Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
amara5

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 30.03.2022
Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten
Jamalzadeh, Elyas;Hepp, Andreas

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten


sehr gut

Geboren um zu Flüchten
Wie das Unfassbare in Worte fassen, wenn wiederkehrende Albträume und die Angst vor tiefen Gewässern immer noch präsent sind? Elyas Jamalzadeh gelingt mit seinem Freund und Co-Autor Andreas Hepp in einer frischen, modern-jugendlichen Sprache, die zwischen Tragik und Situationskomik changiert, in „Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten“ genau das: Gemeinsam erzählen sie die schmerzhaften und unglaublichen Fluchtepisoden von Elyas so direkt, authentisch und unmittelbar-ungeschönt, dass sie spür- und erlebbar sowie durchaus unterhaltsam jedem Leser ins gemütliche Wohnzimmer transportiert werden, während Menschen auf dem Mittelmeer um ihr Überleben kämpfen. Dabei sticht vor allem die lakonische Selbstironie von Elyas hervor, mit der er die schlimmsten Situationen schwarzhumorig beschreibt und die Leser auch direkt anspricht und miteinbezieht – diesen könnte manchmal das Lachen zwar im Halse steckenbleiben, doch am Ende siegt der unbeschreibliche mutmachende Lebenswille und zielstrebige Tatendrang von Elyas.

Die Familie Jamalzadeh lernt bereits in ihrem Heimatland Afghanistan die todbringenden Schrecken des Taliban-Terrors kennen und muss in den Iran flüchten, nachdem ihr Haus in die Luft gesprengt und eine Tochter entführt wurde. Dort kommt Elyas zur Welt und muss sich als illegaler Geflüchteter ohne Papiere bereits in sehr jungen Jahren ohne Schulbildung durchs Leben kämpfen und den Unterhalt seiner Familie mit illegalen Mitteln bestreiten, nachdem seine Brüder schon geflohen sind. Doch dann gerät er in Abschiebehaft in einem Gefängnis, das der Hölle gleicht. Er kann zwar freikommen, doch gemeinsam mit seinen Eltern beschließt Elyas über die lebensgefährliche Mittelmeer-Route nach Griechenland und über Land nach Österreich zu fliehen – eine menschenverachtende Tortur voller 'Games' (Fluchtversuche über die Grenze), Rückschlägen und korrupten Schleppern nimmt seinen Lauf, bei denen Elyas nicht nur in eigener, sonder auch in Todesangst um seine gebrechlichen Eltern schwebt.

In Österreich angekommen, durchlebt die Familie ein turbulentes Auf und Ab in Flüchtlingsheimen, aber auch unglaubliche Hilfsbereitschaft in Goisern – dort wird Elyas seine große Liebe und eine Schulbildung finden. Doch das Glück währt nicht lange und Interpol steht vor der Tür, um die Familie sicherheitsbedingt wieder umzusiedeln: Der Terror verfolgt sie bis in die neue Heimat. Und Elyas erhält zudem noch die schreckliche Diagnose eines Hirntumors. Doch er lässt sich nicht unterkriegen und geht seinen Weg in die Hoffnung – Elyas wird heiraten und in Eferding eine Lehrstelle zum Friseur erhalten.

In einem kreativen und eigenwilligen Sprach-Spiel mit Reimen, Quizfragen, Gedichtszeilen, originellen Überschriften und der direkten Ansprache des Lesers ist es Andreas und Elyas gelungen, nicht nur eine individuelle und persönliche Lebens- und Fluchtgeschichte bewegend, realitätsnah und horizonterweiternd zu vermitteln, sondern ein universelles und eindringliches Narrativ über die Lebenslinien von Geflüchteten zu schreiben und was jeder Einzelne gesellschaftlich zu deren Integration leisten kann. Die Lektüre ist vom frech-facettenreichen Erzähl-Stil vorzugsweise an Jugendliche gerichtet, doch auch jeder erwachsene Leser wird nicht unberührt diese Geschichte, die auch viele Kindheits- und Jugenderinnerungen aus anderen Kulturen sehr szenisch, anekdotenhaft und dicht schildert, weglegen und weiter darüber nachdenken, wie privilegiert wir Menschen sind, die nicht geboren wurden, um zu flüchten. Eine lesenswerte und packende Romanbiografie, bei der man zwischen Lachen und Weinen stark und nachhallend mitfühlt. Und bei der ein Teil der Erlöse Geflüchteten zugute kommt!

Bewertung vom 28.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


sehr gut

Politisch brisante Irrwege
Lucy Frickes neuer Roman „Die Diplomatin“ taucht im modern-rasanten Ton tief in die diplomatischen Gefilde ein und zeigt eine authentische und tiefenscharf gezeichnete Botschafterin, die ambitioniert um ihre Ideale an die Diplomatie und Freiheit kämpft – am Ende auch mit ungewöhnlichen Mitteln.

Diplomatin Friederike Andermann, genannt Fred, hat 20 Jahre lang ihre berufliche Laufbahn im Auswärtigen Amt vorangetrieben, um mit Ende Vierzig endlich eine Position als Botschafterin zu erhalten. Doch in Montevideo/Uruguay ticken die Uhren noch anders und Fred ist mehr mit Event-Management als mit relevanten Aufgaben beschäftigt. Als die Tochter einer sehr einflussreichen deutschen Verlegerin in Uruguay verschwindet, nimmt Fred das Anliegen weniger ernst und hält strikt bürokratische Abläufe ein. Ein Fehler, wie sich später herausstellt und Fred wird als Konsulin nach Istanbul versetzt, wo sie ganz andere Seiten an sich entdeckt.

Dort kommt sie bei den autoritären Strukturen und politischen Machenschaften samt bilateralen Verknüpfungen an die Grenzen ihres Glaubens und setzt sich für die Freilassung einer inhaftierten Kuratorin kurdischer Abstammung samt ihres aus Deutschland angereisten Sohnes ein. Da diplomatische Absprachen nicht gehalten werden und der offene Dialog nicht stattfinden kann, beschließt Fred, die Dinge auf anderen Wegen in die Hand zu nehmen und ein sehr spannend-unterhaltsamer Polit-Krimi nimmt seinen brisanten Lauf mit vielen Verstrickungen und Wendungen. Und auch Freds private Angelegenheiten werden feinfühlig-humorvoll angesprochen: Eine männderdominierte Berufswelt, eine fehlende Familie samt einem Mann, der alle vier Jahre in ein anderes Land folgt sowie eine komplizierte Kindheit und verkappte Gefühle.

Im typisch brillant-trockenen und treffsicheren Fricke-Ton hat die Autorin einen höchst aktuellen und politischen Roman entworfen, dem sie mit ihrer präzisen und langen Recherche in der Diplomatenszene eine detaillierte, reale und dichte Atmosphäre einhaucht. Zudem sitzen die knappen Dialoge auf den Punkt und changieren zwischen Lakonie, schwarzem Humor und sehr kluger Beobachtung der verschiedenen Ebenen in der Diplomatie. Der Roman beginnt nonchalant in Montevideo und entwickelt sich in Istanbul zu einem nervenaufreibenden, bedrohlichen und soghaften Plot, der sehr realitätsnah die gesellschaftlichen Schrecken in der Türkei und aufrüttelnd die Grenzen der Diplomatie aufzeigt. Und doch verliert die Autorin in ihren verdichteten, klaren und pointierten Sätzen dabei nie ihren Hang zur Ironie und Lebensweisheit.

Ein sehr lesenswerter, hochaktueller Roman über eine Diplomatin zwischen Ernüchterung, Hilflosigkeit und Vorwärtsgehen sowie beruflichen und privaten Problemen.

Bewertung vom 14.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


sehr gut

Reich des Konsums
Die erfolgreiche und feinsinnige Autorin Delphine de Vigan bleibt ihren gesellschaftskritischen Themen treu und behandelt diesmal die gefährliche und übertriebene Zurschaustellung von Kindern im Internet – einziges Ziel dieser Influencer-Eltern sind Geld, Klicks und Konsum, auch wenn darunter das eigene Familienleben in Mitleidenschaft gezogen wird.

Mutter Mélanie Claux war früher fasziniert von Reality-TV-Shows und Fan von Loana, die durch diese Programme und besonders durch Loft Story berühmt wurde. Doch der eigene Erfolg in diesem Genre war Mélanie nicht vergönnt und so muss ihre eigene Tochter Kimmy herhalten, die zusammen mit ihrem Bruder mittlerweile zum Star des Instagram- und Youtube-Kanals Happy Récré mit unzähligen Werbeverträgen geworden ist. Alles was die Kinderkönige in ihrem eigentlich privaten Reich machen, wird online inszeniert, verkauft und zur Schau gestellt – eine Privatsphäre ist nicht mehr vorhanden, denn Millionen von Fans wollen mit ihrer Sucht nach Bildern bedient werden. Kimmy wird zunehmend abweisender und genervter von diesen vielen Inszenierungen – und dann wird sie bei einem Versteckspiel entführt, was zur Haupthandlung dieses brisant-spannenden Romans wird.

In abwechselnden Passagen verknüpft Vigan brillant und gekonnt protokollartig die nüchtern-akribische Ermittlungsarbeit der engagierten Kriminal-Polizistin Clara mit der psychologisch-soziologischen Innenschau in die Familie, bei der die Leere des eigenen Lebens durch die suchtartige Faszination der ständigen Online-Exposition der Kinder kompensiert wird. Wie mit einem Schlag ins Gesicht, aber ohne belehrend oder wertend zu sein, erschafft die Autorin ein gesellschaftskritisches Zeitbild unseres Konsumverhaltens und über den Umgang mit Influencer-Kinderkönigen im Netz. Sensibel, intensiv und präzise sprengt sie literarische Genres, um fast dokumentarisch-wissenschaftlich den Finger in die Wunde eines hochaktuellen Themas zu legen.

Wie wirkt sich der Drang nach dem eigenen Leben in der Virtualität samt Dopamin-Sucht mit jedem Klick und Like auf unser Leben und das unserer Kinder aus? Warum brauchen wir den Blick und Kommentar des anderen im Netz, während unser wirkliches Leben in der Langeweile versinkt? Ein direkter, kraftvoller und flüssig-tiefgründig geschriebener Roman mit scharfen Beobachtungen über die Konsequenzen und Folgen dieser zur Schau gestellten Kinder und deren gestohlenen Leben, der zum weiteren Nachdenken anregt und auch medienrechtliche Themen versiert recherchiert integriert. Außergewöhnlich auch das Ende, in dem die Autorin ins Jahr 2031 und auf die erwachsenen Kinderstars blickt und ein bewegendes Fazit zieht.

Bewertung vom 01.03.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


sehr gut

Schwimmzüge eines Lebens

Die erfolgreiche Drehbuchautorin Miranda Cowley Heller hat mit ihrem schriftstellerischen, bewegenden Debüt „Der Papierpalast“ nicht nur die heile Welt eingefangen, die ein Familienclan Sommer für Sommer am Cape Cod in den Back Woods erlebt, sondern zeigt auch auf eindringliche Weise die schmerzvollen Traumata und Verletzungen, die ein Menschenleben umspannen können. Was sich also im ersten Moment als leichte Lektüre für den Sommerurlaub anhört, entpuppt sich als feinfühliges und teils aufrüttelndes Psychogramm einer sensiblen und verletzten Seele und welch bewegtes Leben einer großen Entscheidung vorausging.

Seit 50 Jahren kehrt Mutter und Ich-Erzählerin Elle Bishop in das Sommer-Familienhaus Papierpalast Jahr für Jahr zurück – nun erzählt sie an nur einem Tag, an dem sie überlegt, ihren Mann Peter für ihre Jugendliebe zu verlassen, detailreich und einfühlsam ihr Leben und das ihrer ganzen Familie. Dabei verwebt Heller klug konstruiert viele chronologisch sortierte Szenen aus der Vergangenheit, bei denen zahlreiche Figuren und ihre Lebenslinien an verschiedenen Orten auftauchen, um szenisch und atmosphärisch packend auch den Plot in der Gegenwart weiterzuentwickeln. Die lebenslangen Gefühle zu Elles Jugendfreund Jonas, aber auch Gedanken zu Trauer, Schuld und Liebe spielen dabei eine tragende Rolle.

Die Autorin lässt in der fesselnden Geschichte präzise ihr ganzes Geschick als Drehbuchautorin freien Lauf und webt in das Zwischenmenschliche gekonnt viele leise und meisterhaft beschriebene Momente der Natur, das Ritual des Schwimmens und alltägliche authentisch-scharfsinnige Beobachtungen mit ein. Die Familiengeschichte von Elle, ihre Kindheit, Jugend und ihre Ehe sind sehr subtil, wahrhaftig und mit vielen poetischen Sätzen geschildert und schicken den Leser soghaft und bildgewaltig in das weit umfassende Familienepos und in Elles packende Memoiren und ihren schmerzhaften Zwiespalt zwischen zwei äußerst unterschiedlichen Männern.

Vielleicht hätte dem bemerkenswerten Debüt die ein oder andere Kürzung der sehr schwer verdaulichen Themen und vielen Nebenfiguren gut getan und doch tragen diese zu der literarischen Tiefenschärfe von Elle bei – und alle Details aus der Geschichte der Eltern und Großeltern decken transgenerationale Traumata auf und führen wie rote Fäden zur konkreten Nachvollziehbarkeit von Elles berührender Entscheidung ihres Lebens am Ende des Romans.

Ein feinfühlig-kluger Einblick mit einer reichhaltigen Prosa in ein halbes Jahrhundert unglücklicher Familiengeschichte, vieler Sommer am Cape Cod und feinsinnige Reflexionen über das Leben – so filmreif geschrieben, dass man sich auf die Verfilmung sicher freuen kann!

Bewertung vom 22.02.2022
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


sehr gut

Goldglänzender Wohlgeschmack
Der internationale Bestseller „Butter“ der japanischen Erfolgsautorin Asako Yuzuki nimmt psychologisch und kriminologisch messerscharf das Rollenbild der Frau in Japan ins Blickfeld.

Die strebsame Journalistin Rika hat eine anstrengende Arbeit in einem diskriminierenden und männerdominierten Umfeld und isst lieber schnelles Convenience Food als zuhause aufwendig zu kochen. Bei der Recherche zu einem neuen Artikel lässt sie der Fall Manako Kajii nicht los – die Frau mit prominentem Food Blog wurde zur lebenslanger Haft verurteilt, da sie drei Männer erst durch ihre Kochkunst bezirzt und dann umgebracht haben soll, auch wenn alles nach Selbstmord aussieht. Nach einer gelungenen Überzeugung wird Rika die geheimnisvoll-einnehmende Kajii, die Margarine und Feministinnen hasst, im Gefängnis besuchen und ihr sowie ihren exquisiten Kochkünsten mit viel hochwertiger Butter verfallen und sich von dem japanischen sehr schlanken Weiblichkeitsideal peu à peu verabschieden. Denn Prämisse für die Besuche sind: Es wird nur über Essen und Rezepte geredet und Rika muss alles nachkochen. Die manipulative Kajii übt eine verhängnisvolle und delikate Anziehung aus und ehe sich Raki versieht, werden noch weitere Menschen wie ihre innige Freundin Reiko verwickelt.

Bereits in zehn Sprachen übersetzt und in Japan ein Kultbuch, zeichnet Asako Yuzuki in ihrem gesellschaftspolitischen und feministischen Kriminalroman eine humorvoll-spannende und aufschlussreiche Abwicklung über die Stellung der Frau in Japan, während sie nonchalant und gekonnt nebenbei noch eine faszinierende Kriminalgeschichte aus der Sicht einer akribischen und ambitionierten Reporterin erzählt. Ihr Gegenüber: eine Mörderin, die sich zwar Konventionen entgegenstellt, aber nichts von Feminismus hält und Frauen in der Küche sieht und doch von ihr abhängige Männer ermordet. Dabei kämpfen aktuell japanische Frauen in der Berufswelt um Gleichstellung und Anerkennung in patriarchal geprägten Strukturen. Und Raki wird in ihrem Berufsethos, das einen neutralen Blick fordert, erschüttert und doch lernt sie sich selbst näher kennen.

Feinfühlig, szenisch und sinnlich entführt Asako Yuzuki in eine detaillierte Genusswelt voller leckerer Gerichte, die Reue auslösen können – denn Rika nimmt an Gewicht zu, was bei den japanischen Männern nicht gerne gesehen wird. Kochen und die Familie verwöhnen ja, aber dabei bitte gertenschlank bleiben. Die Butter steht dabei für ein Produkt, das in Japan schwerer und teurer zu erhalten ist und die Rika im Roman nur in Feinkostläden besorgen kann. Das Psychogramm der mutmaßlichen Mörderin Kajii ist sehr fesselnd und rätselhaft (und scheint auf dem wahren Fall der Kanae Kijima zu beruhen) – in der Öffentlichkeit als dick und hässlich beleidigt und in der Strafverteidigung vernachlässigt, wird nie ganz genau klar, ob sie wirklich die Morde begangen hat.

Eine klug und komplex komponierte Geschichte einer weiblichen Selbstbestimmung zwischen scharfsinnigem Kriminalfall und japanischem Frauenleben mit strengen gesellschaftlichen Konventionen sowie einer innigen Freundschaft – und inspirierend auf mehreren Ebenen, nicht nur der herausragend kulinarischen!

Bewertung vom 14.02.2022
So reich wie der König
Assor, Abigail

So reich wie der König


sehr gut

Hoffnungen in Thymiangrün
Abigail Assors bewegender Debütroman „So reich wie der König“ beschreibt in einer poetisch-bildhaften Sprache die schonungslosen Machtverhältnisse zwischen Arm und Reich im Casablanca der 1990er-Jahre.

Die 16-jährige Sarah lebt mit ihrer Mutter in einem heruntergekommenen Haus im Stadtviertel Hay Mohammadi mit Blick auf die angrenzende Barackensiedlung im Slum – trotz französischem Gymnasium und Pass bestimmt die Armut ihr Leben in dem von sozialer Ungleichheit und Patriarchalismus geplagten Land. Ihr einziges Kapitel ist ihre Schönheit und Sarah ist davon überzeugt, ihre Lebenslinien umzulenken und sich ein Königreich voller Reichtum aufzubauen. Wie ihre Mutter hat sie die Codes gelernt, wie sie Männer bezirzen kann und dadurch zum Getränk oder Essen eingeladen wird. Durch ihre Clique, mit der sie viel umherzieht, lernt sie Driss kennen – den Sohn einer sehr reichen Unternehmerfamilie mit Villa auf dem Anfa-Hügel. Seine Hässlichkeit und Introvertiertheit stören sie nicht, sie kann ihn für sich gewinnen und sieht in seinen bestechenden thymiangrünen Augen, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ziehen, die Chance auf eine bessere Zukunft. Unbedingt möchte sie ihn heiraten und schmiedet dafür einen verhängnisvollen Plan. Doch Driss ist nicht nur reich, er ist auch Fassi – eine sehr mächtige, einflussreiche Kaste mit strengen Hierarchien und Regeln, auch bei der Heirat. Bei dem von Driss’ Eltern ausgerichteten Opferfest bekommt Sarah eindrucksvoll und filmisch geschildert diese Herrschaftsverhältnisse zu spüren.

Auch wenn der Titel nach einem Märchen klingt, zeigt Abigail Assor mit einer sprachlichen Wucht sowie einer gelungenen auktorialen Erzählweise das schmerzvolle Scheitern von Sarahs mutig-ambitionierten Weg voller Kalkül auf, ihrer sozial prekären Schicht zu entfliehen. Mit einer präzisen und sehr sinnlichen Prosa beschwört sie atmosphärisch dicht die Farben und Schönheiten Casablancas, um sie im nächsten Moment mit der harten Realität der marokkanischen Gesellschaft kollidieren zu lassen. Scharfsinnige soziologische Beobachtungen zu Macht, Tyrannei, Reichtum und Armut fließen in die berührende und hypnotische Geschichte, die zwischen Zärtlichkeit und Gewalt changiert und mit einem spannenden Ende aufwartet.

Ein bemerkenswertes Debüt und eine fein nuancierte Initiationsgeschichte nicht nur für Jugendliche, hervorragend übersetzt und das auf weitere vielversprechende Werke der neuen französischen Stimme hoffen lässt!

Bewertung vom 08.02.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


ausgezeichnet

Fiktion einer Verwirrung
Julia Schoch beginnt mit „Das Vorkommnis“ einen herausragenden und sehr klug komponierten Auftakt der Trilogie „Biografie einer Frau“, in der die autofiktionale Ich-Erzählerin und Autorin anhand einem verwirrenden Vorkommnis tief in ihre Erinnerungen, Wahrheiten und das zarte Geflecht ihrer Familie eintaucht.

Bei einer Lesung kommt eine Frau auf sie zu und gibt zu verstehen, dass sie ihre Halbschwester ist – sie haben den gleichen Vater! Ein Familiengeheimnis, das eigentlich keins ist, denn schon lange ist das Dasein der zur Adoption freigegebenen Schattenschwester bekannt, aber das persönliche Treffen bringt die Autorin in einen Strudel der allgemeinen und tiefen Verwirrung, den sie gedanklich zu ordnen versucht. Assoziativ, philosophisch und intim geht sie auf Spurensuche in ihren zerbrechlichen Erinnerungen und bringt die vorbestimmte Geometrie einer Familie in ihren Gedanken erheblich zum Wanken. Wer sind ihre Eltern und ihre 'richtige' Schwester? Ist ihr Ehemann derjenige, den er vorgibt oder eine Täuschung? Was macht eine Ehe und eine Mutterschaft aus und kann man die Erinnerungen und Familiengeschichte umschreiben?

Achronologisch verwebt Julia Schoch hierbei Ereignisse aus der Gegenwart der Autorin wie ihr Auslandaufenthalt in den USA, wo sie an einer Universität Vorlesungen zum Deutsch-deutschen Literaturstreit hält, mit Reflexionen zu ihrer Vergangenheit. Sie sinniert und entwirft neue Gedankenkonstrukte zu ihren Eltern, dem Aufwachsen in einem Provinzort der DDR sowie dem Da-Sein als Mutter und Ehefrau. Und sie geht noch weiter – gehemmt durch eine Schreibblockade taucht sie immer tiefer ein in das, was wir unsere feste Vergangenheit nennen und wie sie anhand des Schreibens eventuell umgeformt werden kann. Währenddessen liegt ihr Vater in Deutschland im Sterben, die Mutter kümmert sich um die kleinen Kinder in den USA, der Mann kommt zu Besuch und argwöhnisch sucht die Erzählerin ihm auf die Schliche zu kommen – könnte auch er anderswo Kinder gezeugt haben? Warum hat eine Familie diese festen Strukturen und unsichtbaren Geflechte?

Vielschichtig, mit einer sprachlichen Stilsicherheit und klaren Poesie sowie sehr präzis-dichten Gedankengängen entführt Schoch den Leser in sein eigenes Lebenskonstrukt, in seine privaten Vorkommnisse und Katastrophen und stellt philosophische Fragen, ohne jemals pathetisch-rührselig zu wirken oder den Ball zur Geschichte zu verlieren. Subtil und virtuos spinnt sie einen literarisch brillanten Faden, der in die gedanklichen Geäste und Rückblicke der Erzählerin führt, in ihre Lebenslinien zwischen Wahrheit und Verwirrung und am Ende ein kluges Bild über gesellschaftliche Zusammenhänge präsentiert.

„Mir scheint, ich bin nach all den Jahren einer Erklärung auf der Spur, einem Zusammenhang zwischen Dingen, die auf den ersten Blick nicht miteinander verbindet. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht logisch begründen. Ich versuche, ihn schreibend herzustellen. Schreiben bedeutet, Einzelteile aufeinander zufliegen zu lassen, damit sie sich zusammenschieben und in der richtigen Weise überlagern, wie bei einem 3D-Puzzle, das plötzlich einen Körper im Raum gibt.“ S. 90

Bewertung vom 31.01.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Geister im Kopf
Fatma Aydemir hat mit ihrem ergreifenden Gesellschaftsroman „Dschinns“ eine berührend-intensive deutsch-türkische Familien- sowie Einwanderungsgeschichte erschaffen, die mit einer kraftvollen poetischen und feinsinnig nuancierten Prosa tief bewegt und in die Seelen sowie Dschinns der erzählenden Familienmitglieder blicken lässt.

Familienoberhaupt Hüseyin kam als türkischer Gastarbeiter vor Jahrzehnten nach Deutschland, um sich Wohlstand aufzubauen – als er es endlich vollbracht hat, mit viel Liebe zum Detail eine Eigentumswohnung in Istanbul fertigzustellen, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt. Voller Trauer, Erinnerungen und unausgesprochenen Verletzungen reisen fast alle Familienmitglieder an, um Baba seine letzte Ehre zu erweisen. Aydemir lässt nun kapitelweise die Protagonisten Ümit, Sevda, Peri, Hakan und Mutter Emine aus ihrem Leben zwischen den Kulturen, familiären Zwängen und dem schwierigen Ankommen in Deutschland feinfühlig erzählen – dabei changiert sie klug zwischen dem Heute und Fragmenten aus der Vergangenheit, zwischen der Türkei und Deutschland, zwischen Freude und Schmerz, dem Ankommen und schmerzvollen Rassismus im Land, zwischen unerfüllter Liebe und nie Ausgesprochenem in der Familie, in der jeder mit seinem eigenen Dschinn in der Seele kämpft. Diese mythologischen Geistwesen einer Parallelwelt können laut dem islamischen Glauben auf den Menschen einwirken und sie werden besser nicht gerufen. Doch in Aydemirs sind es eher die seelischen Wunden und unverarbeiteten Traumata, Unausgelebtes, Zurückgedrängtes und fehlende Nähe so wie zwischen der depressiv-herrschenden Mutter und Tochter Sevda, die erst später nach Deutschland geholt wurde.

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ S. 193

Poetisch und mit psychologischer Wucht und präziser Beobachtungsgabe zeichnet sie jedes Familienmitglied sehr plastisch, dringt tief in ihr Innerstes und zeigt neben den unerfüllten Lebensträumen und der Suche nach Identität nicht nur die kulturelle Zerrissenheit, sondern auch die fremdenfeindlichen Spaltungen in unserer Gesellschaft. Im letzten aufwühlenden und leicht rätselhaften Kapitel blickt Emine in der leeren, unbewohnten Wohnung in ihr Spiegelbild – und entdeckt etwas viel Größeres. Ein hervorragend gut komponierter und tiefsinniger Roman, der so schnell nicht loslässt!

„Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen und nichts erbarmslungsloser ist als die eigene Fantasie?“ S. 185

Bewertung vom 21.01.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Weitverzweigte Rettung

Pulitzer Prize-Finalist Percival Everett erkundet in seinem bewegenden Roman „Erschütterung“ in vielschichtigen Ebenen und mit spielerischer Erzählfreude die Trauerbewältigung eines Mannes um seine todkranke Tochter. Ich-Erzähler ist der melancholische und eher träge Geologe-Paläobiologe Zach Wells – mit der Erforschung von Höhlen im Grand Canyon kennt er sich bestens aus, doch Emotionen meidet er und seine Ehe zu Meg ist mehr eingefroren als lebendig. Seine Liebe und Aufmerksamkeit gilt Tochter Sarah, mit der er gerne lacht, denkt und Schach spielt. Als sie bei einem Schachzug nicht reagiert, beginnt sich langsam eine Tragödie über die Familie zu legen: Sarah leidet an einer tödlichen, degenerativen Erkrankung, der Batten-Krankheit – Aussetzer, Krampfanfälle und ein schleichender Tod.

Hilflosigkeit macht sich breit und Zach sucht Schmerzlinderung und kleine Ausflüchte in sein weit verzweigtes, logisches Denken und Analysieren sowie in assoziative Tagträume und philosophisch-geologische Ausführungen, die ihn immer mehr in ein dunkles Loch ziehen. Aber auch in Unternehmungen außer Haus versucht er Trost und Halt aus dem quälenden Schmerz. Zach kann zwar seine Tochter nicht retten, sucht aber andere außergewöhnliche Wege, um sich selbst und andere zu retten. In seiner Second-Hand-Jacke findet er einen mysteriösen Zettel mit dem Hilferuf „Ayúdame“ – er wird diesem in die Wüste von New Mexico folgen, um krimihaft einer Gruppe zwangsverarbeiteter Frauen zu helfen. Realität, Tagtraum und Fiktion beginnen sich immer mehr zu vermischen und mit Gedanken zu verschachteln – die lange Wanderung und das berührende Ende in New Mexico war Everett in der Originalfassung sogar drei Versionen wert, die im Handel zu kaufen sind.

Percival Everett gelingt es in „Erschütterung“ mit einer herausragend schönen Prosa, existentielle Themen wie Trauer und Tod nicht in einen rührseligen Plot zu verpacken, sondern mit intellektuell-lakonischen Gedankenspiralen und weiteren teils abstrakten Assoziationen von Zach einen ebenso rätselhaften wie intim-packenden Trip in die verzweifelte, menschliche Psyche zu kreieren, der sich tief einprägt und facettenreich interpretiert sowie rezipiert werden kann. Ein außergewöhnlicher, philosophischer und tiefgreifender Roman über Ohnmacht, Schmerz, Trauer und dem Weitermachen sowie den vielen weitverzweigten Gabelungen, Entscheidungen und Wegen, die sie unkontrollierbar in sich bergen.

Bewertung vom 15.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


sehr gut

Melancholie der Rastlosen

Gianfranco Calligarichs atmosphärischer Roman „Der letzte Sommer in der Stadt“ erschien schon 1973, war recht erfolgreich und verschwand dann plötzlich aus dem Buchhandel. Doch schnell avancierte das Buch zum Kult und erscheint nun glücklicherweise erstmals auf Deutsch.

Ich-Erzähler und Protagonist des Romans ist Leo Gazzarra: Im Rom der 1970er-Jahre verkehrt der junge Journalist in der Bohème der italienischen Hauptstadt – es wird gefeiert, geraucht, getrunken, diskutiert oder am Piazza Navona getroffen. Doch bei aller Lust an der Kultur und am Feiern, durchzieht eine leise Melancholie und Selbstzerstörung den Roman, denn Leo wird bald arbeitslos und zieht ziellos im Dunst des Alkohols zwischen Hotels, Bars und den Wohnungen seiner intellektuellen Freunde umher. Als er die fragile und verführerische Arianna kennenlernt, beginnt eine stürmische Liebe zwischen zwei Rastlosen, die nicht wirklich lieben können und sich gegenseitig verletzen. Mit Leos maroden Alfa Romeo fahren sie durch die Nacht nach Ostia ans Meer und philosophieren über Literatur und das Leben. Die Ewige Stadt ist im heißen August wie leergefegt, ein Gefühl der Verlorenheit, des Unwohlseins und der Dekadenz macht sich breit – auf den Straßen und in den Seelen der Protagonisten, denen kein glückliches Ende zu drohen scheint.

Calligarich sind sehr szenische, elegante und metaphorische Beschreibungen der Ewigen Stadt gelungen, in denen sich emotional auch die ambivalenten Gefühle der Charaktere spiegeln. „Wie ein wildes Raubtier“ scheint sie die Menschen teilweise zu verschlingen und ihnen doch eine große Lebensqualität zu liefern. Orte und Szenen der Stadt sind so präzise bildhaft und poetisch hervorgehoben, als stehe man direkt daneben – eine gelungene Hommage, die auch die Schattenseiten hervorzuheben weiß. Ein kleiner Schwachpunkt des Romans ist die Tiefenschärfe der Charaktere und ihre psychologische Entwicklung, die etwas oberflächlich komponiert ist. Und trotzdem folgt man dem selbstbezogen und somnambul wirkenden Gazzarra leichtfüßig und soghaft durch Rom, die unglückliche Liebe und durch seine unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Eine erfreuliche Wiederentdeckung und zeitlos in ihrer feinsinnigen Erzählversiertheit, obwohl der Roman schon vor 50 Jahren geschrieben wurde.

„ … denn Rom birgt einen besonderen Rausch in sich, der die Erinnerungen verbrennt. Mehr noch als eine Stadt ist Rom ein geheimer Teil von euch, ein verstecktes Raubtier. Mit ihm gibt es keine halben Sachen, entweder die große Liebe, oder ihr müsst da weg, denn das fordert das sanfte Raubtier.“ S. 16