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hamburger.lesemaus
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Bargfeld-Stegen

Bewertungen

Insgesamt 333 Bewertungen
Bewertung vom 21.02.2024
Gruß aus der Küche
Noll, Ingrid

Gruß aus der Küche


sehr gut

GRUß AUS DER KÜCHE
Ingrid Noll

Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt;
Der andre liebt eine andre,
Und hat sich mit dieser vermählt.
Heinrich Heine (S. 62)

Die etwas runde, 40-jährige Irma hat aus dem Restaurant „Zum Hirschen“ ein vegetarisches Restaurant gemacht. Die „Aubergine“ läuft gut. Alle sind zufrieden. Das etwas illustre Aubergine-Team ist gut eingespielt und arbeitet Hand in Hand.
Da haben wir den großen Kellner Josh, in den Irma seit Jahren verliebt ist. Einst hatten sie eine kleine Bettbeziehung, aber Josh hat es auf die 17-jährige Kellnerin Lucy abgesehen.
Vinzent, bereits über 80 Jahre alt, ist der „Gemüsemann“ und hilft in der Küche - er verfolgt ganz andere Ziele und hat ein Auge auf die Chefin und talentierte Irma geworfen.

Wie wir es von Ingrid Noll gewohnt sind, beschreibt die Autorin ihre Charaktere detailliert und mit viel Charme. Jeder dieser Protagonisten intrigiert und manipuliert die anderen, um an sein Ziel zu kommen.

Auch in ihrem neuen Roman hat die Autorin mich wieder zum Schmunzeln gebracht. Ingrid Noll ist eine Meisterin der Inszenierung.
Lediglich die kleinen Respektlosigkeiten gegen den älteren Vinzent waren mir zu viel.
Dennoch eine lockere, stimmige Geschichte, genau das richtige Buch für einen kühlen Abend mit einer Parmigiana und einem Glas Rotwein in der Hand.

Fazit:
Gute Unterhaltung à la Ingrid Noll.
4/ 5

Bewertung vom 20.02.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


sehr gut

WIR SITZEN IM DICKICHT UND WEINEN
Felicitas Prokopetz

Eigentlich hatte „Val“ Valerie mit ihrer Mutter schon seit frühester Kindheit Probleme: Mutter Christina nahm es nie genau mit der Erziehung. Da keiner sie weckte, kam Val selten pünktlich zur Schule und auch für die Zubereitung der Mahlzeiten fühlte sich Mutter Christina nicht verantwortlich. Was die Freunde von Val als „ cool“ bezeichneten, nervte sie. Sie liebte es, bei Oma zu sein. Regeln zu befolgen, aber auch Liebe zu erhalten. Oma hört ihr zu und sie beschäftigte sich mit ihr. Es wurden Spiele gespielt, vorgelesen und lange Spaziergänge gemacht.

Mutter Christina sieht das ganz anders: Immerhin war Val Schuld daran, dass sie es schwer hatte, einen Mann kennenzulernen. Wer wollte schon eine Frau mit so einem Anhängsel, wie sie es hat? Ihretwegen konnte sie nie ausgehen und auch ihr Studium musste sie abbrechen, weil sie mit Val schwanger war. Und auch diese Windeln, die immer gewechselt werden mussten! Warum hat sich die Tochter eigentlich nie dafür bedankt? Ihr ganzes Leben hat sie sich nur für ihre Tochter aufgerieben.

Es ist kompliziert, diese Mutter-Tochter-Beziehung und jetzt ist Christina an Krebs erkrankt.

In Rückblicken erfahren wir Vals Familiengeschichte: Beide Großmütter werden beleuchtet, dabei springt die Autorin nicht nur in der Zeit, sondern lässt auch unterschiedlichste Familienmitglieder zu Wort kommen.
Vier Generationen dürfen wir als Leser begleiten und es wird nicht nur aufgezeigt, wie sich die Familienaufstellung innerhalb einer Familie in diesen fast hundert Jahren veränderte, sondern auch die Stellung der Frau im allgemeinen.

Ob die beiden Frauen es schaffen, sich aufgrund der Krankheit näher zu kommen, müsst ihr allerdings selber herausfinden.

Nachdem ich mich eingelesen hatte, gefiel mir die Geschichte gut. Hilfreich wäre es sicherlich gewesen, einen kleinen Familienstammbaum im Buch zu haben.
Ich glaube, dass ich nicht erwähnen muss, wie sehr mich Christina genervt hat. Ich war absolut im Team Val!
Trotzdem empfand ich das Buch als unglaublich authentisch.
Leseempfehlung für alle, die schwierige Familienkonstellationen mögen.
4/ 5

Bewertung vom 19.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

GEORDNETE VERHÄLTNISSE
Lana Lux

Philipp, rote Haare und Sommersprossen, war schon als Kind nicht beliebt. Er nässte sich noch in der Schule ein und gebrauchte eher seine Fäuste als Worte, um sich auszudrücken - seine alkoholkranke Mutter war dabei auch keine Unterstützung.
Jedes Jahr wünsche er sich erneut, endlich einen besten Freund zu haben.
Irgendjemand hatte wohl seinen Wunsch erhört, denn eines Tages kam sie in seine Klasse: Faina, ein Flüchtlingsmädchen aus Russland mit derselben roten Haarfarbe, wie er sie hat und wilden Locken dazu.
Die Freundschaft war unzertrennlich und später, als Faina Streit mit ihrem Vater hatte, zog sie ganz zu Philippe und seiner Mutter.
Doch nach dem Tod von Philipps Mutter gab es einen Streit und ihre Wege trennten sich.

Heute ist alles anders: Philipp hat eine Eigentumswohnung, eine feste Freundin, aber noch immer einige Macken. Sex mag er nicht, vor vielen Dingen ekelt er sich und seine Neigung zum Pedantismus ist unübersehbar. Er stalked Faina regelmäßig auf Facebook und so richtig vergessen kann er sie nicht. Warum sie sich nie wieder bei ihm gemeldet hat, kann er nicht verstehen, schließlich war er derjenige, der ihr Deutsch beigebracht hat. Und überhaupt hat sie ihm fast alles zu verdanken.
Als Faina nach 3½ Jahren plötzlich ohne Geld und schwanger vor seiner Haustür steht, beendet er postwendend die Beziehung zu seiner Freundin und nimmt Faina bei sich auf.
Faina merkt viel zu spät, dass sie sich komplett von ihm abhängig gemacht hat.

Ach, da ist es: Das langersehnte neue Buch von Lana Lux. Ihre beiden vorherigen Bücher waren bereits große Highlights für mich.
Es geht um physische und psychische Abhängigkeit und Gewalt. Eine toxische Beziehung, die es ich sich hat.

Der Schreibstil der Autorin ist wie gewohnt, fesselnd und einnehmend, aber nichts für schwache Nerven.
Absolute Leseempfehlung von mir.
4½/ 5

Bewertung vom 17.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

KRUMMES HOLZ
Julja Linhof

Vor fünf Jahren hatte man Jirka auf ein Internat abgeschoben. Er schwor sich, nie wieder auf den Hof zurückzukehren, ins krumme Holz - Vaters Hof in Südwestfalen.
Diverse Male hatte ihn seine Schwester Malene um Unterstützung gebeten, ihn ermutigt, endlich nach Hause zu kommen, denn Vater Georg wollte den Hof verkaufen.
Malene hätte zu gerne den Hof geerbt. Sie hatte eine landwirtschaftliche Lehre absolviert, doch das bedeutete noch lange nicht, dass der Vater ihr den Hof vermachen würde.

Dann fährt Jirka doch nach Hause - zu seiner Familie.
Familie. Das Wort steht für emotionale Kälte. Für Unausgesprochenes. Für Gewalt.
Kurz vor Mutters Tod zog die Großmutter ein. Kalt und hart war sie. Liebe konnte sie keine schenken. Arbeiten musste man - jeden Tag.
Von dem Vater gab es mehr Schläge als Worte.

„Ich weiß sofort, dass es der Anruf gewesen sein muss. […] Ich springe vom Stuhl. Doch Georg packt mich im Genick, bevor ich loslaufen kann. Die Wucht, mit der er nach mir greift, wirft mich mit der Brust gegen den Tisch. […] Er hatte unrecht. Ich will schwimmen lernen. Ich hätte liebend gerne schwimmen gelernt, aber auch mit neun Jahren weiß ich schon, was Scham ist. Während die anderen Jungen sich in der Umkleidekabine ohne Umschweife die Kleider abstreifen, fühle ich mich wie gelähmt. In einer Badehose kann ich vor niemanden verstecken, was zu Hause passiert. Und nichts will ich lieber, als mich verstecken. Unsichtbar sein vor den Augen meiner Mitschüler". (S. 116)

Als Jirka dann auch noch feststellt, dass er sich zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, kann er mit der Scham kaum noch leben.

Es ist die Geschichte eines Geschwisterpaares, das ohne Liebe und Zuwendung aufwächst. Julja Linhof hat für ihr Debüt eine wunderschöne poetische Sprache gewählt, die fast im Widerspruch zu dieser bitteren, melancholischen Atmosphäre steht.
Die Charaktere und die Landschaftsbeschreibungen sind so wunderschön und zart herausgearbeitet, dass ich fast das Gefühl hatte, mitten im Geschehen zu sein. Auch der Erzählstil ist besonders und gefiel mir sehr.

Fazit:
Ein feines Debüt, das beim Lesen ein wenig schmerzt, aber absolut beeindruckend ist.
Ich wünsche Julja Linhof eine große Leserschaft und hoffe, dass wir noch viel von ihr lesen werden.
4/ 5

Bewertung vom 15.02.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

DEMON COPPERHEAD
Barbara Kingsolver

Wow wow wow, was für ein intensives, dickes Buch.
Sollte ich das Buch zu anderen Büchern zuordnen müssen, würde ich sagen: „Ein wenig Leben“ meets „Shuggie Bain“ and they end up with a „Beautiful Boy“.

Der Ich-Erzähler, Damon Copperhead wird in einem schmutzigen Trailer mitten im Wald des wirtschaftlich verarmten Virginias auf dem Fußboden von seiner drogenkranken Teenie-Mutter geboren.
Sein Vater ist bereits tot.
Wer wen in den kommenden Jahren am meisten braucht, ist nicht immer klar und schwankt einige Male. Fest steht, dass Demon, ohne die Hilfe der Nachbarn, die Großeltern seines besten Kumpels, meistens nichts zu Essen gehabt hätte.
Die Situation wird auch nicht besser, als der neue Freund seiner Mutter „Stoner“ eines Tages auftaucht. Stoner hat ganz eigene Ansichten, wie die Gehorsamkeit eines Jungen auszusehen hat und untermalt diese mit Fäusten.

Als seine Junkie-Mutter an einer Überdosis stirbt, wird Demon vom Jugendamt zu einer Pflegefamilie abgeschoben, diese beutet ihn aus. Und auch die nächste Familie verspricht keine Besserung. Eine wahre Odyssee beginnt, auf der Hunger sein stetiger Begleiter ist.
Doch Demons Leben bekommt eine Wende, als er von der Pflegefamilie ausreißt und die Mutter seines verstorbenen Vaters ausfindig macht …
Ob sich jetzt alles zum Guten wendet, müsst ihr selber herausfinden - was ich allerdings vorwegnehmen möchte, ist, dass hier in der Geschichte nicht jeder überleben wird.

TW: Suizid, Drogenmissbrauch, Gewalt. Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die es in sich hat und bestimmt nicht für jedermann geeignet ist.

Ich habe mit Demon über 829 Seiten gelitten und mir am Ende gewünscht, dass dieses Buch bitte nie aufhört! Was für ein großartiges Buch.
So eine Geschichte habe ich eher von einem Mann erwartet. Chapeau Barbara Kingsolver!
Der Schreibstil der Autorin ist absolut fesselnd und als ich in der Mitte gerade eine kleine Länge verspürte, zog es direkt wieder an und blieb bis zum Ende spannend.
Eine große Leseempfehlung von mir und ganz sicher wird dieses Buch ein #jahreshighlight2024 sein.
5+/ 5

Bewertung vom 12.02.2024
Meine Schwester
Flitner, Bettina

Meine Schwester


ausgezeichnet

MEINE SCHWESTER
Bettina Flitner

TW: Depression, Suizid

„Wir waren zu zweit durch diese Wüste gegangen, meine Schwester und ich. Zu zweit gewandert durch diese erschöpfende Weite. Zu Beginn war der Winkel zwischen unseren Wegen kaum sichtbar, kaum messbar gewesen. Aber er wurde doch größer mit jedem Schritt. Mit jedem Schritt entfernten wir uns mehr voneinander. Meine Schwester wählte die Liebe, ich die Achtung“. (S. 176/177)

Abends um 20 Uhr kam der Anruf: Susanne, ihre große Schwester ist tot, sie hat sich im Badezimmer erhängt.
Wie kann das sein? Sie hatten sich doch damals, nach dem Freitod der Mutter geschworen, dem anderen Bescheid zu geben, sollte sich irgendwann auch mal einer von ihnen umbringen wollen.
Vielleicht hatte Susanne auch Bescheid gegeben? Tinas Telefon hatte ja zuvor geklingelt und sie hatte auch den Namen ihrer Schwester auf dem Display gesehen - nur angenommen hatte sie den Anruf nicht. Sie hatte keine Zeit für ihre Schwester - für ein Gespräch das wieder mindestens eine Stunde über ihre Ängste und Depressionen dauern würde.
Und jetzt war es zu spät.

In Rückblicken erfahren wir die Familiengeschichte der Autorin.
Lernen ihre Eltern kennen, die es mit der Aufsichtspflicht nicht immer so ganz genau nehmen und deren Affären wichtiger sind, als den Mädchen ein Abendessen zu kochen.
Treffen die Großeltern, die aus ihren zugewiesenen Rollen der 70er-Jahre nicht ausbrechen können und bei denen man sich entscheiden muss, ob man Liebe oder Achtung bekommen möchte. Doch die Mädchen halten zusammen und sind ein Team, bis sich irgendwas ändert.

Die autobiografische Geschichte von Bettina Flitner hat mich sehr berührt. Ich habe das Buch in 1½ Tagen gelesen und konnte es kaum zur Seite legen.
Wunderschöne Sätze haben mich durch diese traurige Geschichte getragen, den Vergleich mit den Raben während der Depressionsschübe der Mutter fand ich wunderschön.
Diverse Male hatte ich Flashbacks - zu schön sind diese kleinen Beschreibungen von Süßigkeiten, Zeitschriften und den typischen Lebenssituationen in den 70er-Jahren.

Fazit:
Ein faszinierendes Buch, das man gelesen haben muss. Traurig und wunderschön.
5/ 5

Bewertung vom 07.02.2024
So weit der Fluss uns trägt
Read, Shelley

So weit der Fluss uns trägt


ausgezeichnet

SO WEIT DER FLUSS UNS TRÄGT
Shelly Read

1940:
Die 17-jährige „Torie“ Victoria Nash lebt mit ihrem Vater, Bruder Seth und ihrem Onkel auf einer Pfirsichfarm in Iola, Colorado am Ufer des Gunnison Rivers. Dort wachsen die bekannten und begehrten „Nash-Pfirsiche".
Nachdem ihre Mutter, Tante und Cousin bei einem Autounfall verunglückten, hat sie die Aufgaben ihrer Mutter übernommen: Wie selbstverständlich kümmert sie sich um den Haushalt und die Wäsche. Nebenbei versorgt sie das Vieh und hilft bei der Pfirsichernte.
Doch harmonisch ist es nicht auf der Farm: Seth bringt sich immer öfter in ernste Schwierigkeiten, ihr Onkel, der seit dem Vietnamkrieg im Rollstuhl sitzt, verpestet die Luft mit seinem Gezeter und dem Vater scheinen die Worte seit dem Tod der Ehefrau ausgegangen zu sein - mit anderen Worten: Tories Mutter und ihr weiblicher Einfluss fehlt einfach überall.

Als sie eines Abends ihren betrunkenen, mal wieder zu Streit aufgelegten Bruder von einer Pokerrunde abholen will, begegnet ihr Wilson Moon. Sie verliebt sich sofort in den gut aussehenden jungen Mann mit indigener Herkunft.
Doch die Männer ihrer Farm sind alles andere als begeistert, dass Torie sich mit „einem wie diesen“ abgibt. Torie ignoriert den Willen ihres Vaters, sich nicht mit Wilson zu treffen und schlüpft nachts heimlich aus dem Haus.
Nach kurzer Zeit will nicht nur ihre Familie "diesen Abschaum“ loswerden, sondern ganz Iola scheint sich einig zu sein: "Diese Rothaut" muss weg! Gerüchte und Verleumdungen werden in die Welt gesetzt und machen die Runde in Iola. Nach kurzer Zeit wird Wilson Moon von dem Sheriff gesucht.
Der gewalttätige Seth kann die Belohnung, die auf Wilson ausgesetzt ist, gut gebrauchen und macht sich auf die Suche nach ihm - und er weiß, dass er nur der Spur seiner Schwester folgen muss, um ihn zu finden …

Wow, was für ein facettenreiches Debüt von Shelly Read. Ich habe mit Torie gelitten, gebangt und geweint.
Es geht um Rassismus, Verlust und Einsamkeit.

Ein berührendes Buch, das man einfach so zur Hand nimmt und nicht mehr weglegen kann, bevor man es beendet hat.
Die wunderschönen Naturbeschreibungen und die herausgearbeiteten Charaktere werden mir noch lange in Erinnerung bleiben.
Ein echtes Highlight für mich.
5+/ 5

Bewertung vom 05.02.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


sehr gut

NACHBARN
Diane Oliver

Nachbarn ist ein Buch, bestehend aus vierzehn Kurzgeschichten, die einen eindringlichen Einblick in das Leben mehrerer schwarzer Menschen in den Südstaaten zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in den 60er-Jahren bietet.

Wir erfahren von dem kleinen Thommy, dem empfohlen wurde, wegen seiner Begabung auf die Schule für Weiße zu gehen. Doch die Gewaltbereitschaft der weißen Menschen der Stadt, die dies verhindern wollen, ist so groß, dass die Familie den zunehmenden Druck kaum aushält und am Ende keinen Mut aufbringt, ihren Sohn in deren Schule zu schicken.
In einer anderen Geschichte ist eine Frau im Mittelpunkt, die als Dienstmädchen bei einer weißen Frau arbeitet. Ihre Kinder muss sie am Tage unbeaufsichtigt und ohne Essen alleine zu Hause lassen. Um die Kinder sattzubekommen, bestiehlt sie ihre „Herrin“, aber ihr Ehemann hat nichts besseres zu tun, als sich ein Auto zu kaufen.

Das Buch handelt von Ausgrenzung, Demütigung und Rassentrennung, aber auch von der Unzuverlässigkeit des schwarzen Ehemanns.

Einige Geschichten konnten mich sehr berühren, andere Geschichten und deren Personen hätte ich gerne noch länger begleitet, nicht alle Geschichten gefielen mir.

Leider sind die Themen dieses Kurzgeschichtenbandes noch immer hochaktuell, und das, obwohl dieses Buch bereits in den 60er-Jahren von der jungen Diane Oliver (1943-1966) geschrieben wurde. Oliver starb im Alter von nur 22 Jahren bei einem Verkehrsunfall.
So eindrückliche und differenzierte Charakterbeschreibungen in einem jungen Alter zu Papier zu bringen, haben mich sehr beeindruckt. Die Autorin hat es perfekt verstanden, die Stimmung in Amerika während der Bürgerrechtsbewegung einzufangen.

Ich habe nicht nur das Buch gelesen, sondern auch das Hörbuch gehört, dabei durfte ich der wunderbaren und klaren Stimme von Maya Albarn-Zapata lauschen.
Gerne empfehle ich dieses Buch/Hörbuch weiter.
4/5

Bewertung vom 31.01.2024
Mohawk
Russo, Richard

Mohawk


ausgezeichnet

MOHAWK
Richard Russo

Gleich im ersten Kapitel tauchen wir ein, in das kleine Städtchen Mohawk, Upstate New York, das seinen Aufstieg damals durch die Lederindustrie erfuhr. Doch die golden Zeiten sind vorbei. Das Städtchen befindet sich auf dem absteigen Ast und macht, wenn überhaupt, nur noch Schlagzeilen, weil die Krebsrate um ein vielfaches höher ist, als woanders. Doch die Gerberindustrie weigert sich Verantwortung zu übernehmen.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Stadtbewohner und deren Leben. Wir lernen unter anderen Anne und ihren Sohn kennen. Anne ist schon lange in den Mann ihrer Cousine verliebt, diese nimmt aber die Wünsche ihrer Mutter wichtiger, als die des Ehemanns.
Harry, Besitzer des Mohawk Grills, hat seit Wild Bills Unfall ein Auge auf ihn. Dallas, der Ex-Mann von Anne, spielt auch eine große Rolle, aber was er und viele andere Personen miteinander zu tun haben, müsst ihr leider selber herausfinden.

Ja, der eine mag jetzt denken, so richtig spannend hört sich das nicht an … Ja und Nein, denn wer einen Krimi sucht, der ist bei Russo sicherlich falsch (obwohl es einige Verbrechen und Tote geben wird), doch Russo ist ein Meister der Erzählkunst: Minutiös, facettenreich und mit viel Feingefühl baut er seine Geschichte auf und verwebt sie ganz langsam zu einem grossen Ganzen.

Ich habe das Buch unglaublich gerne gelesen und war ganz traurig, als ich das Städtchen Mohawk und all seine Bewohner nach 490 Seiten verlassen musste.
Von mir gibt es eine Riesen Leseempfehlung - ein großartiges Buch, welches übrigens sein allererstes aus 1986 ist und erst jetzt aus dem Englischen von Monika Töpfer übersetzt wurde.
5 / 5

Bewertung vom 29.01.2024
GOTT
Schirach, Ferdinand von

GOTT


ausgezeichnet

Was passiert, wenn ein 78-jähriger Mann nach dem Tode seiner Frau nicht mehr leben möchte? Der Mann ist weder krank noch depressiv, sondern einfach lebensmüde - er hat keine Freude mehr an seinem Leben.
Soll ein Arzt ihm dabei helfen und ihm ein Medikament, das ihn tötet, verschreiben? Oder soll der Arzt das ablehnen und damit riskieren, dass der Mann vom Balkon springt? Dieses birgt wiederum die Gefahr, dass der Suizid misslingt und der Patient paralysiert zurückbleibt.
Darf man selbst über sein Leben bestimmen?

GOTT
Ferdinand von Schirach
Ein Theaterstück

Der Ethikrat kommt zusammen und soll klären, ob Herr Gärtner mithilfe seiner Ärztin Suizid begehen darf.
Anwesend ist die Ärztin des Betroffenen, sein Rechtsanwalt, eine Rechtssachverständige sowie ein medizinischer und ein theologischer Sachverständiger.
Argumente dafür und dagegen werden aufgeführt, am Ende soll das Publikum entscheiden, ob Herr Gärtner das Medikament bekommt oder nicht.

Wie immer lässt Ferdinand von Schirach mich zum Fähnchen im Wind werden. In dem einen Moment denke ich: „Na klar darf er über sein Leben entscheiden!“ Doch in der nächsten Sekunde kippe ich schon wieder um, genau in dem Moment, wo eine Frau sterben will, weil sie vor sechs Jahren, mit 25, bei einem Unfall ein Kind totgefahren hat. Sie konnte nichts dafür. „Alle haben mir verziehen, aber ich selbst kann mir nicht verzeihen.“ (S. 106) Nein, natürlich darf diese Frau sich nicht umbringen!
Ferdinand von Schirach ist ein Meister der Erzählkunst, man wird in die Geschichte eingesogen und kann sich dem sensiblen und hochemotionalen Thema nicht entziehen.
Ein wunderbares Buch zum Diskutieren, hervorragend auch für die Oberstufe im Ethikunterricht geeignet.
Ein schmales Buch, das schnell gelesen ist und lange nachwirken wird.

Am Ende bleibt die Frage: Darf man Gott spielen?
5/ 5