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Webervogel

Bewertungen

Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 06.09.2020
Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau
Lavoie, Marie-Renée

Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau


gut

Nicht mein Humor

Die Kanadierin Marie-Renée Lavoie erzählt im „Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau“ von Diane, die im Alter von 48 Jahren von ihrem Mann verlassen wird, was für sie völlig überraschend kommt. Das Leben verlief doch in so klaren, bequemen Bahnen: Die Kinder sind aus dem Haus und die Silberhochzeit steht an – die der untreue Gatte (ja, natürlich steckt eine andere, weitaus jüngere Frau hinter der Trennung) auch gerne noch feiern möchte, „denn das erwarten alle und sie haben es verdient“. Wie rücksichtsvoll! Jacques bittet seine Noch-Ehefrau, über diesen Vorschlag nachzudenken. Diane tut das auch, legt sich dann ein Facebook-Profil an, schickt Freundschaftsanfragen an alle Menschen, die sich auch nur entfernt kennt und verkündet dann nicht nur ihre Trennung, sondern auch den Silberhochzeitsfeier-Vorschlag ihres Mannes.

Schon diese kurze Passage zeigt, dass Diane offensichtlich nicht ganz so berechenbar und selbstlos ist, wie von ihrem Umfeld angenommen. Aber wer ist sie eigentlich – ohne Jacques? Dieser Roman erzählt vom Versuch einer Frau, ihr Leben neu in die Hand zu nehmen. In Tagebuchform wird die Verarbeitung einer Trennung geschildert und alle sie begleitenden Emotionen: Verzweiflung, Trauer, Trotz, kleine Rachen und Absurditäten inklusive.

Das hätte anrührend und lustig sein können, war es aber leider nicht im erwarteten Maße. Mein Problem: Diane blieb mir irgendwie fremd. Ihre Aktionen fand ich meist leicht übertrieben, nicht wirklich nachvollziehbar und ein gewisses Fremdschäm-Potential hatten sie auch. Außerdem kokettierte sie mir deutlich zu oft damit, dass sie ja ach so langweilig sei. Der Humor dieses Romans war leider einfach nicht meiner.

Bewertung vom 28.07.2020
Zwei fremde Leben
Goldammer, Frank

Zwei fremde Leben


sehr gut

Frank Goldammer erzählt in „Zwei fremde Leben“ die Geschichte zweier Frauen: Ricarda, noch keine 20 Jahre alt, bekommt 1973 ihr erstes Kind in einem Dresdener Frauenklinikum. Obwohl sie eine problemlose Schwangerschaft hatte und die Wehen pünktlich am errechneten Stichtag einsetzen, läuft die Geburt fürchterlich schief und ihr Baby kommt tot zur Welt – behauptet zumindest das Krankenhauspersonal. Ricarda darf ihr Neugeborenes noch nicht mal sehen. Von nun an bestimmt dieses Trauma ihr Leben, sowie nagende Zweifel, ob man ihr wirklich die Wahrheit gesagt hat. Denn vielleicht lebt ihr Kind ja doch noch?
Die 16-jährige Claudia erfährt dagegen 1989 eine Wahrheit, die ihr Leben verändert: Sie ist nicht die leibliche Tochter der linientreuen Funktionäre, die sie aufgezogen haben. Doch wer ist sie dann – und wie kann sie das herausfinden, wenn alle schweigen?

Nach den ersten paar Kapiteln hatte ich die Befürchtung, dass dieser Roman doch etwas vorhersehbar sein könnte. Überdies kamen mir die Personen ziemlich holzschnittartig vor: Da gab es die sympathischen, mitfühlenden Regelbrecher und die herzlosen Parteisoldaten – letztere natürlich immer am längeren Hebel. Doch „Zwei fremde Leben“ überraschte mich positiv. Es ist dann doch nicht alles so einfach, wie es anfangs scheint, und einige Figuren sind viel komplexer angelegt als erwartet. Zeit- und Perspektivsprünge tragen dazu bei, dass sich der Roman sehr abwechslungsreich liest. Dem Autor gelingt es außerdem bestens, die Verzweiflung und Hilflosigkeit der beiden weiblichen Hauptfiguren einzufangen. Wie sie sich Autoritäten ausgeliefert fühlen, liest sich nachvollziehbar und beklemmend. Man bekommt einen Eindruck, was es bedeutet, wenn man in einem totalitären Staat nicht wie gewünscht funktioniert und es nicht schafft, unter dem Radar zu bleiben.
Aber auch die Wende lässt Goldammer nicht unkommentiert und für viele seiner Figuren ist sie nicht der erhoffte Heilsbringer. Die Handlung zieht sich bis ins Jahr 2018. Ricardas deutsch-deutsches Leben begleiten die Lesenden so über fast fünf Jahrzehnte; ihre Darstellung hat mich dann auch am meisten überzeugt.

Sicher ist kein Zwangsadoptionsschicksal wie das andere. „Zwei fremde Leben“ nähert sich dem Thema von verschiedenen Seiten und geht dabei behutsamer vor, als der Anfang vermuten lässt. Ich war positiv überrascht.

Bewertung vom 15.07.2020
Paradise City
Beck, Zoë

Paradise City


gut

Gläserne Zukunft

Schon der Klappentext dieses Thrillers löst ein leichtes Gruseln aus: „Deutschland in der Zukunft. Die Küsten sind überschwemmt, die großen Pandemien überstanden, weite Teile des Landes sind entvölkert (…)“ … und dann spielt auch noch eine staatliche Gesundheits-App eine Rolle, deren Gemeinsamkeiten mit der Corona-App allerdings schon nach dem Wort „App“ enden.

„Paradise City“ mutet nur auf den ersten Blick erschreckend aktuell an, wartet aber dennoch mit zeitgemäßen Themen auf: Staatliche Kontrolle, Überwachung und Big Data im Gesundheitswesen bilden den Rahmen von Zoë Becks neuester Dystopie. Hauptfigur Liina wohnt in der Verwaltungseinheit Frankfurt, einer 10 Millionen Megacity, die gleichzeitig deutscher Regierungssitz ist. Vom Nahverkehr bis hin zum Grundeinkommen ist alles optimiert, nicht zuletzt der Mensch, der durch die Gesundheits-App KOS komplett überwacht wird, natürlich zu seinem eigenen Besten. KOS überwacht Vitalwerte, analysiert Blut- und Urinproben, verschreibt Medikamente und organisiert auch gleich ihre Lieferung per Drohne. Die App mahnt zu ausreichendem Schlaf, gesunder Ernährung und Sport und ruft, wenn nötig, auch eigenständig einen Krankenwagen. Liinas Chef, Mitinhaber einer der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenagenturen, kann sie allerdings nicht mehr helfen: Er stürzt vor eine Bahn, während die Investigativjournalistin, mit der er zusammengearbeitet hat, ermordet wird. Kann das ein Zufall sein?

Ich mag Dystopien, die noch einen gewissen Bezug zur Realität haben und „Paradise City“ gehört ganz klar in diese Kategorie. Beck erklärt zwar nicht im Detail, welche Entwicklungen zu der beschriebenen Zukunft geführt haben, streut aber immer wieder kleine Erklärungen ein. Das liest sich gut. Auch die Handlung beginnt recht vielversprechend und thematisiert komplexe Trade-offs: Exzellente Versorgung und Wohlstand versus Freiheit – was ist größtmögliche Bequemlichkeit wert? Wieso keinem Algorithmus das Denken überlassen, wenn der doch viel schlauer ist – und zudem streng darauf programmiert, nur das Beste für Individuum und Gesellschaft zu wollen? Und was ist eigentlich objektiv das Beste?

Die Handlung enthält verschiedene Perspektiven auf diese Konflikte. Allerdings fand ich enttäuschend, dass ich weder an Liina noch an die anderen Figuren so dicht ran kam, dass ich mit ihnen gezittert oder gelitten hätte. Geschilderte Emotionen waren zwar nachvollziehbar, der Funke sprang aber einfach nicht über; da blieb immer eine gewisse Distanz. Und am Ende von „Paradise City“ fallen den Protagonisten jede Menge Erkenntnisse einfach so in den Schoß. 100 Seiten mehr hätten dem Ganzen vielleicht gutgetan – die Geschichte hätte sich langsamer aufbauen und glaubwürdiger entwickeln können, eventuell wären dann auch die Figuren greifbarer geworden. Dennoch: Die Grundidee ist spannend. Letztendlich geht es auch hier um die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen und um was es sich zu kämpfen lohnt.

Bewertung vom 30.12.2019
Alles, was wir sind
Prescott, Lara

Alles, was wir sind


sehr gut

Starke Frauen

Lara Prescotts mit einem schicken, transparenten Umschlag versehenes Debüt „Alles, was wir sind“ dreht sich um die Publikations- und Rezeptionsgeschichte des russischen Romans „Doktor Schiwago“. Und die hat es in sich: Von offizieller Seite versuchte man seinen Autor Boris Pasternak schon während des von 1946 bis 1955 dauernden Schreibprozesses zu stoppen und verhaftete dessen Geliebte und Muse, Olga Iwinskaja, die Jahre im Gulag verbrachte. Nachdem der Roman fertiggestellt worden war, wagte in der UdSSR kein Verlag die Veröffentlichung. Im Ausland wuchs dagegen das Interesse an dem Text: Unter anderem die CIA hatte ein Auge darauf geworfen, denn wenn man der russischen Bevölkerung einen Text zugänglich machen würde, die die eigene Regierung ihr vorenthielte, würde das hoffentlich zur Schwächung ebendieser beitragen.

„Doktor Schiwago“ war also schon lange vor der Veröffentlichung des Romans ein grenzüberschreitendes Politikum. Autorin Prescott bringt es ihren Lesern nahe, indem sie die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählen lässt: Zum einen aus Olgas, der russischen Muse, die für den Text immer wieder ihre Freiheit aufs Spiel setzt. Auch Pasternak selbst kommt ab und zu zu Wort, aber nicht so häufig wie verschiedene CIA-Agentinnen, die von Washington aus versuchen, die Publikation des Textes in die Wege zu leiten. Und dann sind da noch die Stenotypistinnen; quasi der Schreibpool der CIA, bestehend aus überqualifizierten Frauen, die als bessere Sekretärinnen kurz gehalten werden – in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war Karriere auch in den USA immer noch Männersache.

Wie der amerikanische Geheimdienst versuchte, Literatur im Kalten Krieg zu instrumentalisieren, fand ich spannend zu lesen. Speziell bei dem CIA-Handlungsstrang wollte Prescott aber vielleicht zu viel: Hier geht es auch noch um das Privatleben einzelner Agentinnen, das interessant erzählt ist und wiederum für die damalige Zeit sensibilisiert, aber nichts mehr mit „Doktor Schiwago“ zu tun hat. Überhaupt kommt das Buch im Buch, um das sich im Roman doch alles drehen sollte, stellenweise etwas kurz: Welche Inhalte nun dafür sorgten, dass „Doktor Schiwago“ in der UdSSR nicht erscheinen dürfte, die Amerikaner die Veröffentlichung jedoch mit allen Mitteln vorantreiben wollten, wird nicht weiter benannt.

„Alles, was wir sind“ liest sich ansonsten locker, gibt Einsichten in komplett unterschiedliche Lebenswelten und handelt von vielen starken Frauen, die sich nicht von ihren Wegen abbringen lassen. Ein Roman über die Macht der Literatur – ob der Text an sich die Politik jedoch wirklich auf irgendeine Art und Weise beeinflusst hat, lässt Prescott im Dunkeln.

Bewertung vom 25.11.2019
Der Verein der Linkshänder
Nesser, Hakan

Der Verein der Linkshänder


gut

Leider überladen

Ich hatte hohe Erwartungen, als ich mit "Der Verein der Linkshänder" loslegte. Håkan Nesser kannte ich als tollen Krimischriftsteller mit intelligenten, komplexen Fällen, sympathischen Figuren und zum Teil leicht philosophischen Untertönen, hatte aber seit Jahren kein Buch mehr von ihm gelesen. In dieses kam ich zunächst nicht sonderlich gut rein.
Die Romangegenwart beginnt im Oktober 2012, nicht lange vor dem 75. Geburtstag des ehemaligen Hauptkommissars Van Veteeren, dem dieser ziemlich unbegeistert entgegensieht. Davon lenkt ihn jedoch bald die ihn noch weniger begeisternde Erkenntnis ab, dass ein Vierfach-Mord, den er 1991 aufgeklärt hat, gar nicht aufgeklärt ist. Die Leiche des mutmaßlichen Täters wird gefunden und er scheint am gleichen Tag ermordet worden zu sein wie die, die man für seine Opfer hielt. Plötzlich gibt es also einen 21 Jahre zurückliegenden, unaufgeklärten Fünffach-Mord. Die Opfer gehörten als Kinder und Teenager dem selbstgegründeten "Verein der Linkshänder" an, hatten sich aber gute zwei Jahrzehnte lang nicht gesehen, bevor sie sich 1991 wiedertrafen - und wenige Stunden später gemeinsam ums Leben kamen.

Dass diese nun ans Licht kommende Verfehlung an Van Veteerens Ehre kratzte, konnte ich verstehen. Dass ein Dreivierteljahrhundert ein Geburtstag ist, den man nicht so einfach wegsteckt, auch. Dennoch ging mir beides bald auf die Nerven, denn Van Veteerens Befindlichkeiten wurden für meinen Geschmack deutlich zu viele Seiten eingeräumt. Aufgelockert werden diese Kapitel durch andere, die 1991 spielen und nach und nach das Wiedersehen der Linkshänder beschreiben. Und schließlich taucht auch noch Inspektor Barbarotti auf - wegen eines anderen Falls und schließlich dem Verdacht, dass alles miteinander zusammenhängen könnte. Klingt kompliziert? Ist es auch. Und liest sich - nachdem Van Veteerens Geburtstag dann irgendwann vorbei ist und der Krimi doch langsam Fahrt aufnimmt - trotzdem recht gut, denn Håkan Nesser kann prima schreiben, Persönlichkeitsentwicklungen glaubhaft darstellen und spannende Geschichten entwerfen. Diese hier hat mal locker drei ausufernde Nebenhandlungen, die an und für sich alle interessant sind. Dennoch: Für meinen Geschmack will der Autor hier zu viel. Ein neuer Fall, ein alter Fall, ein noch älterer Fall, aktive Polizisten, Polizisten im Ruhestand, die Ehefrau eines Polizisten im Ruhestand, Trauer, Angst, Rache, Schuld - und trotzdem hatte ich noch vor Seite 200 eine Ahnung, wer der wahre Mörder sein könnte. Diese bestätigte sich dann auch gute 400 Seiten später. Und dann war der Fall zwar aufgeklärt, ließ mich aber mit einigen großen Fragezeichen zurück, weil manche Geschehnisse einfach nicht logisch sind. Ich kann hier kaum Beispiele nennen, ohne zu spoilern, aber ich hatte den Eindruck, dass Handlungsstränge einfach abbrachen, sobald der Erklärungsbedarf zu offensichtlich wurde. Weniger wäre hier wohl mehr gewesen - weniger Schauplätze, Ermittler, Geburtstagsblues und nicht so viele Seiten. Ich denke, das hätte der Geschichte gutgetan.

Bewertung vom 07.11.2019
Der zehnte Gast
Lapena, Shari

Der zehnte Gast


sehr gut

„Der zehnte Gast“ enthält vieles, was einen guten Krimi ausmacht. Die überschaubare Anzahl an sehr unterschiedlichen Figuren hat mir gefallen, teilweise hätte ich mir die Charaktere allerdings etwas mehrdimensionaler gewünscht. Der ein oder andere Protagonist war mir zu schwarzweiß gezeichnet und so richtig sympathisch wird eigentlich auch keine der Figuren. Ordentlich Spannung kommt aber trotzdem auf, vor allem, da Lapena ihre Leser immer wieder in verschiedene Perspektiven schlüpfen lässt. Dadurch wird schnell klar: Mehr als einer der Anwesenden hat etwas zu verbergen. Aber macht das auch einen von ihnen zum Mörder?

Das Miträtseln hat mir Spaß gemacht und ich tappte lange – sehr lange – im Dunkeln und habe die Auflösung nicht kommen sehen. Das vielleicht etwas viel Zufall im Spiel war – geschenkt. Insgesamt ist „Der zehnte Gast“ solide Krimiunterhaltung an einem kalten Winterabend und lässt einen kaum mehr los, wenn man sich erstmal eingelesen hat. Mit Agatha Christie kann Lapena vom Raffinessegrad her nicht mithalten, aber es kann eben auch nur eine Queen of Crime geben.

Bewertung vom 07.11.2019
Der Fund
Aichner, Bernhard

Der Fund


ausgezeichnet

Grandioser Pageturner voller Wahnwitz

Dieser Thriller ist ein echtes Juwel. Das Cover sieht unscheinbar aus, doch in dem gelben Buchblock verbergen sich jede Menge Wahnwitz und Originalität. Der Erzählstil ist komplett ungewöhnlich. Kurz gesagt: Bereits nach wenigen Seiten bekam ich eine Ahnung vom Potential dieser Geschichte, die mich dann auch postwendend süchtig werden ließ.

„Der Fund“, um den es in dem gleichnamigen Thriller von Bernhard Aichner geht, wird von Supermarktverkäuferin Rita gemacht. Die unscheinbare und unbescholtene Mittfünfzigerin hat etwas entdeckt und entwendet – eine Entscheidung mit tödlichen Folgen: Bereits zu Beginn des Buches ist klar, dass Rita eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Aber was ist bloß passiert?

Das fragt sich auch ein männlicher Ermittler, über den sonst absolut nichts zu erfahren ist. Kapitel mit wörtlicher Rede – der Ermittler fragt, die oder der Befragte antworten – wechseln sich mit Rückblenden aus Ritas Leben ab. Die Kapitel sind kurz, der Erzählstil temporeich und die vielen Befragungen ergeben jede Menge Puzzlestücke – einzelne Anekdoten, von denen viele nicht zusammenhängen. Oder doch?

Die Ausgangssituation von „Der Fund“ ist so simpel wie der Plot einzigartig. Überdies ist Bernhard Aichner ein Meister des Menschlichen – er schildert Ängste, Sehnsüchte, Abgründe und Leidenschaften so lebendig, dass man die Figuren richtiggehend vor sich sieht. Und wann immer man denkt, man hätte die Geschichte endlich durschaut, vollführt der Autor eine 180 Grad-Wendung, die nicht vorhersehbar war und alle Ideen zum Einsturz bringt. Ein ungewöhnlicher, grandios erzählter Pageturner, der etwas wagt und alles gewinnt. Ich bin immer noch begeistert.

Bewertung vom 18.07.2019
Something in the Water - Im Sog des Verbrechens
Steadman , Catherine

Something in the Water - Im Sog des Verbrechens


sehr gut

Fesselnder Einstieg und starke Hauptfigur, aber die Auflösung schwächelt

Spannung ab der ersten Seite zu erzeugen, ist eine hohe Kunst, die die Autorin dieses Buches ganz offensichtlich beherrscht. Zumindest ich fand den ersten Satz „Haben Sie sich jemals gefragt, wie lange es dauert, ein Grab auszuheben?“ ziemlich innovativ. Dass Hauptfigur Erin Roberts dann auch noch ihren Mann vergräbt, obwohl sie seinen Tod durchaus zu bedauern scheint, macht ebenfalls neugierig. Der Einstieg in diesen Thriller ist also schon einmal geglückt.

Catherine Steadman hat sich in „Something in the water“ eines Kunstgriffs bedient und eines der letzten Kapitel vorne angestellt. Danach beginnt die Geschichte drei Monate zuvor mit einem Wochenendausflug der Protagonisten Erin und Mark. Die beiden feiern ihren Jahrestag und planen ihre Flitterwochen, die nach Bora-Bora gehen sollen. Er ist Banker, sie Dokumentarfilmerin, beide in den Dreißigern – ein glückliches Londoner Pärchen, dem die Welt offensteht. Doch schon während dieses Wochenendausflugs werden Entscheidungen getroffen, die dem dramatischen Ende den Weg ebnen: „Und dann sage ich etwas, was ich mein Leben lang bereuen werde. Ich will mit Dir Gerätetauchen machen.“ Tja. Ich verrate noch nicht zu viel, wenn ich erzähle, dass Erin und Mark beim Gerätetauchen auf „Something in the water“ stoßen …

Sehr gut gefallen hat mir der Erzählton dieses Thrillers. Er ist ganz und gar aus Sicht von Hauptfigur Erin geschrieben, die den Leser auch gerne mal direkt anspricht. Ab und an benimmt sie sich sehr unbedarft, aber man ist stets so dicht an ihr dran, dass auch ihr teilweise kopfloses Verhalten, ihr Gedankenkarussell und vereinzelte wahnwitzige Ideen immer halbwegs nachvollziehbar bleiben. Und je mehr ich Erin und ihr Leben kennenlernte, desto weniger konnte ich mir einen Reim auf die Geschehnisse am Buchanfang machen. Vermutlich deswegen nahm die Sogwirkung der Geschichte zu, je weiter ich gelesen habe.

Aber jeder Thriller kommt irgendwann zu seiner Auflösung und die fand ich hier dann leider doch nicht hundertprozentig gelungen. Autorin Steadman hat der Ausgestaltung von Erins Charakter viel Raum gegeben, die Hundertachtzig-Grad-Wendungen von anderen Figuren passieren jedoch ohne jede Erklärung, was ich dann doch etwas schade fand. Dennoch ist „Something in the water“ eine spannende Urlaubslektüre – nicht nur auf Bora-Bora, nicht nur für Gerätetaucher, sondern für alle, die sich gerne mal der Frage „was wäre, wenn …“ hingeben.

Bewertung vom 02.08.2018
Vier.Zwei.Eins. (eBook, ePUB)
Kelly, Erin

Vier.Zwei.Eins. (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Schein und Sein, Lügen und Schuld – Spannung garantiert!

Der auf den ersten Blick seltsame Zahlentitel dieses Romans wird im Untertitel erklärt: „Vier Menschen. Zwei Wahrheiten. Eine Lüge.“ Und tatsächlich fängt mit der schicksalhaften Begegnung von vier jungen Menschen Anfang 20 alles an: Das Pärchen Laura und Kit ist zu einem Festival nach Cornwall gereist, um dort die totale Sonnenfinsternis am 11. August 1999 zu erleben. Sonnenfinsternisse zu jagen ist Kits Hobby, er und sein Zwillingsbruder sind bereits als Kinder mit ihrem Vater quer um den Globus gereist um die spektakulären Phänomene mitzuerleben. Laura hingegen erlebt ihre erste Sonnenfinsternis und fühlt sich in ihren Grundfesten berührt. Trotz widriger Wetterbedingungen hätte es also ein wunderschöner Tag sein sollen – doch auf dem Rückweg von ihrem Aussichtspunkt wird Laura Zeugin einer Vergewaltigung. Zumindest wirkt es wie eine Vergewaltigung, obwohl der mutmaßliche Täter sofort behauptet, dass alles einvernehmlich sei. Da die Frau, Beth, das jedoch nicht bestätigt und auch sonst wie erstarrt wirkt, rufen Laura und Kit die Polizei. Die vier sehen sich im Mai 2000 vor Gericht wieder, als Zeugen, Angeklagter und Klägerin. Und das hätte eigentlich ihr letztes Aufeinandertreffen sein können, doch so ist es nicht …

Im März 2015 ist Laura schon lange mit Kit verheiratet und außerdem hochschwanger mit Zwillingen. Die beiden leben so anonym wie nur möglich in London, haben sogar ihren Nachnamen geändert. Der Grund: Die panische Angst vor Beth, die 15 Jahre zuvor als Opfer vor Gericht stand. Was ist nur passiert?

Genau diese Frage wird nach und nach geklärt. Dabei wechselt Autorin Erin Kelly zwischen zwei Zeitebenen. Kapitel, die die Geschehnisse rund um die Sonnenfinsternis 1999 und die Gerichtsverhandlung im darauffolgenden Jahr schildern, wechseln sich ab mit solchen, die erzählen, wie Kit 2015 einer weiteren Sonnenfinsternis hinterherjagt, während Laura in Sorge um ihn in London sitzt. Außerdem wechseln auch immer wieder die Perspektiven: Mal schildert Laura die Erlebnisse, mal Kit. Manchmal sind kombinierte Zeit- und Erzählerwechsel ja verwirrend, aber Autorin Kelly verwebt alles so geschickt, dass die ständigen Brüche fast unmerklich geschehen und den Lesefluss überhaupt nicht stören, sondern bereichern: Es baut sich immer größere Spannung auf. „Vier.Zwei.Eins.“ wird nicht als Thriller, sondern als Roman bezeichnet, doch Nervenkitzel ist durch die erstaunliche Vielzahl von unvorhersehbaren und dennoch glaubhaften Wendungen garantiert. Meisterhaft beschreibt Kelly, wie eine Lüge in eine Abwärtsspirale voller weiterer Unwahrheiten führen kann und es letztlich keinen Ausweg aus der eigenen Schuld mehr gibt. Immer wieder wurden Situationen geschildert, bei denen ich mich unwillkürlich fragte, wie ich an Stelle der Figuren gehandelt hätte. „Vier.Zwei.Eins.“ handelt von Licht und Schatten, doch schwarzweiß ist die Geschichte bei Weitem nicht.

Gegliedert ist dieses feine Erzählkonstrukt wie die fünf Phasen einer totalen Sonnenfinsternis: Erster Kontakt, Zweiter Kontakt, Totalität, Dritter Kontakt und Vierter Kontakt. Das ist nicht nur wegen Sonnenfinsternisjäger Kit wunderbar passend, sondern auch, weil es ebenfalls um Kontakte zwischen Menschen geht bzw. die Angst davor. Nicht nur die Sonne, sondern auch die Gemüter einiger Protagonisten scheinen sich im Laufe des Romans zu verdunkeln. Doch werden sie sich im Zuge des vierten Kontakts – der Mond verdeckt die Sonne nicht mehr – auch wieder lichten? Ich kann nur empfehlen, das selbst herauszufinden.

Bewertung vom 20.04.2018
DUMPLIN'
Murphy, Julie

DUMPLIN'


sehr gut

Coming of Age mal anders

Schon das Cover hat mich davon überzeugt, dass ich dieses Buch lesen muss: Eine kräftigere Frau im roten Abendkleid hat vor schwarzem Hintergrund ihren großen Auftritt. Sie hebt Hände und Kopf nach oben, genießt offensichtlich ihren Applaus. Über ihr steht der Untertitel des Buches: „Go big or go home“. Was für ein Auftritt!
Die auf dem Cover illustrierte Haltung erwartete ich dann von der Hauptfigur, der 16-jährigen Willowdean Dickson. Sie ist die titelgebende „Dumplin‘“, ihre Mutter hat ihr den Spitznamen „Knödel“ in frühester Jugend verpasst. Als eine frühere Schönheitskönigin, die sich damit rühmt, immer noch in ihr Wettbewerbskostüm von vor fast 20 Jahren zu passen, steht Rosie Dickson dem Übergewicht ihrer Tochter äußerst kritisch gegenüber. Verschärft wird der Konflikt dadurch, dass Rosies Schwester Lucy, mit der Mutter und Tochter zusammenwohnten, vor Kurzem mit 36 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist, der auf ihre Gewichtsprobleme zurückzuführen war.
Doch Will lässt sich von ihrer Mutter keine Komplexe einreden und ist mit sich im Reinen - eigentlich. Ihre beste Freundin El sieht zwar aus wie ein Model und hat schon ewig einen festen Freund, während Will ihren Fast Food Imbiss-Kollegen Bo nur in Gedanken anschwärmt, aber sie ist durchaus selbstbewusst und zufrieden, wenn man davon absieht, dass sie ihre verstorbene Tante sehr vermisst. Dann aber überstürzen sich die Ereignisse …

„Dumplin‘“ ist eine Coming of Age-Geschichte der anderen Art. Will fragt sich, wer sie ist, wie sie gesehen wird und was sie vom Leben will, zusätzlich ist aber ein großes Thema, ob und wie sehr sie sich von anderen über ihr Gewicht definieren lässt – und wie sehr sie sich selbst darüber definiert. Die Botschaft des Buches ist ganz klar: „Du bist gut so, wie Du bist!“ Anfangs macht es den Eindruck, als wäre sich die Protagonistin dessen vollkommen bewusst, doch dann scheint ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert und sie muss zu einem neuen Selbstverständnis finden. Ihre Probleme waren für mich nicht immer nachvollziehbar und zum Teil auch ziemlich hausgemacht, aber das waren meine Probleme mit 16 vermutlich auch ... Zum Teil macht es den Charme des Buches aus, dass Will nicht immer die strahlende Heldin ist, die man auf dem Cover sieht. Sie hat durchaus Kanten, Charakterschwächen und Tiefs. Letztere bewirken, dass der Roman längst nicht immer so unterhaltsam ist, wie ich es aufgrund des Covers und der ersten Kapitel erwartet hatte. Einige andere Figuren kamen mir etwas zu kurz, Julie Murphy hatte sie zwar komplex angelegt, aber dann in meinen Augen nicht ganz ausgestaltet – zum Teil hätte ich gerne noch mehr über Wills Umfeld erfahren. Etwas ratlos lässt mich auch das Übergewicht der Hauptfigur zurück: Murphy beschreibt es nicht näher, was ich gut finde, so kann sich jeder sein eigenes Bild von Will machen. Dass sie liebenswert ist, egal wie viel sie wiegt – gar keine Frage. Ihre verstorbene Tante wog allerdings 225 kg und hat das Haus kaum mehr verlassen, was im Buch irgendwie als unumstößliche Tatsache akzeptiert wird. Auf der einen Seite ist das verständlich: Die Tante ist gestorben, es lässt sich eh nichts mehr ändern … auf der anderen Seite hat es mich jedoch gestört, dass ihr Gewicht so schicksalsergeben akzeptiert wurde. Dass Will ein glückliches Leben ohne Idealmaße führt – wunderbar. Aber dass es wichtig ist, darauf zu achten, dass man einigermaßen gesund bleibt – an irgendeiner Stelle hätte das ruhig mal Erwähnung finden können.
Amüsiert hat mich dagegen die starke amerikanische Färbung – „Dumplin‘“ spielt in Texas! Von Dating-Kultur über Kirchenbesuch bis hin zum Schönheitswettbewerb war das immer wieder spürbar.
Insgesamt ist „Dumplin‘“ gute, aber auch nachdenklich machende Unterhaltung, insbesondere zu den Themen Selbstbewusstsein, Freundschaft und generell zwischenmenschliche Beziehungen. Ein lesenswertes Jugendbuch mit kleinen Schwächen.