genannt Gus, ist neun. Die Brüder leben zunächst mit ihrer Mum und ihrem geliebten Stiefvater Lyle (Ja, der ist hier ausnahmsweise mal der Gute!) in einem kleinen geerbten Häuschen, das Lyle von seinen Eltern bekommen hat. Wenn Mum und Lyle mal keine Zeit haben, weil sie Drogendeals einfädeln müssen, dann passt Slim, der engagierte Babysitter, auf die Brüder auf. Slim ist ein Ausbrecherkönig, soll einen Taxifahrer ermordet haben, aber er liebt die Kinder und sie lieben ihn. Der „richtige“ Vater der Brüder, Robert Bell, wird später auch noch eine größere Rolle spielen.

In den etwa zehn Jahren, die diesen Erzählbogen umspannen, da passiert unheimlich viel. Schönes, Schräges und auch sehr Schreckliches, was die Brüder in ihrer starken Gemeinschaft relativ gut verkraften. Manches erinnert an einen Episodenroman, obwohl immer dieselben Figuren eine Rolle spielen, wenn sich auch die Unterkünfte und die Betreuer im Laufe der Zeit ändern.

Eli, der unerschrockene Gefahrensucher, neigt oft dazu, sich in besonders katastrophale Situationen hinein zu manövrieren, wo er sicher am Anfang nicht abschätzen kann, wo das hinführt.
Elis Bruder Gus spricht nicht, obwohl er sprechen könnte. Meistens malt er Worte und Sätze in die Luft, die aber nur Eli erkennt. Oder die Brüder verstehen sich ganz ohne Worte.

Hin und wieder markierte ich Stellen mit Alben, Songs oder Fernsehserien, um mich in die Zeit hineinzuversetzen, in der der Roman spielt. Z. B. wird oft von der US-Amerikanischen Seifenoper „Days of Our Lives“ gesprochen, die startete tatsächlich im Jahr 1965 und wird bis heute(!) 2021 produziert.

Mit den auf Seite 114 erwähnten Aga-Kröten (Cane Toad) habe ich mich auch beschäftigt. Zitat: „[…] als ich sechs Aga-Kröten in den Gefrierschrank gesteckt habe, damit sie dort eines gnädigen Todes starben, und die zähen unansehnlichen Amphibien stattdessen in ihrem Tiefkühlsarg überlebten und Lyle, als er die Tür öffnete, um sich einen Feierabenddrink zu holen, auf seinen Eiswürfeln hockend anglotzten.“ – Einst, 1935, als Zuckerrohrkäfer-Vernichter ins Land geholt, hat sich diese giftige Krötenart in Australien derart vermehrt, dass inzwischen auf jeden Einwohner 420 Tiere kommen(!). Es hatte also fatale Folgen, das Ökosystem durch Menschenhand zu verändern.

Eli träumt davon Kriminalreporter bei der Courier-Mail zu werden, dort arbeitet auch die von ihm angebetete Caitlyn. Er möchte auch ein Haus im „Gap“ haben. Darüber unterhält er sich mit seinem Schulfreund und –feind Darren, der gibt seinen Senf dazu, S. 76: „Du musst ’nen Uniabschluss machen und dann bei irgendeinem Arschloch um ’nen Job betteln, damit er dich dreißig Jahre rumkommandiert, und du musst jeden Penny sparen, und wenn du endlich genug zusammengekratzt hast, gibt’s im Gap kein Haus mehr, das du kaufen kannst!“

Fazit: Wer Schräges und gleichermaßen Unterhaltsames lesen möchte, was teils krass gegen den Strich gebürstet ist, der ist hier genau richtig. Ein paar Lebensweisheiten und Weiterbildung gibt’s gratis dazu, denn wisst ihr, S. 433: […] der Sinn unseres Lebens besteht im Grund darin, das zu tun, was richtig ist, nicht das, was einfach ist.“ Fünf Sterne!

Bewertung vom 25.03.2021
Enriettas Vermächtnis
Madsack, Sylvia

Enriettas Vermächtnis


ausgezeichnet

Eine bizarre Konstellation

Sylvia Madsacks Roman „Enriettas Vermächtnis“ spielt in der Gegenwart, allerdings gänzlich ohne Corona. Denn die Protagonisten halten sich überwiegend in Hotels, Restaurants und Cafés auf, die natürlich alle geöffnet haben und die ihre Gäste mit ihren zahlreichen Spezialitäten herzlich willkommen heißen. Überhaupt spielen Essen & Trinken eine große Rolle.

Die Schauplätze des Romans sind Buenos Aires, Zürich und Salzburg. Besonders Salzburg und Umgebung wird so verheißungsvoll beschrieben, dass frau am liebsten sofort dorthin reisen möchte.

Worum geht es nun? Enrietta da Silva aus Argentinien, die titelgebende Figur ist hochbetagt verstorben und hinterlässt ein großes Vermögen an Bargeld und Immobilien, die aber veräußert werden sollen. Laut Testament beerben sie hälftig eine jüngere ehemalige Schauspielerin aus Salzburg, Jana, und ein Arzt aus Argentinien, Emilio. Die beiden kannten sich zuvor nicht. Der Schweizer Jurist und Testamentsvollstrecker Andreas Leuthard erweist sich nicht nur als hochprofessionell, sondern auch als psychologisch sehr versiert.

Als Jana und Emilio sich in der Kanzlei kennenlernen und später näher kommen, taucht Enriettas leiblicher Sohn auf, der im Testament nicht erwähnt wurde und von dem auch der Anwalt und Jana nichts wussten.
Armando da Silva ist überaus attraktiv, gilt als vermögender Verbrecher und ihm stehen nach Schweizer Recht außerdem drei Viertel des Riesenerbes zu. Das also ist die Ausgangssituation dieser bizarren Geschichte, deren Handlung und Charaktere natürlich frei erfunden sind. So steht es hinten und wird wohl gerade deshalb nicht stimmen.

Ich habe das Buch, was ich unbedingt haben wollte, innerhalb von vier Tagen verschlungen. Sehr untypisch für mich. Das Einzige, was mich gestört hat, ist, dass die Protagonisten sich sehr schnell sehr viel näher kommen, als es in der Realität sicher üblich ist.

Das Cover, die Wahl der Farben samt Haptik dieses wunderbaren Buches empfinde ich als überaus gelungen. Schrift und Zeilenfall stehen im perfekten Verhältnis und auch das von mir immer sehr geschätzte Lesebändchen ist vorhanden.

Fazit: Ja, ich bin neidisch auf die Protagonisten. Nicht weil sie viel Geld haben oder bald bekommen, sondern weil sie sich frei bewegen können, denn „Leben bedeutet, zu tun, nicht, zu unterlassen.“ (Seite 220) Viereinhalb Sterne.

Bewertung vom 25.02.2021
Die Mitternachtsbibliothek
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek


sehr gut

Wege ins Diesseits

Oder welche Träume sind meine eigenen?

Es gibt Tage, an denen alles schief geht. Nora hat einen Kater namens Voltaire und sie liebt Volts sehr. Als er plötzlich tot am Straßenrand liegt und ihr Chef ihr auch noch unerwartet kündigt, ist sie sehr verzweifelt. Ihre beste Freundin Izzy ist weit weg, in Australien, die Eltern sind tot und zu ihrem Bruder Joe ist der Kontakt abgebrochen. Noras Nachbar, Mr. Banerjee, braucht sie auch nicht mehr, denn der Apothekenjunge bringt seine Tabletten jetzt zu ihm ins Haus. Das hat Nora vorher gemacht. Und Leos Mutter Doreen sagt seine Klavierstunden nun generell ab, weil Nora zur verabredeten Zeit gar nicht zu Hause war. Noras Verzweiflung nimmt überhand und so will sie sich umbringen, mit Tabletten. Aber sie stirbt nicht.

Nora landet in einer Zwischenwelt, in der Mitternachtsbibliothek und Mrs. Elm, ihre alte Schulbibliothekarin erwartet sie dort. In den Regalen stehen die Bücher mit den alternativen Leben, die Nora hätte führen können …
Nun rutscht Nora zunächst in die Träume der anderen. Da gibt es Dan, den sie heiraten wollte, aber sie hat es sich in letzter Minute anders überlegt. Dans Traum war eine Kneipe auf dem Land mit sich selbst als bestem Kunden. Izzys Traum war ein Leben in Australien.

„Nora erkannte, dass die anderen Menschen, egal wie ehrlich man zu ihnen ist, die Wahrheit nur dann sehen, wenn sie nah genug an ihrer eigenen Realität liegt.“ Seite 269
Es gibt unzählige Begegnungen in unzähligen Leben und es ist schon ein Kunststück des Verfassers, dass man als Leser stets den Überblick behält. Das kommt alles sehr leichtfüßig daher, sehr kreativ und manchmal schräg gegen den Strich gebürstet.

Einzig der Referenzschwule, Noras Bruder Joe, hat mich extrem gestört, dafür gibt es einen Stern Abzug! So was kann ich echt nicht leiden, man gewinnt ja fast den Eindruck, als gäbe es ohne Schwule, Lesben oder Transgender kein Geld mehr für Publikationen.

Fazit: Ansonsten sind die Figuren und die jeweiligen Sets hervorragend ausgearbeitet, man kann sich bestens in die jeweiligen Situationen einfühlen, erlebt alles hautnah mit. Ein mögliches, sehr berührendes Ende kann man sich ausmalen. Ungewöhnliche und sehr empfehlenswerte Lektüre, bei der man sehr viel lernen kann, wenn man auf die wirklich zahlreichen angebotenen Themen aufspringt.

Bewertung vom 15.02.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


gut

Ausweglos

Cho Nam-Joo schrieb „Kim Jiyoung, geboren 1982“.

Jiyoung kommt aus einer Familie aus Korea mit weiteren fünf Personen: Vater, Mutter, Großmutter, ältere Schwester, jüngerer Bruder. Sie ist gut organisiert, bravourös in Schule und Universität, pflegt sehr ihr Äußeres, schafft ihre Abschlüsse mit guten Noten. Dennoch tut sie sich schwer, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Die Firmen wollen keine Frauen. Spätestens am Ende des Buches versteht man auch warum. Dazu passt dieses Zitat, Seite 111: „Wenn Frauen zu klug sind, fürchten Firmen, dass sie sich mit ihnen nichts als Ärger ins Haus holen. Sie sind das beste Beispiel dafür, meine Teuerste. Sie sehen doch, was Sie uns für Scherereien machen.“

„Die Republik Korea ist unter den OECD-Mitgliedern das Land mit dem größten Lohngefälle zwischen Männern und Frauen. Laut einer Statistik aus dem Jahr 2014 verdienen Frauen OECD-weit umgerechnet 844 Dollar auf 1000 Dollar Einkommen der Männer, in Korea sind es lediglich 633 Dollar.“ Seiten 144, 145. OECD = Organization for Economic Co-operation and Development, mit 37 Mitgliedstaaten.

Also hören die Frauen dann auf zu arbeiten, sobald ein Kind unterwegs ist. Alle Mühsal mit Schule, Uni und nervenaufreibender Arbeitssuche umsonst. Kann dann später das Kind mehr oder weniger alleine bleiben, finden sich für die meist akademischen Mütter nur noch Jobs wie etwa Eisverkäuferin. So sagt eine Eisverkäuferin zu unserer Protagonistin, als diese sich nach der Nachfolgearbeit erkundigt: „Ich habe auch einen Universitätsabschluss.“ S. 190. Deshalb dreht Jiyoung durch. Verständlich. Puh.

Einige weitere Zitate möchte ich noch erwähnen, die mir ungewöhnlich erschienen. Jiyoungs Eltern streiten sich am Frühstückstisch und die Mutter verschafft sich Gehör, S. 121: „Was sagst du da Dämliches? [Zum Vater] In welchem Jahrhundert leben wir denn? [Zu Jiyoung] … pfeif auf den Anstand. Tobe dich aus! Probiere dich in allem aus! Verstanden?“

S. 158,159: Daehyon, Jiyoungs Ehemann zu ihr: „Damit wir das lästige Geschwätz los sind, lass uns ein Kind machen und großziehen, solange wir noch so jung sind. […] Er sagte das so unbekümmert, als ginge es darum, eine norwegische Makrele zu kaufen oder ein Puzzle mit Gustav Klimts Bild >Der Kuss< zusammenzusetzen und an die Wand zu hängen.“

Jiyoung muss dann ihre so mühselig gesuchte Arbeit kündigen und denkt dann, S. 170: „Es war immerhin ihr erster Job gewesen, ihr erster Schritt in die Geschäftswelt. Man sagt, die Arbeitswelt sei ein Dschungel, und Freunde, die man nach dem Studium kennenlernt, seien keine wahren Freunde.“

Das Buch liest sich eher wie ein Sachbuch mit Romaneinlagen. Zahlreiche Fußnoten weisen auf diverse Statistiken hin. Zurück bleibt ein schaler Geschmack. Frau hat zwar viel erfahren über die koreanische Lebensweise und das Buch liest sich flüssig weg, aber wirklich Spaß macht das nicht. Es hat sicher durchaus seine Daseinsberechtigung, aber von allen asiatischen Büchern, die ich bisher gelesen habe, hat mir dies am wenigsten gefallen.

Ausweglos eben. Punkt. Drei Sterne ***

Bewertung vom 15.02.2021
Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1
Mohlin, Peter;Nyström, Peter

Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1


sehr gut

Heimspiel

John Adderly war undercover im Einsatz in Baltimore und entkommt nur knapp dem Tod, als der Chef des Drogenrings bemerkt, dass mit seinen Leuten ganz offensichtlich was nicht stimmt. Ein anderer Undercover-Agent rettet ihm das Leben, beide müssen fliehen, sind aber schwer verletzt. Erst im Nachhinein, im Krankenhaus, erfahren beide von ihren jeweiligen Einsätzen und freunden sich an. Sie verbringen nach ihrer Genesung einige Zeit zusammen im Safehouse, müssen sich danach aber trennen und dürfen aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt mehr zu einander haben.

Dieses Intro ist schon mal sehr ungewöhnlich und macht neugierig, wie es wohl weitergeht mit dem Protagonisten, zumal John unbedingt in sein Heimatland Schweden zurück möchte, was sich bei seinen Leuten beim FBI nur sehr schwer und mit grober Erpressung durchsetzen lässt.

Aber er schafft das und ermittelt nun in Schweden, in Karlstad, wo ein Cold Case erneut aufgerollt wird, in dem damals und – immer noch – Johns Bruder als Verdächtiger in einem vermuteten Mordfall eine unglückliche Hauptrolle spielt. Aber da John eine neue Identität hat, weiß niemand, dass der Verdächtigte sein Halbbruder ist.
Der Kriminalroman spielt in zwei Zeitebenen: 2009 und 2019. Auch die Kapitel wechseln zwischen Johns Sicht und der Sicht der Eltern der damals mutmaßlich ermordeten jungen Frau, deren Leiche aber damals nie gefunden wurde.

John ist in USA aufgewachsen, sein Vater hat ihn nach der Scheidung der Eltern mitgenommen, während Billy, sein Halbbruder in Schweden bei der Mutter verblieben ist. Auch die finanziellen Verhältnisse der gespaltenen Familie sind extrem unterschiedlich. John ist reich, sein Vater hat viel Geld gemacht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, während die Mutter und Billy eher im Elend leben. John hatte auf jeden Fall beschlossen, egal, ob arm oder reich, sich nie von Geld lähmen zu lassen, wie sein Vater, dessen größte Angst der Verlust seines Vermögens war. (Seite 100)

Es gibt überhaupt viele Gegensätze im Roman, denn die Eltern der verschwundenen jungen Frau sind unvorstellbar reich, bedingt durch ein gut gehendes Modeimperium. So begütert ist John zwar nicht, braucht sich aber finanziell keinerlei Gedanken zu machen.

Was nur könnte eine reiche junge Frau, wie die verschwundene Emelie, dazu bewogen haben, sich mit einem so armen Schlucker wie Billy einzulassen? Oder kannten sie sich etwa gar nicht? Was ist da los?

John, der in Schweden Fredrik Adamsson heißt, hat natürlich auch ständig Angst, dass der Chef des Drogenrings ihm auf die Fährte kommt, da ja Karlstad auch Johns Geburtsort ist. Paranoia und auch Angstzustände begleiten ihn und machen ihm schwer zu schaffen. Und: Wenn ihn die Zeit als verdeckter Ermittler in Baltimore eines gelehrt hatte, dann die Tatsache, dass man so wenig wie möglich lügen sollte. Jede Lüge war ein Schritt in Richtung Entlarvung. (Seite 151) Geschult darin, sich seine Emotionen nicht anmerken zu lassen, brauchte man schon früher beim FBI eine Art von Teflonbeschichtung, nichts durfte haften bleiben. (Seite 98)

Fazit: Die Personen, samt Nebenfiguren, sind unglaublich gut ausgearbeitet in diesem umfangreichen Debüt der beiden Autoren, die sich offensichtlich hervorragend ergänzen. So kommt auf 524 Seiten nie Langeweile auf (Chapeau!) und das Cliffhanger-Ende lässt auf Fortsetzungen hoffen. Mir gefiel zwar die Auflösung nicht ganz so gut, aber das mag Geschmackssache sein. 4 verdiente Sterne.

Bewertung vom 04.12.2020
Dark
Fox, Candice

Dark


sehr gut

Hass und Neid unter korrupten Kollegen

Die Motivation der Polizei, die die australische Autorin Candice Fox hier in „Dark“ zeichnet, ist beängstigend. Geldgier scheint hier – wie leider überall auf der Welt – die Haupttriebfeder der meisten Protagonisten zu sein. Mit zwei Ausnahmen: Das ist einmal die Ich-Erzählerin Blair, die verurteilte Mörderin. Und andererseits Jessica, die – vorerst noch – hochmotivierte Polizistin im Detective-Rang.

Wechselweise wird in den Kapiteln Jessicas Sicht wiedergegeben, bei ihr in der dritten Person, und Blairs Sicht.

Was geschieht also hier? Dayly, die junge Tochter von „Sneak“ ist verschwunden. Spurlos zunächst. Und Sneak saß mit Blair zusammen im Knast. Sneak hat schon immer alles geklaut, was irgendwie brauchbar war, um u. a. ihre Drogensucht zu finanzieren. Blair hingegen war im früheren Leben Kinderärztin und später Chirurgin. Ein ungleiches Paar. Aber eins eint sie: Beide haben Kinder. Dayly ist Sneaks Tochter, die hier von allen gesucht wird und Jamie ist der kleine Sohn von Blair, den sie im Knast geboren hat. Er wurde ihr sofort weggenommen, aber zum Glück wurde er Blairs Freundin zugesprochen, einer Freundin aus Blairs früherem Leben.

Später im Buch beteiligt sich noch Ada an der Suche. Und Jessica sowieso.

Auf den ersten Blick scheinen die Fäden, die hier gesponnen werden, sehr verworren zu sein, aber das täuscht. Die Personen sind gut gezeichnet. Auch die mehr als zahlreichen Nebenfiguren passen sich gut ein ins Geschehen.

Die Polizei wird überaus kritisch ins Visier genommen, aber auch die Regierung bekommt ihr Fett weg. Und zwar derbe! So werden die Kriege auf der Welt als von der Regierung abgesegnete Morde bezeichnet, im Gegensatz zu den individuellen Morden, um die es hier geht, die von derselben Regierung überaus hart bestraft werden. (Seite 297)

Fazit: Ein Thriller der etwas anderen Art. Spannend, gut geschrieben, kreativ, oft ungewöhnlich. Man bleibt dran, will wissen, wie’s weitergeht. Dennoch: So ganz überzeugt bin ich nicht und vom Hocker gehauen hat der Thriller mich auch nicht. Vielleicht bin ich zu verwöhnt, weil ich vor kurzem „Ihr Königreich“ gelesen habe? (Ich runde von 3,5 auf 4 Sterne auf.)

Bewertung vom 26.09.2020
Ihr Königreich
Nesbø, Jo

Ihr Königreich


ausgezeichnet

Menschliche und geographische Abgründe in einem sprichwörtlich abgründigen Thriller

„Ihr Königreich“ – 23. September 2020

In diesem zweiten oder dritten(?) Standalone vom genialen Jo Nesbø wird jeder menschliche Abgrund ausgelotet und perfekt vermengt. Mal alphabetisch aufgelistet, was vorkommt: Eifersucht, Gier, Hörigkeit, Intrigen, Kindesmissbrauch, Körperverletzung, Lügen, bis hin zum mehrfachen Mord … mindestens, ist alles dabei.

Aber auch Liebe, Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein spielen eine Rolle. Falls Diskretion in dem Fall positiv ist, auch die.

Die beiden Brüder: Carl und Roy Opgard leben mit ihren Eltern hoch oben in Norwegens unwirtlichen Bergen, im Ort Os. Den Ort gibt es wirklich, ich war mir nicht sicher, ob die Orte möglicherweise fiktiv sind. Das sind sie aber nicht. Notodden (wird im Buch häufig erwähnt) und Os sind etwa fünfhundert Kilometer voneinander entfernt, das hätte ich näher zueinander eingeschätzt. Aber da kann man schon mal in Notodden was abfeiern, was in Os keiner mitkriegen soll.

Der Vater bezeichnete ihren Hof einmal als „ihr Königreich“. Ich hatte vorher beim Titel überlegt, ob es sich wohl um das Königreich einer Frau handelt oder um das Königreich mehrerer Personen. Also, klar, hier handelt es sich um das Königreich der Familie Opgard.

Roy Opgard, unser Ich-Erzähler, ist der ältere Bruder, hat viele Qualitäten, die aber erst auf den zweiten Blick sichtbar werden. Dann aber umso deutlicher. Carl, der Jüngere, sieht blendend aus, ist super in der Schule, hat Glück bei den Frauen, eine charismatische Erscheinung.

Roy steht immer für seinen Bruder ein, so lange, bis am Ende die Dämonen aus dem Abgrund immer mächtiger werden. – Als Roy siebzehn ist, sterben beide Eltern bei einem Unfall. Onkel Bernard, der sehr geschätzte und fürsorgliche Onkel kümmert sich bis zu seinem Tod rührend um die Jungs (nicht nur) bis zur Volljährigkeit von Roy. Carl wandert nach USA aus, mit einem Stipendium im Gepäck, kommt aber nach fünfzehn Jahren zurück nach Os. Als gemachter Mann mit Frau und großen Plänen.

Zitat Seite 46: „Es macht etwas mit dir, wenn du auf der anderen Seite der Erde hockst und dich fragst, wer du in Wirklichkeit bist. Und woher du kommst. In welches Umfeld du gehörst. Wer deine Leute sind.“

Ich wollte dieses Buch unbedingt haben, hatte aber erst einen Roman vom Autor gelesen: „Leopard“ aus der Harry-Hole-Reihe. Ich bin so unglaublich begeistert von diesem Kriminalroman hier, der so raffiniert aufgebaut ist und man fiebert so mit, mit dem überaus klugen Protagonisten Roy, obwohl er … aber lassen wir das.

Was mir auch gefiel: Es gibt zahlreiche Tipps zur Weltliteratur, z. B. auf Seite 59, Seite 321, und auf Seite 329.

Fazit: Die perfekt gezeichneten Figuren, sogar die Nebendarsteller, bewegen sich in der Landschaft – manchmal auch indoor, aber meistens outdoor – wie in einem Kinofilm. Man sieht sie förmlich in ihren amerikanischen Straßenkreuzern umherfahren, fiebert mit, ob ihnen ihre Aktionen gelingen oder ob man ihnen womöglich doch auf die Schliche kommt. Das gelingt literarisch so wie hier höchst selten und ist fantastisch. Volle Punktzahl! Verdient! Respekt!

Bewertung vom 26.08.2020
Die verstummte Frau / Georgia Bd.10
Slaughter, Karin

Die verstummte Frau / Georgia Bd.10


gut

Mit mäßigem Interesse drangeblieben

Karin Slaughter: Die verstummte Frau

Das zu umfangreiche Werk (ca. 660 Seiten) spielt auf zwei Zeitebenen: Atlanta – jetzt – und Grant County – vor etwa acht Jahren.

Die Protagonistin Sara Linton, Kinderärztin und Gerichtsmedizinerin ist im Jetzt mit Will Trent verbandelt. In der früheren Zeitebene war sie mit Jeffrey Tolliver verheiratet, bis er von ihr beim Fremdgehen ertappt wurde. Jeffrey wird später ermordet, das ist kein Geheimnis, denn das wird frühzeitig bekannt gegeben.

Will Trent, ein Markenzeichen der Karin Slaughter Publishing LLC, hat offensichtlich schon öfter mit Sara Linton ermittelt. Dies ist der achte Teil der sog. Georgia-Serie. Aber dies ist mein erster Slaughter-Thriller und ich bin nur mäßig begeistert.

Der Roman ist extrem aufgebläht und dadurch recht zäh. Manches Mal hatte ich keine große Lust weiterzulesen, obwohl die Figuren sehr gut ausgearbeitet sind. Vielleicht zu gut(?). Allerdings sind die Dialoge – besonders die zwischen Will Trent und seiner beruflichen Partnerin Faith – so gegen den Strich gebürstet, dass sich (zumindest mir) der Sinn oft nicht erschließt. Hier wurde des Guten zu viel getan.

Immer wieder erschreckend finde ich, wie wenig die Detectives in Amerika so verdienen, denn das scheint keine dichterische Freiheit der Autorin zu sein, sondern eher den Tatsachen zu entsprechen. Man liest es jedenfalls sehr oft.
Zitat, Seite 215: „Faiths Staatsdienergehalt reichte gerade mal, um einen kaputten Wasserkocher zu ersetzen. Hätte ihre Großmutter ihr das Haus nicht vererbt, sie wäre gezwungen gewesen, bei ihrer Mutter zu wohnen. Was keine der beiden lebend überstanden hätte.“

Zum Kriminalfall. Es geht um einen Frauen mordenden, äußerst brutalen, Serientäter und – so scheint es – sitzt der Falsche dafür im Knast. Die Taten werden ausgiebigst, bis ins letzte Detail, ausgeschlachtet, sicher nichts für zarte Gemüter. Die Ermittlungen scheinen endlos, die Sprünge in den Zeitebenen geraten teilweise sehr langatmig. So werden dieselben Szenerien oft aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt. Und wieder und noch einmal. Ein paar „neue“ Knalleffekte hat der Thriller allerdings doch zu bieten, so zuletzt höchstens bei „Sieben“ erlesen und erschauernd erschaut, sonst wären es bei mir noch weniger Sterne geworden.

Fazit: Vielleicht hätte ich beim ersten Teil der Georgia-Reihe anfangen sollen, denn dieser Teil überzeugt mich nicht sonderlich. Ich denke, gestrafft, auf höchstens die Hälfte der Seiten, das hätte diesem Thriller wirklich gut getan.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.08.2020
Verschollen in Palma
Kallentoft, Mons

Verschollen in Palma


ausgezeichnet

Sommer, Sonne und Verbrechen in Magaluf

Irgendwie hatte ich bei diesem Klappentext zunächst immer an die verschwundene Maddie gedacht, obwohl Maddie in Portugal verschwunden ist und nicht auf Mallorca. Und Emme, die verschollene Protagonistin, war ja auch schon sechzehn Jahre alt zum Zeitpunkt ihres Verschwindens.

Beim Schreibstil des Romans fühlte ich mich an Don Winslow erinnert: kurz und knapp, meistens im Präsenz und nur das Nötigste, das aber ungebremst. Auf die Gefühle des Lesers wird keine Rücksicht genommen und möglicherweise macht gerade das den Reiz aus. Die Perspektiven wechseln zwischen „ICH“ und der dritten Person Singular. Perfekt gemacht!

Die dunklen Wolken auf dem Cover verkünden schon das Unheil, das hier passieren wird. Obwohl sich Palmas Kathedrale so schön und unschuldig im Meer spiegelt, als wäre alles in der allerbesten Ordnung.

Mons Kallentoft, der Schwede, der auf Mallorca weilt, der diese atemberaubende, vielschichtige Insel auf sich wirken ließ und immer noch lässt und dabei einen Krimi schrieb: Das klingt wahrlich verführerisch und ich wurde nicht enttäuscht.
Alles wirkt so unglaublich realistisch. Denn auch auf Mallorca, auf dieser Insel, wo auch wir mal anderthalb Jahre gelebt haben, leistet offensichtlich der Deep State ganze Arbeit, hat alles im Griff, und das halte ich nicht für die reinste Fantasie des Autors. Alle – fast alle Protagonisten – in diesem Roman – sind korrupt. Alle Vorkommnisse hängen miteinander zusammen, sind verflochten, wie vorm Tourismusboom die Fischernetze.
Die unablässige Suche nach Emme, der so heiß geliebten, verschwundenen Tochter, zieht sich durch den Roman wie ein roter Faden. Tim Blanck, ihr Vater, hat sein ganzes Leben zugunsten der Suche umgekrempelt, lebt jetzt als Detektiv auf Mallorca, seine Ehe ging in die Brüche, wie die meisten Ehen in die Brüche gehen, wenn ein Kind verschwindet.
Seite 328: „Sie (die von Tim beobachtete Frau des Millionärs) starrte ins Nichts. Er (Tim) starrte sie an. Er schaute sie viel zu lange an, das ist ihm jetzt klar. Ein Blick darf nicht zu lange auf gewissen Dingen verweilen, sonst weiß er zum Schluss nicht mehr, was er sieht.“
Seite 348: „Ich finde, das war richtig, dass Sie sie haben fahren lassen. (Dieses Zitat bezieht sich auf die elterliche Erlaubnis für Emme, mit ihren Freundinnen allein nach Mallorca fliegen zu dürfen.) Die Welt soll man kennenlernen, wenn man jung ist. So ist es nun einmal. Auch wenn es nicht alle schaffen.“
Seite 351: „Es scheint, als werde alles, was passiert ist, was passiert, in ein schwarzes Loch gesogen, in dem die Zeit gesammelt wird und alles gleichzeitig geschehen kann und dann vielleicht deutlich wird.“ (Tim beim Recherchieren im Zeitungsarchiv des Diario de Mallorca – gibt es wirklich!)
Seite 362: „Der ewige Schatten. Das hier ist die beste aller Welten und gleichzeitig die schlechteste, und ich weiß selbst, zu welcher der beiden ich gehöre.“ (Tim denkt nach, was er bis jetzt erreicht hat.)
Seite 378: „[…] man kann nie wissen, ob das stimmt, was man hört oder sieht oder warum jemand das tut, was er tut.“ (Tim stellt Fragen über Fragen und zweifelt, ob er dem Befragten vertrauen kann.

Fazit – Schattenstaat auf Spanisch: Dieser Story kann man sich wirklich unmöglich entziehen, diese Qualität hatte ich bei Weitem nicht erwartet. Ein dickes fünffaches Wow!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.07.2020
Die Perlenfarm
Marklund, Liza

Die Perlenfarm


ausgezeichnet

Kommt als Wolf im Schafspelz daher: „Die Perlenfarm“

Obwohl ich dieses Buch ursprünglich – mehr oder weniger – für eine Liebesgeschichte hielt, und ich lese normalerweise keine Liebesgeschichten, musste ich es unbedingt haben. Und wow, meine Gefühle haben mich nicht getäuscht, denn dieser Roman ist alles andere als bloß eine simple Liebesgeschichte. Liza Marklund schreibt ja ansonsten mit großem Erfolg Krimis.

Auch jetzt noch, nach der Lektüre, bin ich tief beeindruckt und werde dieses Buch bestimmt nicht so schnell vergessen.
Ich war schon mal in der Südsee, auch von daher war ich interessiert.

Zum Inhalt: Kiona, die Protagonistin, ist Apnoetaucherin, sie kann für etwa sieben Minuten ohne Geräte unter Wasser bleiben. Sie lebt mit Bruder und Schwester und ihren Verwandten auf Manihiki, einer Insel im Südpazifik, im Verbund der Cook Inseln, die unabhängig sind und in „freier Assoziierung“ zu Neuseeland gehören. (Quelle Wikipedia) Papa Tane, ihre Schwester Moana und ihr Bruder Nikau bewirtschaften die titelgebende Perlenfarm. Und wir erfahren sehr viel Wissenswertes über die Perlenmuscheln und die Perlenernte.

Eines Tages zerschellt ein Boot am Riff von Manihiki und die Bewohner können kurz vorm Versinken der Yacht einen schwerverletzten Schweden, den einzigen Passagier, retten, und ein paar seiner Habseligkeiten. Mama Evelyn, die „importierte“ Krankenschwester, und Kiona pflegen den Schweden Erik so gut sie können, mit den Möglichkeiten, die sie haben. Ein Röntgengerät gehört leider nicht dazu.

Liza Marklund hat hier einen so spannenden Roman komponiert, der einen kaum Luft schöpfen lässt, so überzeugend sind die Figuren, die exakt recherchierten Schauplätze, die eingeflochtenen, brisanten politischen Themen, der Ablauf mit dem dicken roten Faden, an dem sich die Geschichte gekonnt entlang hangelt. Kiona entwickelt sich im Verlauf der Handlung vom einfachen Naturkind zur ausgebufftesten Spurenverwischerin, die man sich nur vorstellen kann. Im Prolog gilt sie schon als ertrunken und der ganze Roman handelt davon, wie es dazu kam.

Clay, die neue Freundin und Begleiterin auf der großen Reise spricht oft mit Kiona und anderen ihr Anbefohlenen über diverse Themen, so auch hier, Zitat Seite 413:

„Der Humanismus betet den Menschen an […] Der Humanismus behauptet, der Homo sapiens sei allem anderen im Universum überlegen und dürfe sich daher alles andere nach Lust und Laune zunutze machen. Tiere können ihr Leben lang in engen Käfigen eingesperrt, ihrer Nachkommen beraubt und dann getötet werden, weil wir glauben, das Recht zu haben, immer zu essen, was wir wollen. Pflanzen und Tiere in der Natur haben keine Rechte, wenn der Mensch beschließt, ein Stück Land urbar machen zu müssen. Alle, die diese Weltordnung infrage stellen und bekämpfen, gelten als gefährlich und destruktiv …“

Fazit: Die Perlenfarm erinnert latent an „Der englische Patient“, hat aber enorm viel zu bieten. Eine brillante Recherche trifft hier auf wahrhaft spannende Berichterstattung. Viele Themen werden behandelt, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Und ich finde hier zwei meiner Lieblingsbücher quasi in einem Roman vereint: „Die gläserne Frau“ und „Die Insel der fünf Frauen“. Große Erzählkunst und ein dickes Lob an die Übersetzerin Katrin Frey.