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amara5

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2022
So reich wie der König
Assor, Abigail

So reich wie der König


sehr gut

Hoffnungen in Thymiangrün
Abigail Assors bewegender Debütroman „So reich wie der König“ beschreibt in einer poetisch-bildhaften Sprache die schonungslosen Machtverhältnisse zwischen Arm und Reich im Casablanca der 1990er-Jahre.

Die 16-jährige Sarah lebt mit ihrer Mutter in einem heruntergekommenen Haus im Stadtviertel Hay Mohammadi mit Blick auf die angrenzende Barackensiedlung im Slum – trotz französischem Gymnasium und Pass bestimmt die Armut ihr Leben in dem von sozialer Ungleichheit und Patriarchalismus geplagten Land. Ihr einziges Kapitel ist ihre Schönheit und Sarah ist davon überzeugt, ihre Lebenslinien umzulenken und sich ein Königreich voller Reichtum aufzubauen. Wie ihre Mutter hat sie die Codes gelernt, wie sie Männer bezirzen kann und dadurch zum Getränk oder Essen eingeladen wird. Durch ihre Clique, mit der sie viel umherzieht, lernt sie Driss kennen – den Sohn einer sehr reichen Unternehmerfamilie mit Villa auf dem Anfa-Hügel. Seine Hässlichkeit und Introvertiertheit stören sie nicht, sie kann ihn für sich gewinnen und sieht in seinen bestechenden thymiangrünen Augen, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ziehen, die Chance auf eine bessere Zukunft. Unbedingt möchte sie ihn heiraten und schmiedet dafür einen verhängnisvollen Plan. Doch Driss ist nicht nur reich, er ist auch Fassi – eine sehr mächtige, einflussreiche Kaste mit strengen Hierarchien und Regeln, auch bei der Heirat. Bei dem von Driss’ Eltern ausgerichteten Opferfest bekommt Sarah eindrucksvoll und filmisch geschildert diese Herrschaftsverhältnisse zu spüren.

Auch wenn der Titel nach einem Märchen klingt, zeigt Abigail Assor mit einer sprachlichen Wucht sowie einer gelungenen auktorialen Erzählweise das schmerzvolle Scheitern von Sarahs mutig-ambitionierten Weg voller Kalkül auf, ihrer sozial prekären Schicht zu entfliehen. Mit einer präzisen und sehr sinnlichen Prosa beschwört sie atmosphärisch dicht die Farben und Schönheiten Casablancas, um sie im nächsten Moment mit der harten Realität der marokkanischen Gesellschaft kollidieren zu lassen. Scharfsinnige soziologische Beobachtungen zu Macht, Tyrannei, Reichtum und Armut fließen in die berührende und hypnotische Geschichte, die zwischen Zärtlichkeit und Gewalt changiert und mit einem spannenden Ende aufwartet.

Ein bemerkenswertes Debüt und eine fein nuancierte Initiationsgeschichte nicht nur für Jugendliche, hervorragend übersetzt und das auf weitere vielversprechende Werke der neuen französischen Stimme hoffen lässt!

Bewertung vom 08.02.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


ausgezeichnet

Fiktion einer Verwirrung
Julia Schoch beginnt mit „Das Vorkommnis“ einen herausragenden und sehr klug komponierten Auftakt der Trilogie „Biografie einer Frau“, in der die autofiktionale Ich-Erzählerin und Autorin anhand einem verwirrenden Vorkommnis tief in ihre Erinnerungen, Wahrheiten und das zarte Geflecht ihrer Familie eintaucht.

Bei einer Lesung kommt eine Frau auf sie zu und gibt zu verstehen, dass sie ihre Halbschwester ist – sie haben den gleichen Vater! Ein Familiengeheimnis, das eigentlich keins ist, denn schon lange ist das Dasein der zur Adoption freigegebenen Schattenschwester bekannt, aber das persönliche Treffen bringt die Autorin in einen Strudel der allgemeinen und tiefen Verwirrung, den sie gedanklich zu ordnen versucht. Assoziativ, philosophisch und intim geht sie auf Spurensuche in ihren zerbrechlichen Erinnerungen und bringt die vorbestimmte Geometrie einer Familie in ihren Gedanken erheblich zum Wanken. Wer sind ihre Eltern und ihre 'richtige' Schwester? Ist ihr Ehemann derjenige, den er vorgibt oder eine Täuschung? Was macht eine Ehe und eine Mutterschaft aus und kann man die Erinnerungen und Familiengeschichte umschreiben?

Achronologisch verwebt Julia Schoch hierbei Ereignisse aus der Gegenwart der Autorin wie ihr Auslandaufenthalt in den USA, wo sie an einer Universität Vorlesungen zum Deutsch-deutschen Literaturstreit hält, mit Reflexionen zu ihrer Vergangenheit. Sie sinniert und entwirft neue Gedankenkonstrukte zu ihren Eltern, dem Aufwachsen in einem Provinzort der DDR sowie dem Da-Sein als Mutter und Ehefrau. Und sie geht noch weiter – gehemmt durch eine Schreibblockade taucht sie immer tiefer ein in das, was wir unsere feste Vergangenheit nennen und wie sie anhand des Schreibens eventuell umgeformt werden kann. Währenddessen liegt ihr Vater in Deutschland im Sterben, die Mutter kümmert sich um die kleinen Kinder in den USA, der Mann kommt zu Besuch und argwöhnisch sucht die Erzählerin ihm auf die Schliche zu kommen – könnte auch er anderswo Kinder gezeugt haben? Warum hat eine Familie diese festen Strukturen und unsichtbaren Geflechte?

Vielschichtig, mit einer sprachlichen Stilsicherheit und klaren Poesie sowie sehr präzis-dichten Gedankengängen entführt Schoch den Leser in sein eigenes Lebenskonstrukt, in seine privaten Vorkommnisse und Katastrophen und stellt philosophische Fragen, ohne jemals pathetisch-rührselig zu wirken oder den Ball zur Geschichte zu verlieren. Subtil und virtuos spinnt sie einen literarisch brillanten Faden, der in die gedanklichen Geäste und Rückblicke der Erzählerin führt, in ihre Lebenslinien zwischen Wahrheit und Verwirrung und am Ende ein kluges Bild über gesellschaftliche Zusammenhänge präsentiert.

„Mir scheint, ich bin nach all den Jahren einer Erklärung auf der Spur, einem Zusammenhang zwischen Dingen, die auf den ersten Blick nicht miteinander verbindet. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht logisch begründen. Ich versuche, ihn schreibend herzustellen. Schreiben bedeutet, Einzelteile aufeinander zufliegen zu lassen, damit sie sich zusammenschieben und in der richtigen Weise überlagern, wie bei einem 3D-Puzzle, das plötzlich einen Körper im Raum gibt.“ S. 90

Bewertung vom 31.01.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Geister im Kopf
Fatma Aydemir hat mit ihrem ergreifenden Gesellschaftsroman „Dschinns“ eine berührend-intensive deutsch-türkische Familien- sowie Einwanderungsgeschichte erschaffen, die mit einer kraftvollen poetischen und feinsinnig nuancierten Prosa tief bewegt und in die Seelen sowie Dschinns der erzählenden Familienmitglieder blicken lässt.

Familienoberhaupt Hüseyin kam als türkischer Gastarbeiter vor Jahrzehnten nach Deutschland, um sich Wohlstand aufzubauen – als er es endlich vollbracht hat, mit viel Liebe zum Detail eine Eigentumswohnung in Istanbul fertigzustellen, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt. Voller Trauer, Erinnerungen und unausgesprochenen Verletzungen reisen fast alle Familienmitglieder an, um Baba seine letzte Ehre zu erweisen. Aydemir lässt nun kapitelweise die Protagonisten Ümit, Sevda, Peri, Hakan und Mutter Emine aus ihrem Leben zwischen den Kulturen, familiären Zwängen und dem schwierigen Ankommen in Deutschland feinfühlig erzählen – dabei changiert sie klug zwischen dem Heute und Fragmenten aus der Vergangenheit, zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen Freude und Schmerz, dem Ankommen und schmerzvollen Rassismus im Land, zwischen unerfüllter Liebe und nie Ausgesprochenem in der Familie, in der jeder mit seinem eigenen Dschinn in der Seele kämpft. Diese mythologischen Geistwesen einer Parallelwelt können laut dem islamischen Glauben auf den Menschen einwirken und sie werden besser nicht gerufen. Doch in Aydemirs sind es eher die seelischen Wunden und unverarbeiteten Traumata, Unausgelebtes, Zurückgedrängtes und fehlende Nähe so wie zwischen der depressiv-herrschenden Mutter und Tochter Sevda, die erst später nach Deutschland geholt wurde.

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ S. 193

Poetisch und mit psychologischer Wucht und präziser Beobachtungsgabe zeichnet sie jedes Familienmitglied sehr plastisch, dringt tief in ihr Innerstes und zeigt neben den unerfüllten Lebensträumen und der Suche nach Identität nicht nur die kulturelle Zerrissenheit, sondern auch die fremdenfeindlichen Spaltungen in unserer Gesellschaft. Im letzten aufwühlenden und leicht rätselhaften Kapitel blickt Emine in der leeren, unbewohnten Wohnung in ihr Spiegelbild – und entdeckt etwas viel Größeres. Ein hervorragend gut komponierter und tiefsinniger Roman, der so schnell nicht loslässt!

„Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen und nichts erbarmslungsloser ist als die eigene Fantasie?“ S. 185

Bewertung vom 21.01.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Weitverzweigte Rettung

Pulitzer Prize-Finalist Percival Everett erkundet in seinem bewegenden Roman „Erschütterung“ in vielschichtigen Ebenen und mit spielerischer Erzählfreude die Trauerbewältigung eines Mannes um seine todkranke Tochter. Ich-Erzähler ist der melancholische und eher träge Geologe-Paläobiologe Zach Wells – mit der Erforschung von Höhlen im Grand Canyon kennt er sich bestens aus, doch Emotionen meidet er und seine Ehe zu Meg ist mehr eingefroren als lebendig. Seine Liebe und Aufmerksamkeit gilt Tochter Sarah, mit der er gerne lacht, denkt und Schach spielt. Als sie bei einem Schachzug nicht reagiert, beginnt sich langsam eine Tragödie über die Familie zu legen: Sarah leidet an einer tödlichen, degenerativen Erkrankung, der Batten-Krankheit – Aussetzer, Krampfanfälle und ein schleichender Tod.

Hilflosigkeit macht sich breit und Zach sucht Schmerzlinderung und kleine Ausflüchte in sein weit verzweigtes, logisches Denken und Analysieren sowie in assoziative Tagträume und philosophisch-geologische Ausführungen, die ihn immer mehr in ein dunkles Loch ziehen. Aber auch in Unternehmungen außer Haus versucht er Trost und Halt aus dem quälenden Schmerz. Zach kann zwar seine Tochter nicht retten, sucht aber andere außergewöhnliche Wege, um sich selbst und andere zu retten. In seiner Second-Hand-Jacke findet er einen mysteriösen Zettel mit dem Hilferuf „Ayúdame“ – er wird diesem in die Wüste von New Mexico folgen, um krimihaft einer Gruppe zwangsverarbeiteter Frauen zu helfen. Realität, Tagtraum und Fiktion beginnen sich immer mehr zu vermischen und mit Gedanken zu verschachteln – die lange Wanderung und das berührende Ende in New Mexico war Everett in der Originalfassung sogar drei Versionen wert, die im Handel zu kaufen sind.

Percival Everett gelingt es in „Erschütterung“ mit einer herausragend schönen Prosa, existentielle Themen wie Trauer und Tod nicht in einen rührseligen Plot zu verpacken, sondern mit intellektuell-lakonischen Gedankenspiralen und weiteren teils abstrakten Assoziationen von Zach einen ebenso rätselhaften wie intim-packenden Trip in die verzweifelte, menschliche Psyche zu kreieren, der sich tief einprägt und facettenreich interpretiert sowie rezipiert werden kann. Ein außergewöhnlicher, philosophischer und tiefgreifender Roman über Ohnmacht, Schmerz, Trauer und dem Weitermachen sowie den vielen weitverzweigten Gabelungen, Entscheidungen und Wegen, die sie unkontrollierbar in sich bergen.

Bewertung vom 15.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


sehr gut

Melancholie der Rastlosen

Gianfranco Calligarichs atmosphärischer Roman „Der letzte Sommer in der Stadt“ erschien schon 1973, war recht erfolgreich und verschwand dann plötzlich aus dem Buchhandel. Doch schnell avancierte das Buch zum Kult und erscheint nun glücklicherweise erstmals auf Deutsch.

Ich-Erzähler und Protagonist des Romans ist Leo Gazzarra: Im Rom der 1970er-Jahre verkehrt der junge Journalist in der Bohème der italienischen Hauptstadt – es wird gefeiert, geraucht, getrunken, diskutiert oder am Piazza Navona getroffen. Doch bei aller Lust an der Kultur und am Feiern, durchzieht eine leise Melancholie und Selbstzerstörung den Roman, denn Leo wird bald arbeitslos und zieht ziellos im Dunst des Alkohols zwischen Hotels, Bars und den Wohnungen seiner intellektuellen Freunde umher. Als er die fragile und verführerische Arianna kennenlernt, beginnt eine stürmische Liebe zwischen zwei Rastlosen, die nicht wirklich lieben können und sich gegenseitig verletzen. Mit Leos maroden Alfa Romeo fahren sie durch die Nacht nach Ostia ans Meer und philosophieren über Literatur und das Leben. Die Ewige Stadt ist im heißen August wie leergefegt, ein Gefühl der Verlorenheit, des Unwohlseins und der Dekadenz macht sich breit – auf den Straßen und in den Seelen der Protagonisten, denen kein glückliches Ende zu drohen scheint.

Calligarich sind sehr szenische, elegante und metaphorische Beschreibungen der Ewigen Stadt gelungen, in denen sich emotional auch die ambivalenten Gefühle der Charaktere spiegeln. „Wie ein wildes Raubtier“ scheint sie die Menschen teilweise zu verschlingen und ihnen doch eine große Lebensqualität zu liefern. Orte und Szenen der Stadt sind so präzise bildhaft und poetisch hervorgehoben, als stehe man direkt daneben – eine gelungene Hommage, die auch die Schattenseiten hervorzuheben weiß. Ein kleiner Schwachpunkt des Romans ist die Tiefenschärfe der Charaktere und ihre psychologische Entwicklung, die etwas oberflächlich komponiert ist. Und trotzdem folgt man dem selbstbezogen und somnambul wirkenden Gazzarra leichtfüßig und soghaft durch Rom, die unglückliche Liebe und durch seine unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Eine erfreuliche Wiederentdeckung und zeitlos in ihrer feinsinnigen Erzählversiertheit, obwohl der Roman schon vor 50 Jahren geschrieben wurde.

„ … denn Rom birgt einen besonderen Rausch in sich, der die Erinnerungen verbrennt. Mehr noch als eine Stadt ist Rom ein geheimer Teil von euch, ein verstecktes Raubtier. Mit ihm gibt es keine halben Sachen, entweder die große Liebe, oder ihr müsst da weg, denn das fordert das sanfte Raubtier.“ S. 16

Bewertung vom 10.01.2022
Auto
Walker, Christina

Auto


sehr gut

Choreografie des Sinns

„Manchmal ist die Zeit ein kalter Hauch.“ – Busch hat jetzt viel Zeit in seinem selbst auferlegten Stillstand, die Zeit und sich selbst sowie das Außenherum detailliert zu beobachten. Er ist aus dem Hamsterrad ausgestiegen – früher war er Vertreter für die Verlagsbranche, kilometerweit ist er mit seinem Mercedes gefahren, bis er beschlossen hat, zu entschleunigen. Erst ist er auf den Zug umgestiegen, bis er ganz ausgestiegen ist. Misstrauisch beäugt von den Nachbarn wohnt er jetzt im stillgelegten Mercedes im Hof – nur zum Essen und Duschen kommt er noch in seine Wohnung, in der seine disziplinierte Frau Susanne und sein Sohn Matti wohnen. Ansonsten ist nun der Hinterhof sein eigener Mikrokosmos geworden, in dem jede Veränderung in der Langsamkeit wahrgenommen wird.

Innerhalb der Familie wird nicht viel über seinen Ausstieg gesprochen, es scheint eine Engelsgeduld zu herrschen, doch das täuscht. Nicht nur sein Psychologe, mit dem Busch wöchentlich telefoniert, möchte ihn zurück auf die 'richtige Spur' schicken, doch er verfolgt einen ganz eigenen Stillstand-Plan mit selbst erteilten Regeln (Regel 2: Alle Eigenbewegung auf das Nötigste und Wichtigste reduzieren. Regel 8: Warten und dankbar sein. Und dankbar fürs Warten sein.) und dem präzisen Beobachten des Himmels und der Ameisenkolonie im Hof – die Tiere folgen ohne Pause oder Hinterfragen ihrer Schwarmintelligenz, jede Ameise hat ihre Aufgabe, innere Ordnung und ihren Sinn: „Ameisen funktionieren in Formation. Da schert keine aus. Und das ist stets sinnvoll und nützlich für sie. Das ist die Choreografie des Sinns schlechthin.“ S. 31

In assoziativen Rückblenden wirft die Autorin Christina Walker kleine, liebevolle Schlaglichter auf den gutmütigen Protagonisten und seine Vergangenheit im Berufs- und Eheleben – sie zeichnet kein vollständig interpretierbares Bild seiner Beweggründe und trotzdem ist ihr eine berührende und tiefgründige Parabel auf unsere Hochleistungs-Gesellschaft mit ihren festgelegten Normen gelungen. Was wird als krankhaft oder normal angesehen? Wie reagiert das unmittelbare Umfeld auf einen Übergang in einem Menschenleben, das beschließt, sich teilweise der Gesellschaft abzuwenden?

Mit subtilem Humor und einer Brise Lakonie sowie einer philosophisch angehauchten Poesie folgt der Leser berührt den teils obskuren und doch so feinsinnigen Gedankengängen von Busch, wenn er nicht nur seinen Körper und seine Befindlichkeiten, sondern auch die Tiere und Menschen aus seinem Rückzugsort Mercedes ins kleinste Detail beobachtet oder wenige abgezählte Schritte zum Supermarkt wagt. Dabei stand sein Auto mal für Schnelligkeit und Mobilität – alles Dinge, denen sich Busch nun entzieht, um vielleicht durchlässig und unsichtbar zu werden. Er betrachtet sein Leben nun aus einem anderen Blickwinkel und tariert das Da-Sein aus. Die einzigen Konstanten in seinem Tagesablauf sind der tägliche Apfel und die Wettervorsage sowie das Beobachten der Ameisen sowie der Schrullen der Nachbarn.

Mit knappen, präzisen und wohlkomponierten Sätzen entwirft Christina Walker eine tragikomische, bewegende und mehrdeutige Geschichte über das Aussteigen und einer Sinnkrise, die zum Nachdenken und Reflektieren einlädt. Und der ruhige Roman sollte entschleunigt gelesen werden, da es so viele subtil-zarte Beobachtungen und lebenskluge Metaphern zu entdecken gibt. Ein feines, weises und lesenswertes Debüt, das sich auf verschiedene Arten interpretieren lässt und so schnell gedanklich nicht loslässt.

„Und er glaubt an die Liebe und daran, dass sie einem Bahnhof gleicht. Hin und her, empfänglich für Zugluft und Hoffnung gleichermaßen. Und manchmal so unsterblich wie ein Ameisenvolk.“ S. 155

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Zerplatzte Träume

Der italienische Bestsellerautor Marco Balzano nimmt sich in seinem neuem Roman einem aktuellen und brisanten Thema an: osteuropäische Arbeitskräfte, die in den reicheren Ländern Alte und Kranke pflegen. So auch Daniela, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihre Kinder und ihren Mann in einem rumänischen Dorf zurücklässt und nach Mailand aufbricht. Dort durchläuft sie eine Odyssee an Arbeitsverhältnissen – zumeist schwarz, 24 Stunden am Tag, Anschuldigungen und einer Unsicherheit ausgesetzt, wie lange sie „beschäftigt“ sein wird. Das Geld schickt sie ihrer Familie in Rumänien, in der Hoffnung und dem Zwang, dass alle ein besseres Leben erwartet, doch die Kinder und der Mann zerbrechen an ihrer langen Abwesenheit. Zwar kann Sohn Manuel eine Privatschule besuchen, wo er abgleitet, Tochter Angelica kann studieren, was ihr aber nichts wirklich bringt und Vater Filip fängt an, das Haus zu renovieren, um später abzuhauen und die Familie komplett zu verlassen. Als Manuel einen schweren Moped-Unfall erleidet, kommt Daniela zurück und versucht nach ihrer Entscheidung zu retten, was noch zu retten ist.

Marco Balzano gliedert seinen chronologisch gewürfelten Roman in drei Teile und in drei Stimmen – der Leser erfährt zuerst aus Manuels schnoddriger Teenagersicht, wie es ihm nach dem Weggang der Mutter ergangen ist. Er leidet sehr darunter, bricht immer mehr den Kontakt ab und als sein geliebter Opa stirbt, verliert er im wahrsten Sinne den Boden unter den Füßen. Der bewegenste und ausgefeilteste Teil ist das Mittelstück, in dem Daniela ihre Erlebnisse in Mailand schildert - gezeichnet vom Burnout (der Italienkrankheit) und der Angst um ihren Sohn. Am Krankenbett vermischt sie aktuelle mit alten Erinnerungen und versucht, ihren Weggang zu erklären. Der Schlußteil gehört Angelica – die hohe Verantwortung, die auf der großen Schwester lag, hat sie mürbe gemacht. Sie beschließt nach dem Studium zu heiraten und nach Berlin zu ziehen.

Insgesamt ist Marco Balzano ein berührender, aufrüttelnder und sehr realistisch geschilderter Roman über ein wichtiges Thema gelungen – doch den Figuren fehlt es hier und da an Tiefe und sie wirken teils oberflächlich und klischeehaft konstruiert. Doch die eindringlichen Schilderungen von Daniela aus ihrem schlechtbezahlten Alltag als ausländische Pflegekraft, die psychischen wie physischen Strapazen einer ungelernten Hilfskraft, die Entfremdung im anderen Land sowie ihre Schuldgefühle und das Zerbrechen der zurückgelassenen Familie sind feinfühlig, erschütternd und berührend ausgearbeitet. Zusammen mit dem informativen Nachwort von Balzano am Ende des Romans lenkt „Wenn ich wiederkomme“ die Aufmerksamkeit präzise auf das Schicksal von diesen ausgebeuteten Pflegekraft-Frauen sowie ihrer Familien und auf ein marodes Sozialsystem, das darauf basiert.

Bewertung vom 29.10.2021
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

Stimmen eines Aufstands

Nach ihrem erfolgreichen Erstlingswerk erzählt die kamerunisch-amerikanische Autorin Imbolo Mbue nun eine kraftvolle, ergreifende und erschütternde Geschichte über ein afrikanisches Dorf, das von einem mächtigen, amerikanischen Ölkonzern sukzessiv vergiftet wird. Zwar ist die über 40 Jahre chronologisch gewürfelte und generationsübergreifende Erzählung fiktiv – und doch könnte sie genau so passiert sein.

Es fing mit trockenem Husten der Dorfbewohner von Kosawa an, dann starben die ersten und es wurden immer mehr – durch die Ölbohrungen wird nicht nur die Umwelt und die Luft verschmutzt und nutzbare Landflächen brach gelegt, sondern auch tödliche Gifte in das Wasser geleitet. Was mit einem Versprechen zu Wohlstand begonnen hat, endet für das afrikanische Dorf in einer kolossalen Ausbeutung und dem Entzug einer Lebensgrundlage. Die eigene Regierung ist korrupt, zieht selbst Gelder aus der Ölgesellschaft und wer sich gegen das Imperium stellt, verschwindet auch mal spurlos. Genug ist genug beschließt die Dorfgemeinschaft und schmiedet einen jahrzehntelangen Plan des Aufstands. Mitarbeiter der amerikanischen Firma Pexton werden als Geisel genommen, doch das ist nicht alles, was diese facettenreiche, politische und gewaltvolle Geschichte, in der es fast nur Verlierer geben kann, zu Tage bringt. Das junge Mädchen Thula beispielsweise wird subtil zur Jugend-Anführerin des Aufstandes und setzt auf Bildung als Waffe – von den USA aus unterstützt sie ihr Dorf. Es kommen aber noch zahlreiche weitere Stimmen zu Wort: Alte, Junge und ein ganzer Chor an Kindern, die ihre Schicksale, Biografien, aber auch von dem Leben im Dorf sowie von der Gier, dem Leid und Tod berichten.

Imbolo Mbues großartiges Talent liegt in der brillanten, weitgespannten und klangvollen Erzählweise über Generationen hinweg: Mehrere individuelle Stimmen aus unterschiedlichsten Perspektiven und Zeiten tragen diesen bewegenden und aufrüttelnden Roman, der auch die Schönheit, den Zusammenhalt und die Traditionen des afrikanischen Dorfes detailliert und bildgewaltig schildert. In Zeitsprüngen und aus vielen Personen heraus bildet sich eine Gesamtstimme, die nicht nur aus Schwarz/Weiß besteht, sondern auch ein kraftvolles Afrika aufzeigt, das von Korruption, Kolonialisierung und Neokolonialismus gebeutelt ist und einen scheinbar aussichtslosen Kampf führt. Mbue packt aktuelle und brisante Themen in eine kluge, feinsinnige und lange nachhallende Geschichte über Ressourcen-Ausbeutung, Gegenwehr und Selbstbestimmung – packend und verstörend zugleich.

Bewertung vom 18.10.2021
Auf Basidis Dach
Ameziane, Mona

Auf Basidis Dach


sehr gut

Weiter Ausblick in Kulturen

Die Journalistin und TV-Moderatorin Mona Ameziane ist in zwei Kulturen aufgewachsen – in Deutschland mit einer deutschen Mutter und einem marokkanischen Vater. Jedes Jahr fliegt die Familie auf Verwandtenbesuch nach Marokko, bestimmt schon 40 Mal war Ameziane dort. In ihrem Debütroman „Auf Basidis Dach“ fasst sie ihre Erinnerungen, Gedanken und Reflexionen über Marokko, das Leben zwischen zwei Kulturen, aber auch zu Herkunft, Migration, Identität und Rassismus zusammen. Humorvoll, sehr persönlich, klug und auch ernsthaft.

Zahlreiche zeitlich buntgewürfelte und szenische Anekdoten reihen sich an Erlebnisse und der Erörterung zu kulturellen Unterschieden und Vorurteilen – gespickt mit hilfreichen Informationen zum Land, Fragen an den Vater und vielen atmosphärischen Reiseberichten wie zur Medina in Fès. In dieser Stadt lebten auch ihre geliebten Großeltern Basidi und Alla – auf der geräumigen Dachterrasse hatte Ameziane immer einen herrlichen Ausblick auf die Menschen, ihrem Zuhause und ihren Gepflogenheiten, auf die Gassen und Dächer, wenn sie ihre Gedanken schweifen ließ und dem Muezzin lauschte. Diese feinfühlige Horizonterweiterung und erneute, abenteuerhafte Spurensuche zusammen mit ihrem Vater in Marokko verwebt die Autorin verspielt und gekonnt mit vielen Rückblicken, Erinnerungen und Gedanken – mit Humor und Ernsthaftigkeit nimmt sie den Leser mit allen Sinnen warmherzig und offen mit nach Marokko.

In kurzen Kapiteln schafft Mona Ameziane einen unterhaltsamen und neugierigen Rundumblick auf Marokko, aber auch auf ihr Heranwachsen zwischen zwei Kulturen, das sie als Geschenk betrachtet. Ein Glossar sowie verschiedene Quellenangaben am Ende runden den Roman zwischen Autobiografie, Hommage an die Familie und Reisebericht ab. Authentisch, reflektiert und lesenswert!

Bewertung vom 18.10.2021
Wenn wir heimkehren
Heuser, Andrea

Wenn wir heimkehren


gut

Durchs Licht strömende Erinnerungen

Die Autorin Andrea Heuser begibt sich mit ihrem epischen Familienroman „Wenn wir heimkehren“ auf autobiografische Spurensuche ihrer eigenen Familie und Großeltern. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen hinweg entwirft sie ein authentisches Bild des gebeutelten Nachkriegsdeutschland anhand von weitgestreuten, persönlichen Geschichten durch 80 Jahre Zeitgeschehen.

Im Mittelpunkt stehen Margot und ihre Männer (einschließlich Sohn Fred) in einer schwierigen Zeit. Im Köln der 1950er-Jahre trifft die alleinerziehende, resolute und doch innerlich zerrissene Margot auf den lebensbejahenden Willi, der trotz seelischen und physischen Kriegstraumata nicht die Lebensfreude verliert. Er ist fasziniert von Margot und es entsteht eine jahrzehntelange Liebe voller Widrigkeiten, Auseinanderdriften und Wiederzueinander finden, voller Schuld, Verdrängen und einfach Weitermachen. Heuser erzählt unheimlich detailverliebt, erschafft für jedes Jahrzehnt eine dichte, detailgetreue und gut recherchierte Zeitreise mit viel Lokalkolorit und melancholischen Erinnerungen. Auf den umfangreichen 600 Seiten ist die Geschichte rund um das ungleiche Paar Margot und Willi sowie dem intellektuellem Sohn Fred mit zahlreichen Rückblenden, Anekdoten und Abschweifungen in der Zeitleiste und an verschiedenen Orten versehen, bis das berührende und atmosphärische Epos am Ende in der Gegenwart ankommt. Darüber hinaus streut Heuser zahlreiche Liedzitate und anderen Redensarten auf verschiedene Sprachen ein – leider ein wenig zu viele.

Von den 1930er bis 90er-Jahren spannt Heuser eine weitläufig verzweigte Familiengeschichte, in denen verloren geglaubte Seelen immer weitermachen, zwischen Hoffnung, Freude und Schmerz schwanken und am Ende sehen, wie sich ihre Leben transgenerational verbinden, samt Traumata. Die Farben des Lichts und der Erinnerungen spielen eine zentrale Rolle, aber auch, was am Ende von all den Begegnungen bleibt.

Leider verliert sich die autobiografisch geprägte und poetisch in zwei Teilen erzählte Familiengeschichte an einigen Stellen zu sehr im Detail und in den vielen persönlichen und historischen Abschweifungen – eine Straffung und präzisere Strukturierung rund um einen roten Faden hätte hier sehr gut getan. Trotzdem insgesamt ein akribisch und gut recherchierter (Liebes-)Roman voller Erzählfreude über persönliche und fiktive Erinnerungen – und wie unterschiedlich diese betrachtet werden können, je nachdem „wie das Licht fällt“. Und ein unterhaltsames Stück deutsche Zeitgeschichte aus den (Nach-)kriegsjahren, den dazugehörenden Wunden, Traumata und Träumen sowie der schwierigen Rolle als Frau – auch wenn es einige Längen beinhaltet, die den Lesefluss bremsen.