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Tokall

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Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 14.02.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


ausgezeichnet

Hartung – ein tragischer Held?
Um eines direkt gleich klarzustellen: Der Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ von Maxim Leo ist ein absolut geniales Buch, sehr amüsant geschrieben, mit vielen Textstellen zum Lachen und Schmunzeln, aber auch mit Tiefgang und Ernsthaftigkeit an den nötigen Stellen. Von der ersten bis zur letzten Seite ist man neugierig, ob aus dem Helden Michael Hartung ein tragischer Held wird oder nicht. Das Ende hat mich überzeugt. Doch worum geht es?
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Michael Hartung, meist nur Hartung genannt, der eines Tages unfreiwillig zum Helden gemacht wird. Eigentlich ist er jemand, mit dem man zu Beginn eher Mitleid empfindet. Er verschläft viele technische Neuerungen, hinkt der Zeit stets gnadenlos hinterher, lässt sich bei geschäftlichen Dingen auch über den Tisch ziehen. Er wohnt in seiner eigenen Videothek, hat Mietschulden. Das alles wird lustig geschildert. Die Tristesse seines Alltags als Videothekenbesitzer und Filmliebhaber wird dann durchbrochen von dem Reporter Alexander Landmann, der eine Story wittert. Landmann ist die personifizierte Kritik am Journalismus, ein sozialer Aufsteiger, der im Zuge der Medienkrise unter Erfolgsdruck steht und sich die Geschichte zurechtbiegt. Denn statt Hartung genau zuzuhören und die richtigen Schlüsse aus dem Erzählten zu ziehen, macht er aus ihm lieber einen Helden. Und Hartung lässt sich trotz anfänglichen Zögerns das angebotene Geld für die Story nicht entgehen, und erzählt dann das, was von ihm erwartet wird. Und schneller als gedacht ist dann schon der Artikel erschienen und als Leser fragt man sich, wie kommt Hartung nur aus der Nummer wieder heraus? Fliegt seine Lüge auf? Oder gibt er selbst zu, dass er sich unfreiwillig hat zum Helden machen lassen? Wird Hartung zu einem tragischen Helden?
Das alles wird sehr amüsant beschrieben. Besonders köstlich empfand ich Landmanns Ratschläge an Hartung, wie man sich in der Medienwelt zu benehmen hat. Hartung wiederum, leichtgläubig wie er ist, verlässt sich ganz auf Landmann. Es ist herrlich zu lesen, wie der Autor die Reporterfragen an Hartung mit einem Augenzwinkern auf die Schippe nimmt oder wie immer wieder die stereotypen Vorstellungen von Landmann über den Osten mit den skurrilen Erinnerungen Hartungs an seine erlebte Realität kontrastiert werden. An vielen Stellen im Buch werden ost- und westdeutsche Klischees herrlich karikiert. Und Hartung mausert sich mehr und mehr zum Medienprofi, er ist erstaunlich redegewandt, er schafft es, die gesamte Medienbranche an der Nase herumzuführen. Schmunzeln musste ich an solchen Textstellen, als Hartung während der allmählichen Verfertigung seiner Gedanken beim Sprechen absurde Ideen durch den Kopf gehen. Einfach herrlich komisch, aber irgendwann auch tragisch. Denn im Laufe des Buchs wird Hartung immer mehr als Identifikationsfigur für verschiedene Interessen eingespannt und das macht ihm durchaus zu schaffen. Arrangiert er sich anfangs noch mit seiner Lüge und wird sein Erfolg immer gewaltiger, so zweifelt er im weiteren Verlauf der Handlung immer stärker an seinem Vorgehen. Doch wie wird er sich entscheiden?
Wer jetzt aber befürchtet, dass der Roman sich nur als eine reine Komödie entpuppt, den kann ich beruhigen. Denn Maxim Leo vermag seinem Text auch Ernsthaftigkeit zu verleihen, z.B. wenn der Historiker Holger Röslein mit dem Stasi-Oberleutnant Teubner über das Freiheitsverständnis diskutiert oder wenn Hartung mit der Professorin für Zeitgeschichte, Ariadne von Schulzenburg-Glochau, beim Anbringen einer Gedenktafel am Bahnhof Friedrichsstraße über das Zustandekommen von sog. historischen „Wahrheiten“ sinniert. Auch die Einführung der Figur des ostdeutschen Bürgerrechtlers Harald Wischnewsky verleiht der Handlung mehr Tiefe. An seinem Beispiel wird das Bild des „ewigen Zeitzeugen“ problematisiert und karikiert. Besonders die Darstellung des Gesprächs zwischen ihm und Hartung fand ich gelungen.

Fazit: Ein fantastischer Roman mi

Bewertung vom 11.02.2022
Ende in Sicht
Rönne, Ronja von

Ende in Sicht


schlecht

Ronja Von Rönne mit Berührungsängsten
Dieses Buch ist misslungen. Doch warum? Bei ihrem neuen Buch „Ende in Sicht“ hat sich Ronja von Rönne nach meinem Empfinden leider (!) „vergaloppiert“. Sie schafft es leider nicht, die dahinterliegende Krankheit, die Depression, angemessen zu thematisieren. Stattdessen lese ich Oberflächliches und wenig Ernsthaftes. Und das, obwohl die Autorin selbst Betroffene ist. Und das, obwohl die Volkskrankheit „Depression“ mehr Tiefgründigkeit verdient, als ihr in diesem Buch zuteil wird. Bei beiden Figuren, Hella und Juli, habe ich mich nach den Beweggründen für den Todeswunsch gefragt. Doch diese kommen im Buch nicht plausibel zum Ausdruck, vor allem bei Hella nicht. Während des Lesens habe ich mich immer wieder gefragt, was in beiden Figuren vor sich geht. Doch von Rönne – warum auch immer – meidet an zentralen Stellen die Innenperspektive. Krisenhafte Gedanken kommen nur selten und oberflächlich zum Ausdruck. Stattdessen kommt Hella – was mich irritiert hat – viel Lebensfreude zum Ausdruck, als sie mit Juli ins Schwimmbad geht und ihren alten Schwarm Erwin wiedertrifft. Das passt nicht so recht zusammen. Auch fehlte mir zwischen den beiden Figuren ein offenes Gespräch, in dem das Leiden beider Personen einmal deutlich wird, ich hätte gedacht, dass sie auf diese Weise zueinander finden, sich gegenseitig dabei unterstützen, aus dem Loch herauszufinden. Fehlanzeige. Auf ein solches Gespräch wartet man im Buch vergeblich. Im Zusammenhang mit der Sterbebegleitung in der Schweiz hätte ich mit kritischen Nachfragen von Juli gerechnet, irgendeine Form der Problematisierung würde ich erwarten (vielleicht auch im Nachwort). Doch Fehlanzeige! Auch davor drückt sich die Autorin, stattdessen reisen die beiden Figuren in einer Art Roadtrip von einem Abenteuer zum nächsten. Das wird der Krankheit Depression nicht gerecht, lässt sie sogar recht gewöhnlich und harmlos erscheinen. Des Öfteren habe ich mich gefragt, was unterscheidet Juli und Hella eigentlich von „gesunden“ Leuten. Dabei ist doch davon auszugehen, dass ein Mensch, der suizidale Gedanken verfolgt, der dann sogar einen Selbstmordversuch unternimmt, in einer schweren psychischen Krise steckt, vermutlich befindet er sich in einem Zustand schwerer Depression. Doch von den Symptomen dieses Krankheitsbildes findet man kaum etwas bei Juli und Hella, bei Juli zwar noch mehr als bei Hella, aber insgesamt bleibt es einfach oberflächlich. Auch was die Gestaltung des Beziehungsverhältnisses beider Hauptfiguren angeht, bin ich enttäuscht. Ich dachte, beide nähern sich auf ihrem Trip einander an, schließen Freundschaft, unterstützen sich gegenseitig, finden durch ihr gemeinsames Leid zueinander, stattdessen herrscht vor allem von Julis Seite aus große Distanz, teils sogar Aggressivität und vor allem Undankbarkeit. Das macht die Figur Juli unsympathisch, und ihr Verhalten lässt sich in meinen Augen nicht mit der Krankheit Depression rechtfertigen. Worüber ich noch gestolpert bin, ist eine Textstelle in der Juli über ihre Therapie spricht (S. 118), hier wird der Eindruck vermittelt, dass die Therapie für Juli wenig erfolgreich war. Da habe ich mich schon gefragt, ob das nicht eine frustrierende Botschaft ist, die an dieser Stelle vermittelt wird.
Als absolut katastrophal habe ich das Ende empfunden, hier wird mit der Angst des Lesers um eine der Protagonistinnen gespielt, der Leser wird „auf die Folter gespannt“, ob sich Juli nun umgebracht hat oder nicht. Das Ende empfand ich angesichts des Themas „Suizid“ als geschmacklos und absolute Grenzüberschreitung. Dieses Buch spaltet. Es spaltet die Leser/innen in zwei Lager, in diejenigen, die von der Krankheit vermutlich wenig Ahnung haben und in diesem Buch lediglich Unterhaltung sehen, und in diejenigen, die sich mehr oder weniger mit der Krankheit auskennen und mehr Tiefgang erwartet haben. Und ich finde, dieses Buch leistet den Betroffenen einen „Bärendienst“, denn wie sollen solche Leser, die keine Ahnung von d

Bewertung vom 22.01.2022
Das Geheimnis der Pirateninsel / 1000 Gefahren junior Bd.2
Lenk, Fabian

Das Geheimnis der Pirateninsel / 1000 Gefahren junior Bd.2


ausgezeichnet

Das Kinderbuch „Das Geheimnis der Pirateninsel“ aus der Reihe „1000 Gefahren junior“ von den Autoren Fabian Lenk und Jan Saße wartet mit einem für mich innovativen Konzept auf, weil es Aufmerksamkeit und Neugier beim Zuhören fordert und fördert. Man wird als junger Leser beim Leseprozess interaktiv einbezogen, indem man an bestimmten Stellen im Buch Rätsel lösen muss und Entscheidungen treffen kann, so dass sich viele verschiedene Variationsmöglichkeiten innerhalb ein- und derselben Geschichte ergeben. So sind die Zuhörer durchweg aktiv dabei, was ich großartig finde. Auch wird durch die verschiedenen Lesarten die Neugier der Kinder geweckt, weil diese wissen wollen, wie sich die Geschichte entwickelt, wenn sie eine andere Entscheidung fällen.
Insgesamt werden im Buch 16 Entscheidungsfragen gestellt, die alle wieder zu anderen Verläufen führen, so dass Abwechslung garantiert ist. Ich und meine Kinder fanden es toll und spannend, auf diese Weise ein Buch mehrmals neu und anders lesen zu können. So kann man beispielsweise entscheiden, ob man das Angebot eines Piraten, an Bord anzuheuern, annehmen oder ablehnen will, ob man jemandem helfen will oder nicht, ob man sich gegen jemanden wehren möchte oder eben nicht, ob man jemandem folgen will oder nicht, ob man jemandem eine Falle stellen oder sich lieber verstecken möchte usw. Das einzige, was man als Vorlesenden dabei mehr leisten muss als in klassischen Büchern, ist das vermehrte Hin- und Herblättern zwischen den Seiten. Mich hat das aber nicht gestört.
Außer den Entscheidungsfragen kommen im Buch auch insgesamt 9 Rätselfragen vor, bei denen die Kinder selbst knobeln müssen, bevor sie weiterlesen dürfen. Als Aufgabenformat taucht z.B. auf, den richtigen Weg suchen zu müssen, den Inhalt der Bilder genauer untersuchen zu müssen oder eine Schatzkarte richtig zusammenzusetzen. Die Lösung wird dann natürlich auch verraten, so dass kein Frust aufkommt. Der Nachteil bei den Rätseln ist allerdings, dass sie „nur“ bei den ersten zwei bis drei Malen spannend sind, danach sind sie bereits bekannt und weniger interessant. Auch fand ich das Rätsel um die Schatzkarte etwas aufwändig, so muss man erst die Seite kopieren und die Kinder sollen dann die Schatzkartenteile ausschneiden und zusammenfügen. Die übrigen Rätsel sind aber ohne größeren Aufwand lösbar.
Inhaltlich bietet der Band klassischen Piratenstoff, den man auch aus anderen Kinderbüchern kennt. Der raue Umgangston unter den Piraten gehört ebenso dazu wie die klassische Schatzsuche, das Gold, der Landgang, die Schatzkarte, das Zusammentreffen mit Eingeborenen und das Leben an Bord. Auch wird natürlich gekämpft. Im Prinzip gibt es zwei Haupthandlungsstränge: Entweder folgt man Kapitän Perkin oder Kapitän Dodder. Wichtig zu erwähnen, ist in diesem Zusammenhang, dass trotz der verschiedenartigen Variationen innerhalb der Geschichte, der Inhalt nie seine Kohärenz einbüßt. Alles bleibt logisch und nachvollziehbar. Lediglich das Ende kommt stellenweise etwas abrupt. Die Kinder haben auch recht schnell raus, dass die Geschichten länger ausfallen, wenn sie eher mutig in die Handlung eingreifen.
Abschließend noch ein Satz zur Bebilderung und Sprachgestaltung: Beides ist kindgerecht konzipiert worden. Die Bilder beziehen sich stets passend auf den Inhalt. Als besonders gelungen habe ich die großflächigen Illustrationen empfunden, das waren v.a. solche, bei denen die Kinder anhand der Bilder Rätsel lösen sollten. Bei der Sprachgestaltung ist noch auffällig, dass die Kinder direkt mit „du“ angesprochen und auf diese Weise in die Handlung einbezogen werden („Du bist Nick“). Das schafft Aktivierung.

Fazit: Ein Kinderbuch mit einem innovativen Konzept, das die jungen Zuhörer durch Entscheidungs- und Rätselfragen aktiv miteinbezieht und so Aufmerksamkeit fördert und Neugier weckt. Ein Buch, das man mehrmals neu und anders lesen kann, Abwechslung ist garantiert. Sollte man mit seinem Nachwuchs einmal ausprobiert haben. Ich würde es weiterempfeh

Bewertung vom 18.01.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


ausgezeichnet

„Minenfelder im Gedächtnis“
Auf dem Weg zurück von einer Podiumsdiskussion in Mainz erfährt Said Al-Wahid, dass seine Mutter im Sterben liegt. Er entschließt sich mit dem Zug zum Frankfurter Flughafen zu fahren und den nächsten Flug nach Bagdad zu nehmen. Auf der Reise in seine alte Heimat, dem Irak, erinnert sich Said an verschiedene Begebenheiten aus seinem Leben, die ihn geprägt haben. Davon erzählt Abbas Khider in seinem neuen Roman „Der Erinnerungsfälscher“, durchaus mit trockenem Humor, und es wird deutlich, dass Said Probleme hat, sich genau zu erinnern. Er leidet unter Gedächtnisstörungen, vermutlich eine Form von Verdrängung als eine psychische Konsequenz des traumatischen Erlebten. So konstruiert er selbst die Zusammenhänge zwischen seinen unverbundenen Erinnerungsfetzen. Immer wieder kommt es zu „Assoziationsketten“, die ihn in die Vergangenheit führen. Dabei wird vor allem deutlich, was für einen schweren Weg Said hinter sich gebracht hat, bevor er in Deutschland sein privates Glück gefunden hat. Auch wird deutlich, dass Said eine ganz andere Lebenswelt kennen gelernt hat. Anhand der Schilderungen wird einem als Leser erst bewusst, wie gut es einem eigentlich in Deutschland geht, v.a. wenn man hier groß geworden ist, ohne schwerwiegendere traumatische Erfahrungen durchlebt zu haben. Gleichzeitig wird spürbar, dass Said sein eigenes Heimatland fremd geworden ist; in Bagdad angekommen, verspürt er keine Emotionen, sondern eine innere Leere. Auch das offene Ende des Romans, über das man noch lange nachdenkt, empfand ich als gelungen. Als besonderes Highlight, das mich zum Nachdenken anregte, habe ich den intertextuellen Bezug zur Novelle „Die Taube“ von Patrick Süskind wahrgenommen, in dem das Thema „Traumata“ ebenfalls eine Rolle spielt. Darin ist die Hauptfigur Jonathan Noel eine völlig verunsicherte Persönlichkeit mit Lebensangst. Vergleiche zu Said drängen sich förmlich auf. Und Abbas Khider wird nicht zufällig diesen Titel erwähnt haben, doch das Anstellen weiterer Reflexionen hierzu überlasse ich jedem einzelnen. Ich komme stattdessen zurück auf die bereits erwähnten „Assoziationsketten“ und auf die Frage, welche Erfahrungen Said genauer schildert:
[AB HIER SPOILERWARNUNG] Ausgehend von seinem deutschen Reisepass, den er aus Misstrauen den deutschen Behörden gegenüber immer bei sich trägt, erinnert sich Said beispielsweise an das sehr bürokratische Verfahren seiner Einbürgerung, das er mit allen damit in Zusammenhang stehenden unlogischen Regelungen genau beschreibt. Als Leser erhält man dabei einen sehr guten Einblick in bürokratische Absurditäten und kann nachempfinden, wie verunsichert man sich als Fremder in Deutschland fühlen mag, sobald man mit offiziellen Formalitäten konfrontiert wird. Auch erhalten wir einen Einblick in Saids Kindheit, seine Beziehung zu seiner Mutter, die so gut wie nie lachte, wird thematisiert. Wir erfahren, dass sein Vater als Landesverräter hingerichtet wurde und seine Familie mit Ausgrenzungserfahrungen zu kämpfen hatte. Seine Schwester starb bei einem Bombenattentat, wie wir später erfahren. Beim Anblick von Polizei rücken „Erinnerungsbrücken“ an Polizeikontrollen wieder in Saids Bewusstsein, er begegnete nicht nur Ressentiments von Seiten der Polizei, sondern erlebte auch Rassismus. Die Begegnung mit einem Nazi bei einem Kneipenbesuch wird ebenfalls geschildert. Weiterhin berichtet Said von Besuchen im Heimatland und davon, wie dieses Land im Chaos versinkt, weil bewaffnete Milizen die Kontrolle übernommen haben. Er beschreibt auch seine mehrjährige Fluchtroute, die ihn von der Stadt Amman in Jordanien, über Ägypten und Libyen bis nach Athen geführt hat.
Letztlich kann das Schicksal von Said exemplarisch für das anderer Flüchtlinge in Deutschland stehen und das macht diesen Roman für mich so interessant. Man erhält einen Einblick in die Lebenswelt und in die Erfahrungen eines Flüchtlings aus dem Irak, und das aus der Feder eines Autors, der eine ähnliche Lebensgeschichte wie

Bewertung vom 23.12.2021
Misfits
Coel, Michaela

Misfits


sehr gut

Das Buch „Misfits – ein Manifest“ von Michaela Coel, beinhaltet die aus dem Englischen übersetzte Rede der Autorin, die sie 2018 als Gastrednerin im Rahmen des Edinburgh International Television Festivals gehalten hat. Umrahmt wird der Redetext von einer Art literarischem Vor- und Nachwort, in dem Michaela Coel selbst etwas zum Schreibprozess im Vorfeld äußert sowie auch die Nachwirkung ihrer Rede thematisiert.
In ihrer Rede streift sie knapp ihre Kindheit in einem Sozialwohnungskomplex und beschreibt auch, wie sie im Alter von 8 Jahren erstmals in Berührung mit einem Theater kam. Schonungslos berichtet sie auch von den unschönen Seiten ihres Aufwachsens, zu denen psychische Gewalt ebenso gehörte wie Beleidigungen, Gelächter, Diskriminierung und (Cyber-)Mobbing sowie Sexismus. Schließlich schafft sie es an die Schauspielschule, als erstes Schwarzes Mädchen, merkt aber auch dort, dass sie anders ist, vor allem fehlt ihr ein entsprechendes „Sicherheitsnetz“, sie stammt nicht wie die anderen aus einem wohlhabenden Elternhaus. In dieser Zeit schrieb sie auch die Komödie „Chewing Gum Dreams“, mit dem sie dann den Durchbruch schaffte. Sie steigt in die Fernsehbranche ein, hat dort aber zunächst einen schwierigen Start und fühlt sich abermals als Außenseiterin. Sie schreibt drei fünfminütige Szenen fürs Internet, die so erfolgreich sind, dass sie grünes Licht für die Produktion einer Serie mit dem Titel „Chewing Gum“ bekommt. Dies verhilft Coel zum Durchbruch.
In ihrer Rede nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund, sie hält der Branche einen Spiegel vor und scheut sich auch nicht davor, klare Missstände anzusprechen. Dafür greift sie auf eigene Erfahrungen zurück. Zunächst einmal erläutert Coel ihre eigene Definition des Begriffs „Misfit“. Misfits, so Coel, streben nach Transparenz und wollen die Sichtweise anderer Personen verstehen. Sie selbst sei ein Misfit und bei Produktionsfirmen seien Misfits hoch im Kurs, weil diese oft profitabel sind. Doch der Medienbranche selbst fehle es genau an einer solchen Transparenz und Empathie. Das wird nur allzu deutlich, wenn man den Ausführungen der Autorin weiter folgt. Sie bringt dafür einige Beispiele aus ihrer persönlichen Geschichte und leitet daraus auch Konsequenzen ab. Dies macht sie aber interessanterweise selten in Form von expliziten, konkreten Forderungen, sondern oft stellt Coel lediglich passende Fragen an die ZuhörerInnen, so dass diese selbst zu den entsprechenden Schlussfolgerungen, was die Änderung der Zustände betrifft, gelangen sollen. So regt sie diese beispielsweise zum Nachdenken darüber an, ob es nicht besser sei, wenn neue Kulturschaffende mehr Vertrauen und Freiraum erhielten, um sich alleine zu entwickeln. Sie schildert auch den Zeit- und Kostendruck, unter dem sie selbst stand, und beschreibt die intransparente Verhandlungspolitik von Produktionsfirmen, der sie selbst ausgesetzt war. Sie erläutert, dass Einsparungen der Produzenten oft zulasten der Autoren gemacht werden, und Produzenten oft austesten, wie weit sie gehen können und womit sie durchkommen. Nach ihrer Erfahrung widersprächen Menschen einer anderen Hautfarbe seltener, weil sie Angst vor Jobverlust oder negativen Konsequenzen hätten. Kulturschaffende Misfits haben nach ihrer Einschätzung kaum Chancen auf einen sozialen Aufstieg, bestimmte Türen bleiben ihnen verschlossen. Sie thematisiert auch eine Sexismus- und Rassismus-Erfahrung, die sie auf einer After-Party durch einen Produzenten erlebt hat und ist der Auffassung, dass Produzenten zu viel Macht haben. Und nicht zuletzt geht sie auf ein sehr persönliches, intimes Schicksal ein und will damit auch aufzeigen, wie sehr man in der Medienbranche unter Erfolgsdruck steht: Sie erwähnt, dass sie vergewaltigt wurde, nachdem sie durch K.O.-Tropfen betäubt worden ist. Dennoch habe sie vor allem an die Deadline gedacht, die sie habe einhalten müssen. Den Umgang mit ihrem Leid habe sie als wenig empathisch und als intransparent empfunden. Sie fragt aus diesem

Bewertung vom 22.12.2021
Ein perfektes Paar
Kabler, Jackie

Ein perfektes Paar


ausgezeichnet

Clever konstruierter Thriller mit gelungener Auflösung am Ende

Um eines direkt gleich klarzustellen: Der Thriller „Ein perfektes Paar“ von Jackie Kabler ist ein absolut geniales Buch, clever konstruiert, mit vielen Wendungen, Spannung von der ersten bis zur letzten Seite ist garantiert. Die Auflösung am Ende überzeugt. Doch worum geht es?
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Gemma, die eines Tages nichtsahnend nach Hause kommt und ihren Ehemann Danny dort nicht vorfindet. Beunruhigt sie das zu Beginn noch nicht sonderlich, weil sie nach rationalen Gründen sucht, werden ihre Sorgen jedoch mit der Zeit immer größer, je länger Danny verschwunden bleibt. Sie wendet sich dann schließlich an die Polizei und die Ermittlungsarbeit fördert ein paar ungewöhnliche Geheimnisse von Danny zutage, so dass die Welt von Gemma immer mehr in sich zusammen bricht und sie immer verzweifelter wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die Polizei zeitgleich in zwei Mordfällen ermittelt, in denen die beiden männlichen Opfer dem vermissten Danny erstaunlich ähnlich sehen. Und plötzlich wirkt alles anders, als es zunächst den Anschein hat. Es beginnt eine sehr packende und mitreißende Erzählung dieses Falls und die Spannung steigert sich deutlich, v.a. nimmt sie auch bis zum Schluss des Romans nicht mehr ab, denn die Autorin schafft es hervorragend, den Spannungsbogen bis zur letzten Seite aufrechtzuerhalten. Zusammen mit Gemma und dem Ermittlerteam, über die abwechselnd mal in der Ich-Perspektive, mal in der Er-Perspektive erzählt wird, begibt man sich auf die Suche nach des Rätsels Lösung. Das ist richtig gut gemacht. Durch die gewählte Ich-Perspektive sind wir als Leser nah an Gemma und an ihren Gefühlen dran, während wir die Polizeiarbeit eher im distanziert gestalteten Überblick verfolgen. Zwischenzeitlich setzt die Autorin zudem noch die Kapitellänge als Stilmittel ein, um die Spannung weiter zu steigern. Die Kapitel werden kürzer, rasche Kapitelwechsel sind die Folge, das Erzähltempo wird gesteigert, die Dynamik nimmt auf diese Weise zu. Auch sind die Perspektivwechsel stets geschickt platziert, um den Leser „auf die Folter zu spannen“, Cliffhanger am Kapitelende tragen noch ihr Übriges dazu bei, um zum Weiterlesen zu animieren. Was ebenfalls überzeugt ist das Ende des Thrillers. Oft scheitern Bücher ja daran, dass die Auflösung am Ende nicht gelingt, z.B. weil etwas nicht plausibel ist, Handlungsstränge unberücksichtigt bleiben oder sie nicht weitergeführt werden o.ä. Doch das ist bei „Ein perfektes Paar“ glücklicherweise anders. Ich – als ein durchaus kritischer Leser – fand alles nachvollziehbar aufgelöst und es bleibt auch nichts offen. Was will man mehr? Ich halte das Buch schlichtweg für genial, es ist für mich persönlich ein Überraschungshit und ein persönliches Highlight, schließlich sind Bücher mit großer Sogwirkung nicht ständig zu finden. Und was ich einfach stark fand, war auch die Tatsache, dass die Autorin es schafft, den Leser mal in die eine Richtung und mal in die andere Richtung zu lenken, ihn zu verunsichern, ihn auch mal „an der Nase herumzuführen“.
Ich würde dem Verlag dringend empfehlen, auch noch weitere Titel der Autorin übersetzen zu lassen, z.B. den Titel „Am I guilty“. Auch würde ich es toll finden, wenn dieses Buch noch fortgesetzt wird, das Potential dafür wäre auf jeden Fall vorhanden.

Fazit: Ein clever konstruierter Psychothriller mit Sogwirkung, hervorragendem Spannungsbogen und plausibler Auflösung am Ende.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.12.2021
Pacific Crest Trail Killer
Piskulla, Christian

Pacific Crest Trail Killer


ausgezeichnet

In seinem Thriller „Pacific Crest Trail Killer” nimmt Christian Piskulla den Leser mit auf einen 4300 Kilometer langen Wanderweg entlang der Westküste der USA und schildert packend, wie auf diesem Trail ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Dabei wird in flotten Perspektivwechseln und kurzen Erzählabschnitten, die Spannung und Dynamik erzeugen, der Killer ebenso in den Blick genommen wie ein FBI-Ermittlerteam aus Los Angeles, in dem der Chefermittler Steve Cortez die tragende Rolle spielt. Cortez ist ein sehr stark gezeichneter Charakter, die Ermittlung nimmt ihn völlig in Beschlag, er wirkt ständig überarbeitet und am Rande der Depression, ist aber mit einer genialen Beobachtergabe ausgestattet. Eine weitere zentrale Figur ist Mark Stetson, ehemaliger Militärpolizist, stets clever in seinen Schlussfolgerungen und zufällig unterwegs auf dem Trail, als der erste Mord passiert. Er untersucht als Erster den Fundort der Leiche und wird aufgrund seiner Kenntnisse als Wanderer vom FBI als Sonderermittler angeheuert. Zwar bleibt er auf den ersten 200 Seiten noch recht blass, doch im Laufe der Zeit reift er immer mehr zu einer Führungsfigur heran, er spielt dann im letzten Drittel des Romans eine tragende Rolle. Seine zentrale Aufgabe: auf dem Trail weiter ermitteln. Aus dem FBI-Ermittlerteam rücken ebenfalls weitere Figuren in den Fokus des Lesers, so z.B. Rocco Ramirez, Bill King oder Henry Peters. Was dem Autor dabei in meinen Augen gut gelingt, ist die Stimmung des Ermittlerteams einzufangen, denn es handelt sich um eine außergewöhnlich Truppe, viele Kollegen sind zerstritten, machen sich übereinander lustig, sind rüde und sexistisch im Umgang miteinander, einige wollen sich versetzen lassen. Insgesamt herrscht also keine angenehme Arbeitsatmosphäre, doch mit der Zeit wächst das Team dann immer stärker zusammen, v.a. als es darum geht, den Killer aufzuspüren. Was ebenfalls gut gelingt, ist die anschauliche Schilderung der psychischen Strapazen, die man als FBI-Agent auf Mördersuche erlebt, sowie die Darstellung der Ermittlungsarbeit. Das Netz des FBI wird mit der Zeit immer engmaschiger und zieht sich immer mehr zusammen. Das wird äußerst spannend erzählt. Vor allem im letzten Drittel beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, die letzten 100 Seiten entfalten eine ungeheuerliche Sogwirkung, was auch an den knappen Erzählabschnitten und raschen Perspektivwechseln zwischen Ermittlerteam und Täter liegt, bei denen man als Leser aber nie die Übersicht verliert. Darüber hinaus ist auch die Idee, dass der Killer einen Mentor hat, geschickt konzipiert, um die Spannung hochzuhalten.
Der Täter wird erst ziemlich spät genauer charakterisiert. In der ersten Hälfte bleibt er blass, kommt kaum vor, doch nachdem ihm das FBI immer näher kommt, erfahren wir auch etwas über seine schlimme Kindheit und Jugendzeit. Hier will der Autor natürlich der Frage nachgehen, was jemanden zum Mörder macht und regt zum Nachdenken an. Kritisch beleuchtet er in diesem Zusammenhang die Rekrutierungspraxis der US-Army und den Umgang mit Kriegsverbrechern innerhalb des Militärs. Darüber hinaus problematisiert Christian Piskulla mit seinem Thriller auch die sexuellen Abgründe der menschlichen Gesellschaft und in Unterhaltungsmedien. Und das sind nicht die einzigen Themen, die der Autor streift. Nein, man erfährt in diesem Buch auch Näheres über die Ausgestoßenen der amerikanischen Gesellschaft. In düsterer Atmosphäre werden schäbige Motels ebenso thematisiert wie das Leben in Trailerparks. Obdachlosigkeit ist ebenfalls ein Thema. Neben diese dunklen Seiten widmet sich der Autor aber auch den schönen Seiten des PCT. So erhält man einen Einblick in das Treiben auf dem Trail, in die Gefahren beim Wandern, in schöne Naturbeschreibungen, in die Kultur der Hiker auf dem Trail. Auch benötigtes Equipment für die Wanderung wird kenntnisreich beschrieben. Das alles verleiht der Geschichte ein hohes Maß an Authentizität.
Lobend erwähnen möchte ich auch, dass der Autor bei der Darst

Bewertung vom 06.12.2021
Die Mission des Kreuzritters
Schiewe, Ulf

Die Mission des Kreuzritters


sehr gut

In seinem historischen Roman „Die Mission des Kreuzritters“ versetzt Ulf Schiewe den Leser in das Jahr 1129, also in die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Kreuzzug, als Jerusalem von Baudouin II. (1118-1131) beherrscht wird, der seine älteste Tochter Melisende zur Sicherung seiner Nachfolge mit dem Grafen Foulques d’Anjou verheiraten möchte. Doch seine widerspenstige Tochter lehnt den für sie ausgewählten Bräutigam heftig ab und flüchtet trotzig aus der Stadt zu ihrer Schwester Alice in Antiochia. Zu ihrem Unglück wird sie dann auf ihrem Weg dorthin überfallen und als Geisel mit nach Schaizar genommen, einer muslimischen Stadt, die vom Sultan ibn Munquidh regiert wird. Um sie auszulösen, schickt König Baudouin II. den ihm treu ergebenen Tempelritter Raol de Montalban nach Schaizar. Und zunächst scheint die Rückkehr nach Jerusalem auch ohne weitere Schwierigkeiten zu gelingen, doch dann greift ein illoyaler Verräter plötzlich in das Geschehen ein und erneut schwebt das Königreich von Baudouin II. in großer Gefahr.
Mit eindrücklichen, detaillierten und dichten atmosphärischen Beschreibungen lässt der Autor dabei die Vergangenheit sehr bildhaft lebendig werden, so dass man als Leser hervorragend in die damalige Lebenswelt und in die verschiedenartigen Handlungsorte eintauchen kann. Man merkt dem Text mit jeder Zeile an, dass der Autor viele Informationen sehr genau recherchiert hat, z.B. zur Geographie und Topographie, um nur zwei Beispiele zu nennen. Als besonders gelungen empfand ich auch die Schilderung der Schlacht- und Kampfhandlungen, in denen man als Leser regelrecht mitfiebert. Das macht diesen Roman zu einem sehr gelungenen Leseereignis. Beiläufig erfährt man dann in diesem Roman auch historische Hintergründe, z.B. etwas zum Leben im Harem, zur Rolle der Frauen zu jener Zeit, zu interreligiösen Wahrnehmungen, zur Praxis von Geiselnahmen, zur Lebenspraxis der Tempelritter, zum Leben am Hofe des Königs bzw. des Sultans etc.
Ein weiterer großer Pluspunkt betrifft die Charakterzeichnung der Figuren, welche – und das sei hier lobend erwähnt – nicht statisch angelegt sind, sondern sich im Laufe des Buchs entwickeln. In erster Linie sind hierbei die temperamentvolle, wehrhafte und stolze Melisende zu nennen, die einen Reifungsprozess durchläuft, sowie der heroische, kämpferische, aber auch desillusionierte Raol, der zu sich selbst findet. Beide Figuren tragen den Roman, mit ihnen fiebern wir mit. Und es sind starke Figuren, die der Autor hier entworfen hat. Neben diesen beiden Hauptfiguren treten noch weitere Charaktere hinzu, die ebenfalls facettenreich gestaltet wurden: der manipulative und gerissene König Baudouin II., dessen Verhältnis zu seiner Tochter sich im Laufe des Buchs positiv entwickelt, der diplomatisch geschickte und kühne Usama ibn Munqidh, Neffe des Emirs von Schaizar und dessen schlauer Verhandlungsführer, der durchtriebene Qilitsch ad-Din Mahmud, ein Verwandter des Emirs von Damaskus, sowie nicht zuletzt der arrogante und berechnende Foulques d’Anjou, potentieller zukünftiger Ehemann von der Thronerbin Melisende. Das Figurenensemble ist insgesamt gut aufeinander abgestimmt und konnte mich beim Lesen absolut überzeugen. Auch die Idee, fiktive und reale Charaktere miteinander zu vermischen und miteinander in Interaktion treten zu lassen, fand ich reizvoll. Zudem ist dem Autor positiv anzurechnen, dass er sich darum bemüht, die Charaktere der Figuren möglichst realistisch erscheinen zu lassen und sich bei seiner Charakterisierung an den realen Vorbildern orientiert.
Lediglich die Figur des Bräutigams, Foulques d’Anjou, hätte durchaus noch stärker ins Blickfeld des Autors geraten können. So wird er im ersten Drittel des Buchs als interessante Figur eingeführt, gerät dann aber im Laufe der Handlung immer mehr in den Hintergrund. Das fand ich etwas schade. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Ende des Romans. So hätte ich mir eine andere Gestaltung des Beziehungsverhältnisses von Baudouin II. und Raol gewü

Bewertung vom 15.11.2021
Jahre der Hoffnung / Kinderklinik Weißensee Bd.2
Blum, Antonia

Jahre der Hoffnung / Kinderklinik Weißensee Bd.2


gut

Der historische Roman „Kinderklinik Weißensee. Jahre der Hoffnung“ von Antonia Blum spielt mit Ausnahme des ersten Kapitels in den Jahren 1918 bis 1919, also in einer Zeit des Umbruchs am Ende des Ersten Weltkriegs und zu Beginn Novemberrevolution, die letztlich zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich führte. Als medizinische Themen werden die Bekämpfung der Spanischen Grippe sowie der Typhus-Krankheit und nicht zuletzt der Umgang mit einer Rückenmarksverletzung in die Handlung integriert.
Als Hauptfiguren agieren zwei Schwestern: die umsichtige und kompetente Kinderkrankenschwester Emma sowie die durchsetzungsstarke und fleißige Marlene, angehende Kinderärztin im Praktikum. Hinzu kommt der Partner von Marlene, Maximilian, der zu Beginn des Buchs als Lazarettarzt tätig ist und somit die Gräuel des Krieges hautnah erlebt. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg hat sich sein Wesen verändert, er wirkt traumatisiert, stürzt sich wohl auch aus diesem Grund in die Arbeit und distanziert sich immer weiter von seiner großen Liebe Marlene. Weitere zentrale Nebenfiguren sind der intrigante Oberarzt Waldemar Buttermilch, der Marlene das Leben schwer macht, der Nachbar Kurt Vogel, der für Emma Gefühle hegt und als Journalist für die Zeitung „Vorwärts“ arbeitet, sowie der Klinikdirektor Julius Ritter, der seine schützende Hand über Marlene hält und als eine Art Mentor fungiert. Das Figurenensemble ist recht groß, neben den genannten Figuren treten viele weitere auf; allerdings verliert man nie den Überblick oder ist als Leser gar überfordert. Das mag auch daran liegen, dass der Roman linear und personal erzählt wird, es kommt also zu keinerlei Wechseln der Erzählerstandorte oder Perspektivänderungen, so dass sich der Roman flüssig liest. Auch sind die Figuren gut aufeinander abgestimmt.
Warum ich den Roman aber nicht als sehr gut empfunden habe, hängt damit zusammen, dass für mich das Genre „Historischer Roman“ zu sehr vernachlässigt wird. Ich hätte die Erwähnung von mehr gesellschaftspolitischen Ereignissen zu jener Zeit besser gefunden. In meinen Augen handelt es sich mehr um einen „Liebesroman“, zumal dieses Thema im Lauf des Buchs einen immer größeren Raum einnimmt. Im Vordergrund stehen vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Max und Marlene sowie zwischen Emma, Tomasz und Kurt. Hinzu kommt dann noch das Intrigenspiel um Waldemar Buttermilch. Mich hätten weitere Patientenschicksale, ähnlich wie das von Frieda Kunze oder das von Theodor, mehr interessiert. Auch hätte man in meinen Augen die dunklen Seiten der Spanischen Grippe noch näher ausführen und mehr beleuchten können. Mir erschien das im Roman dargestellte gesellschaftliche Leben noch zu normal. Auch die dunklen Seiten des Krieges hätten nach meinem Dafürhalten noch stärker zum Ausdruck gebracht werden können. Zwar wird an Max deutlich, dass er von dem Erlebten traumatisiert wurde, aber das erlebte Leid wird mir zu wenig konkretisiert und zu wenig beschrieben. Ich hatte während des Lesens den Eindruck, dass die Autorin die Leser zu sehr schonen wollte, die „heile Welt“ um Emma und Marlene sollte nicht zu sehr ins Wanken geraten, Herausforderungen und Krisen sollten lösbar bleiben, beim Leser sollten keine negativen Gefühle erzeugt werden. Zwar werden am Rande auch negative Geschehnisse erwähnt, doch das meist so oberflächlich, dass sie nicht unter die Haut gehen. So zumindest habe ich es beim Lesen empfunden.
Allerdings will ich nicht unerwähnt lassen, dass es auch Ausnahmen gab, also Passagen, die mich durchaus als Leser mitgenommen und emotionalisiert haben: Die Einlieferung von Frieda Kunze mit der Diagnose Rückenmarksschock und die möglichen Folgen, die Notoperation bei Theodor sowie die ungerechte Sonderprüfung von Marlene. Solche lesenswerten Stellen hätte ich gerne noch mehr im Buch vorgefunden. Und ich hätte es auch verkraftet, wenn nicht immer alles gut ausgeht. Schließlich gehören doch zum Beruf des Arztes auch Rückschläge.

Fazit: Ein Roman, de

Bewertung vom 17.10.2021
Schwarzes Herz
Kuhnke, Jasmina

Schwarzes Herz


ausgezeichnet

Mit dem Roman „Schwarzes Herz“ präsentiert Jasmina Kuhnke die Lebensgeschichte einer Ich-Erzählerin, die verschiedene Formen von Gewalt und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen erlebt, sei es in der Familie, in der Schule und in der Partnerschaft. Zentral ist dabei ihr Kampf um Befreiung, die Entwicklung vom Opfer häuslicher Gewalt hin zu einem selbstbestimmten Leben.

Das Thema der Gewalt ist in diesem Buch allgegenwärtig und ich als Leser habe mich irgendwann gefragt, wie viel eine Person im Leben aushalten kann, wie viele Rückschläge die Protagonistin denn noch wegstecken muss. Ich habe beim Lesen mitgelitten und ich war regelrecht froh, dass es nicht nur um die tragische Geschichte eines sozialen Abstiegs ging, sondern dass im letzten Viertel des Buchs noch ein Akt der Befreiung folgte. Über weite Strecken ist die schwarze Ich-Erzählerin aber eingeschüchtertes Opfer, mit einem negativen Selbstbild. Sie schildert, wie sie in die Beziehung zu ihrem ersten Mann, einem Rapper und Breakdancer mit einem gewalttätigen Ruf, hineinrutscht, für den sie sich verbiegt, dem sie sich völlig unterordnet und das, obwohl er mit ihr in abfälliger Weise spricht, überhaupt keinen Respekt vor ihr hat, sie psychisch unter Druck setzt und körperlich misshandelt. Sie hat Angst vor ihm, gerät in immer größere Abhängigkeit und agiert dabei hilflos. Erst als es fast zu spät ist, trennt sich die Ich-Erzählerin von ihrem Mann und baut sich nach und nach ein neues Leben auf, in das auch bald ein neuer Mann tritt. Was ich nicht verstanden habe, ist jedoch, warum sie ihre Kinder am Wochenende weiter ihren Vater besuchen lässt und nicht um ein alleiniges Sorgerecht kämpft; vielleicht hat sie dafür keine Kraft mehr.
Auch zu Hause wird sie Opfer von Gewalt. Ihr Stiefvater demütigt sie öffentlich vor den anderen Familienmitgliedern, äußert ihr gegenüber rassistische Bemerkungen, legt sie sogar übers Knie oder zerrt sie am Ohr. Und dort, wo sie noch am ehesten Unterstützung hätte erleben können, wird sie ebenfalls rassistisch attackiert und ausgegrenzt: in der Schule. Als Konsequenz daraus kommt es zu Fehlzeiten in der Schule, zu Schulwechseln, zum sozialen Abstieg. Bedauerlich fand ich, dass die Ich-Erzählerin in ihrem Leben keine positiven Beziehungen erleben konnte, scheinbar gab es weder eine freundliche beste Freundin, noch einen hilfsbereiten Lehrer oder eine andere ihr zugewandte Person. Sie hat offensichtlich nicht das Glück, auf tolerante, normale Menschen zu treffen, nicht einmal im von ihr geliebten Laufsport, und gerät so in eine Abwärtsspirale. Die einzigen Ausnahmen in ihren Erzählungen sind lediglich die Grundschule sowie die Oma, die zu ihrer Enkelin hält. Die Mutter ist zu wenig präsent und arbeitet zu viel, um ihr eine Stütze zu sein. Und vom Bruder, der im ersten Viertel des Buchs zur Welt kommt, erfahren wir keine weiteren Hintergründe. So erscheint die Ich-Erzählerin die längste Zeit ihres Lebens isoliert und auf sich gestellt. Erst im letzten Viertel des Buchs trifft man auch auf positive Figuren, so z.B. auf den Nachbarn, der Lehrer an einer antroposophischen Schule ist und dann ihr neuer Stiefvater wird, sowie auf ihren zweiten Ehemann.
Was die sprachlich-erzählerische Gestaltung betrifft, möchte ich abschließend anmerken, dass in dem Buch stellenweise eine drastische und expressive Sprache gewählt wird, die nicht jedem Leser gefallen dürfte, die aber das Erlebte sehr eindrucksvoll veranschaulicht und Emotionalität zum Ausdruck bringt. In erzählerischer Hinsicht empfinde ich das Buch gelungen, das einzige, was mich hin und wieder gestört hat, waren die Zeitsprünge zwischen den knappen Kapiteln. So musste ich mich immer kurz zu Beginn eines Kapitels orientieren, in welcher Lebensphase der Ich-Erzählerin ich mich gerade befinde.

Fazit: Eine kraftvoll und emotional erzählte Schilderung einer Entwicklungsgeschichte voller Gewalt und Ausgrenzung: der schwere Weg der Ich-Erzählerin vom hilflosen Opfer hin zu einem selbstbestimmten L