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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 176 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2023
Schmales Land
Dwyer Hickey, Christine

Schmales Land


ausgezeichnet

Meeresrauschen, Urlaub, Sommer: Trotz der verlockenden Aussichten weigert sich der zehnjährige deutsche Waisenjunge Michael beharrlich, als seine amerikanische Adoptivmutter ihn in New York in den Zug Richtung Boston setzen will. Das traumatisierte Kind fürchtet sich vor den Tunneln und dem Fremden im Allgemeinen. Wir schreiben das Jahr 1950 und der Zweite Weltkrieg, in dem Michael seine Eltern verlor, ist noch nicht lange vorbei. Als er in Cape Cod Bekanntschaft mit der exzentrischen Künstlerin Mrs. Aitch macht, scheinen zarte Sonnenstrahlen die dunklen Wolken vertreiben zu können. Doch die Freundschaft ist fragil, denn Mrs. Aitch hadert selbst mit ihrer Existenz und mit ihrem Ehemann, dem berühmten amerikanischen Maler Edward Hopper, dessen Gemälde "Sea Watchers" übrigens auch das Cover ziert.

"Schmales Land" ist der neue Roman der irischen Autorin Christine Dwyer Hickey, der 2020 unter anderem mit dem Walter Scott Prize ausgezeichnet wurde - und tatsächlich der erste, der als deutsche Übersetzung von Uda Strätling jüngst im Unionsverlag erschienen ist. Allein dafür gebührt dem Schweizer Verlag schon Dank, denn das Buch strahlt eine so bemerkenswerte Schönheit und Eleganz aus, dass dem deutschsprachigen Publikum hier ansonsten ein großes Werk entgangen wäre. "Schmales Land" wirkt dabei im positiven Sinne typisch amerikanisch und man muss schon zweimal die Vita der Autorin lesen, um nicht auf den Gedanken zu kommen, dass es sich eigentlich um einen Klassiker der amerikanischen Literatur handelt, der sich nahtlos in die Reihe der großen amerikanischen Erzähler:innen einreihen könnte.

Dwyer Hickey entpuppt sich nämlich nicht nur als begnadete Erzählerin, sondern schafft es auch, dass man als Leser:in eine fast unheimliche Allianz mit den Figuren eingeht. Selten zuvor fühlte ich mich Romanfiguren so eng verbunden wie in "Schmales Land". Ob Waisenjunge Michael, sein gleichaltriger Urlaubsbegleiter Richie oder das Künstlerehepaar Hopper, das namentlich übrigens nicht ein einziges Mal im gesamten Roman auftaucht - Dwyer Hickey gelingt es, dass man sich mit den Figuren freut, mit ihnen leidet und vor allem immer wieder um sie fürchtet. Sie alle strahlen eine große Ambivalenz aus, begehen einerseits zahlreiche Fehler, treffen aber mit ihrem Verhalten mitten ins Herz der Leserschaft. Denn durch die Empathie, die die Autorin ihren Charakteren entgegenbringt, werden diese Fehler nicht nur verzeihlich, sondern sogar verständlich. Letztlich gibt es im gesamten Werk kaum eine Situation, in der man sich in den häufig auftretenden Konflikten klar auf die Seite der einen oder der anderen Figur schlagen kann, weil sie alle bei jedem ihrer Fehltritte etwas eint: Menschlichkeit und Lebendigkeit.

Ein weiterer Vorzug des Buches ist die Multiperspektivität, die mit dem Verständnis und der Komplexität der Figuren unmittelbar zusammenhängt. In gewissen Momenten erlebt man dieselbe Situation hintereinander aus den Augen zweier Figuren und nimmt diese plötzlich ganz anders wahr. Genau wie Mrs. Aitch oder Michael zeigt sich Christine Dwyer Hickey nämlich als hervorragende Beobachterin. Jedes Wort, jede Geste, ja sogar jede Mimik wird von den Figuren unterschiedlich interpretiert. Dadurch entsteht ein einzigartiges Panorama der Kommunikation, das sogar über das Vier-Seiten-Modell von Friedemann Schulz von Thun noch hinausgeht. Die Dialoge sind pointiert und häufig tragikomisch.

Zudem beweist die Autorin mit diesem Buch, dass weder sprachlich noch inhaltlich ein großes Spektakel notwendig ist, um einen herausragend guten Roman zu schreiben. Die Sprache ist klar und elegant, warmherzig und melancholisch, glänzt aber nicht wegen besonderer literarischer Einfälle oder Stilmittel, sondern ist schnörkellos und trotzdem oder gerade deshalb einfach wunderbar. Die Handlung wird langsam und bedächtig erzählt, der Roman ist still und auf den ersten Blick passiert eigentlich gar nicht viel. Doch es sind vielmehr die inneren Dramen, die kleinen Verletzungen und Verfehlungen des Alltags, die den Figuren zusetzen und gerade durch dieses Unprätentiöse eine bemerkenswerte Intensität bei der Leserschaft bewirken sollten.

Insgesamt ist "Schmales Land" für mich der bislang stärkste Roman des Jahres, ein funkelndes Juwel, das sowohl Freund:innen von Künstlerromanen, als auch Leser:innen von Entwicklungsromanen begeistern dürfte. Hoffentlich gelingt Christine Dwyer Hickey damit auch auf dem deutschsprachigen Markt der verdiente Durchbruch.

Bewertung vom 13.03.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


gut

Oxford, Anfang der 1960er-Jahre: Als sich die beiden zwölfjährigen Jungen Ellis und Michael erstmals begegnen, bemerken sie gleich, dass dies der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft sein könnte. Den zeichnenden Ellis und den lesenden Michael eint nicht nur die Liebe zur Kunst. Vielmehr herrscht zwischen ihnen selbst eine seltsame Anziehungskraft. Und so überrascht es nicht, dass es zwei Jahre später zum ersten Kuss der beiden kommt. Mehr als 30 Jahre später sitzt Ellis in einer Art Midlife-Crisis vereinsamt in seinem Haus und blickt zurück auf diese Freundschaft, die zarte Liebe - und auf das Leben mit seiner fünf Jahre zuvor tödlich verunglückten Ehefrau Annie. Auf die lichten Tage also, die in der vorherrschenden Dunkelheit allerdings kaum Hoffnung geben...

"Lichte Tage" ist der neue Roman der Schriftstellerin und Schauspielerin Sarah Winman, der in der deutschen Übersetzung von Elina Baumbach jüngst bei Klett-Cotta erschienen ist. Und er beginnt mit einem Ärgernis, denn eine Namensverwechslung im ersten Satz des Romans habe ich zuvor wohl auch noch nicht erlebt. Da diese Verwechslung erst nach etwa 50 Seiten deutlich wird, herrschte bei mir doch einige Zeit Verwirrung. Ansonsten mäandert die Handlung nach einem kurzen Prolog größtenteils zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren hin und her. Man kann ihr gut folgen, da sie sich ebenso wenig wie die Sprache als besonders komplex erweist. Höhepunkte sind sicherlich die ersten Begegnungen zwischen den Jungen und der Beginn ihrer Freundschaft und Liebe. Sarah Winman nimmt im gesamten Roman jede Art von Liebe, jede Beziehung als gegeben hin, ohne sie infrage zu stellen oder an ihr zu zweifeln. Ob homo-, bi- oder heterosexuell: In "Lichte Tage" herrscht diesbezüglich eine bemerkenswerte Selbstverständlichkeit vor. Frei nach dem Motto: "Lieb doch, wen du willst!"

Bedauerlich ist hingegen, dass sie sich teilweise für die falschen Momente Zeit nimmt und andere dahingehend vernachlässigt. So begleiten wir beispielsweise Ellis äußerst kleinteilig in die Dusche, lassen ihn den Wasserhahn einschalten, warten, aus der Dusche und wieder nach unten gehen. Hier hätte dem Roman eine Straffung, eine Verdichtung gut getan. Über zentrale Momente in der Jugend rauscht "Lichte Tage" hingegen hinweg. Genauso unbefriedigend scheint die Figur Annie zu sein. Während die Anfangsszenen zwischen Ellis und ihr noch recht ausführlich und bisweilen ein wenig kitschig erzählt werden, ist sie irgendwann nur noch eine Art "liebenswerter Keil" in der Beziehung zwischen Ellis und Michael. Annie wird von beiden Männern auf eine Art geliebt und liebt zurück. Aber was das Besondere an ihr ist, wird leider nicht deutlich. Zudem entpuppt sich "Lichte Tage" in den ersten zwei Dritteln des Romans doch als arg dialoglastig, wobei diese manchmal ein wenig hölzern wirken.

Umso erstaunlicher ist das, wenn man das letzte Drittel des Romans liest. In Michaels Tagebuch verfolgt man seine Rückkehr nach Südfrankreich, wo er als junger Mann mit Ellis einen unvergesslichen Urlaub erlebte. Plötzlich ist die Sprache poetisch, der ganze Text wird von einer bemerkenswerten Melancholie erfüllt. Hier zeigt sich, welch großes Potenzial dieses Buch gehabt hätte, wie schön Sarah Winman schreiben kann. Doch im Vergleich zur ersten Hälfte des Romans wirkt dies eher etwas unpassend und unrund. Fast so, als hätte plötzlich eine zweite Autorin Lust am Fabulieren empfunden.

Fazit: "Lichte Tage" ist eine nur in Ansätzen gelungene Mischung aus Coming-of-Age- und Liebesroman, deren großes Potenzial zwar spürbar ist, aber nicht konsequent genutzt wird. In Erinnerung bleibt die besondere Beziehung zwischen Ellis und Michael und Sarah Winmans empathischer und selbstverständlicher Umgang damit sowie der melancholische Rückblick Michaels auf die eigene Jugend.

Bewertung vom 16.02.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Irgendwo in der DDR zu Beginn der 1960er-Jahre: Der zehnjährige Hans ist ein Träumer und Einzelgänger. Sein einziger Freund ist Nachbarsjunge Karl-Georg und auch seine Eltern scheinen eher mit sich und ihren Problemen beschäftigt, als sich liebevoll um ihr einziges Kind kümmern zu können. Als der Vater beschließt, unter den vage bleibenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr weiterleben zu wollen, ändert sich für Hans alles. Denn von der Stadt ziehen sie auf eine Insel mitten in einem See. Während der Junge anfangs nur mit dem verwilderten Hund Bull Freundschaft schließt, fühlt er sich nach und nach eins mit der ansonsten unbewohnten Insel. Doch gerade, als er sein persönliches Paradies gefunden zu haben scheint, meldet sich die Schulbehörde und bestellt ihn zum Besuch der Volksschule ein...

Dirk Gieselmann machte sich bislang vor allem als Journalist einen Namen und wurde unter anderem für seine humorvolle Live-Berichterstattung des Fußball-Magazins "11 Freunde" mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Überraschend ernst und gefühlvoll präsentiert sich sein Debütroman "Der Inselmann", der nun bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Es ist eine poetische Reise in die Seele eines jungen Individualisten, der irgendwie nicht in die Gesellschaft zu passen scheint. Gieselmann beobachtet und begleitet seinen kleinen Protagonisten mit großer Empathie und scheint immer eine schützende Hand über ihm ausbreiten zu wollen. Da überrascht es nicht, dass er Hans in einem Interview mit Radio Eins kürzlich als Freund bezeichnete. Für Hans ist diese Freundschaft überlebenswichtig, denn ohne seinen Förderer Gieselmann könnte er in doppeltem Sinne nicht in dieser Welt existieren.

Ganz unmittelbar springt den Leser:innen die Schönheit des Textes ins Auge und ins Herz. Gleich zu Beginn legt der Autor damit den Grundstein für eine hochpoetische Reise seiner Hauptfigur und kreiert eine dichte Atmosphäre, in der Gieselmann zahlreiche wundervolle Bilder und Metaphern gelingen. Insbesondere die Naturbeschreibungen, aber auch Hans' Empathie mit den Tieren erinnern in diesen Momenten an Florian Knöpplers "Kronsnest", dem vielleicht bewegendsten Coming-of-Age-Roman der jüngsten Vergangenheit, auch wenn dieser handlungsorientierter und dialoglastiger war. Und im Finale tauchen sogar Bezüge zum jungen Aussteiger Christopher McCandless auf und Jon Krakauers dazugehöriges Buch "In die Wildnis". Denn letztlich ist Hans' Kampf nach persönlicher Freiheit auch immer ein Zwiestreit zwischen Kultur und Natur, zwischen Gesellschaft und Individuum.

Zentrales Thema ist nämlich immer wieder die Individualität, die Freiheit des Einzelnen in einem nie explizit genannten Land, das doch so sehr auf das Kollektiv setzte. Doch auch die Stille hat für den Roman eine immense Bedeutung. So wird Hans an einer Stelle als "Gebieter der Stille" bezeichnet. Allerdings könnte man Dirk Gieselmann auch selbst als einen solchen bezeichnen. Denn ihm gelingt es, mit seinem erstaunlich leisen Roman, den kurzen, pointierten Sätzen und der großen Melancholie so viel im Leser zum Schwingen zu bringen, dass einen die vielen offenen Fragen letztlich gar nicht stören.

Insgesamt gelingt Gieselmann ein bemerkenswerter und sprachlich innovativer Debütroman, dessen großer Pluspunkt die Atmosphäre ist, hinter die die eigentliche Handlung manchmal ein wenig zurücktritt. Hans ist ein liebenswerter Protagonist, dessen innere Entwicklung beeindruckt und unvergessen bleibt. Mit Gieselmann meldet sich eine weitere aufregende Stimme in der jüngeren deutschen Literatur zu Wort, von der wir hoffentlich noch viel hören werden.

Bewertung vom 30.01.2023
The Shards
Ellis, Bret Easton

The Shards


ausgezeichnet

Es wäre aufgrund der Serienkiller-Thematik zu einfach, Bret Easton Ellis' jüngst bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen neuen Roman "The Shards" als schnöden Psychothriller zu lesen oder zu bezeichnen. Denn in dem 740 Seiten schweren Pageturner steckt so viel mehr, als man es auf den ersten Blick erwarten könnte. Bereits im Vorwort, das bis sage und schreibe Seite 24 andauert, erkennt man die große Fabulierlust des Autors, seine Liebe zum Detail, seinen Blick für vermeintliche Nebensächlichkeiten. Es soll nicht das letzte Mal sein, dass man sich während der Lektüre an Stephen Kings große Werke erinnert fühlt. Ellis betont in seinem Vorwort fast schon obsessiv, wie stark ihn die Vorkommnisse im September 1981 traumatisiert hätten und erklärt, warum er sich erst jetzt in der Lage fühle, diese Geschehnisse niederzuschreiben. Denn der Protagonist und Ich-Erzähler - und hier beginnt bereits das Verwirrspiel mit den Leser:innen - heißt eben Bret Ellis und nur "Easton" scheint einen Keil zwischen Hauptfigur und Autor treiben zu wollen. Bret ist ein Erzähler, der mit zunehmender Dauer immer paranoider und unzuverlässiger zu werden scheint. Es ist daher dringend zu empfehlen, bei der Lektüre auf jeden kleinsten Zwischenton des Erzählers zu achten, jede Äußerung gerade im Finale des Buches auf die Goldwaage zu legen. Denn ansonsten entgehen der Leserschaft möglicherweise zentrale Details.

Im September 1981 beginnt das letzte Schuljahr für Bret und seine Freunde auf der Buckley School. Ellis baut eine Scheinwelt der Reichen und Schönen auf und ist sich nicht zu schade, die ein oder andere Klischeefigur auftreten zu lassen. Wie an amerikanischen Highschools üblich, gibt es natürlich den beliebten und etwas einfältigen Football-Star, der selbstverständlich mit dem schönsten Mädchen der Schule ein Traumpaar bildet. Es gibt den dauerbekifften Träumer, die drogenabhängige Tochter eines berühmten Filmproduzenten. Und natürlich gibt es Bret, der inmitten dieser Clique den coolen Unauffälligen gibt. Diese Unauffälligkeit ist ein zentrales Element, um den Protagonisten und alle seine folgenden Handlungen zu verstehen. Denn sie ist nicht aufgesetzt, sondern überlebenswichtig: Bret versteckt seine Homosexualität vor den anderen und hat sich mit Debbie, jener Filmproduzententochter, sogar eine Schein-Freundin zugelegt. Doch diese Scheinwelt bricht nach und nach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Spätestens mit dem Auftritt Robert Mallorys lassen sich vorherige Oberflächlichkeiten nicht mehr aufrechterhalten.

Während also der Großteil seiner Freunde nichts davon ahnt, konfrontiert der Ich-Erzähler seine Leserschaft umso expliziter mit dieser Homosexualität. Denn gerade in der ersten Hälfte des Romans bleibt man von den Details nicht verschont. In diesen Momenten erinnert "The Shards" ein wenig an Alan Hollinghurst, wobei dessen Figuren in der Regel etwas bornierter scheinen. Berührender sind da schon die stillen Momente, Brets Gedanken und Gefühle, die er verstecken muss.

Ebenso explizit und grausam sind die Details der Trawler-Morde, die im letzten Drittel an einen Slasher-Film erinnern. Sie sind zu verzeihen, denn zuvor schafft es Bret Easton Ellis auf wirklich außergewöhnliche Art und Weise, eine so unheimliche und bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen, wie ich sie lange nicht mehr gelesen habe. In einer besonders aufregenden Szene verbringt Bret allein eine Nacht in einem Haus in der Wüste in Palm Springs und wird durch Geräusche und einen durchs Haus wandernden Lichtstrahl einer Taschenlampe geweckt, was fast schon atemberaubend spannend ist. Ohnehin schafft Ellis immer wieder Cliffhanger und Andeutungen an den Kapitelenden, die es den Lesenden unglaublich schwer machen, das Buch aus der Hand zu legen.

Die Einsamkeit der Jugendlichen ist ein weiterer zentraler Aspekt in "The Shards". Denn die Erwachsenen glänzen vornehmlich durch Abwesenheit oder Fehlverhalten. So erwacht Bret jeden Morgen in seinem "leeren Haus am Mulholland Drive", die Eltern eines verschwundenen Mitschülers bemerken erst drei Tage später dessen Verlust. Eine Einsamkeit, die sich ganz hervorragend auch am melancholischen Soundtrack des Buches ablesen und nachhören lässt, denn der Einsatz der Musik spielt eine so wichtige Rolle, dass man sich auch diesen Ellis-Roman wieder, wie schon bei "American Psycho", unbedingt als Verfilmung vorstellen kann.

Insgesamt ist "The Shards" eine äußerst gelungene Mischung aus Coming-of-Age-Drama, Highschool-Roman, Psychothriller und Horror, die neben den King- und Hollinghurst-Referenzen in ihren filmischen Momenten auch an David Lynch, Brian de Palma oder John Carpenter erinnert. Nicht zuletzt wegen der zahlreichen Orts- und Straßennamen in Hollywood und Los Angeles. Unbedingt lesenswert, auch wenn das Buch insgesamt vielleicht 50 oder 100 Seiten kürzer hätte ausfallen können.

Bewertung vom 10.01.2023
Ein Leben in vier Welten
Brachvogel, Frank

Ein Leben in vier Welten


sehr gut

Als der fast 91-jährige Albert Pawlak an Heiligabend vor seinem Computer in Vancouver zusammenbricht, ist es nicht die erste lebensbedrohliche Situation, der er sich ausgesetzt sieht. Schon ein paar Jahre zuvor musste er sich nach einem Herzinfarkt einer Operation unterziehen. Doch im Vergleich zu dem Leben, das Albert führte, muten diese eigentlich doch so dramatischen Ereignisse fast unspektakulär an. Denn Albert lebte ein "Leben in vier Welten": vom Nationalsozialismus über die neu gegründete DDR, von der Flucht in die Bundesrepublik bis zur Auswanderung nach Kanada.

Man muss zunächst einmal festhalten, wie professionell dieser selbstverlegte Roman geraten ist. Neben einem ansprechenden Cover hat sich Brachvogel in seinem Debüt ein sehr gutes Lektorat und offenbar auch Korrektorat geleistet. Äußerst gelungen ist auch der Schachzug, vielen der insgesamt 20 Kapiteln ein Zitat voranzustellen, das unmittelbar auf die Handlung Bezug nimmt.

Die Geschichte, die Ich-Erzähler Albert präsentiert, ist spannend genug. Wohl kaum jemand kann von sich behaupten, in vier verschiedenen Welten gelebt zu haben. Brachvogel wählt konsequent die Retrospektive. Gemeinsam mit den Leser:innen lässt der schwerkranke Albert diese unterschiedlichen Welten vor seinen Augen Revue passieren. Man folgt dem jungen Albert, als er für die Nationalsozialisten als 14-jähriger Junge Flugzeugteile herstellt. Man begleitet ihn als jungen Mann auf seinen Einsätzen in einem Bergwerk im Erzgebirge in der frisch gegründeten DDR. Man leidet mit ihm nach seiner Flucht in den Westen unter den rassistischen Anfeindungen, denen er sich wegen seines aus dem Polnischen stammenden Nachnamens ausgesetzt sieht. Und man atmet mit ihm den Duft der Freiheit und des Neuanfangs nach seiner Auswanderung nach Kanada.

Das Überraschendste an dem Roman ist jedoch, dass er auf einer zweiten Ebene ebenfalls gut funktioniert, ohne dies vielleicht überhaupt zu wollen. Denn auf den ersten Blick ist Albert ein klarer Sympathieträger. Ein charmanter und fleißiger Protagonist, der sich trotz aller Widrigkeiten durchkämpft und dadurch letztlich zu seinem persönlichen Glück findet. Ein empathischer Mensch, der stets an seine Familie denkt und ihr einen Großteil des hart erarbeiteten Lohns zur Verfügung stellt. Und dennoch rattert es im Kopf des Lesenden. Was ist das eigentlich für ein Mensch, der in allen politischen Systemen zu bestehen weiß und dabei immer strebsam seinen Dienst für die Mächtigen leistet? Warum erfahren wir so wenig über sein Privatleben, dafür aber fast alles über die verschiedenen Arbeitsstellen? Kann man es als Leser so durchgehen lassen, dass er Nationalsozialimus und Kommunismus gleichsetzt? Ist es Albert abzunehmen, dass er und vor allem sein gesamtes Umfeld keine Ahnung über die Vorkommnisse hatten, die sich in einem Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe abspielten? Der Roman gibt auf all diese Fragen keine Antworten, sondern überlässt es der Leserschaft, diese zu finden. Das macht aus dem eindeutig positiv konnotierten Albert eine erstaunlich komplexe Figur, die stets auf dem schmalen Grat zwischen Anpassung und Widerstand zu wandeln scheint.

Ein paar Schwächen weist der Roman in seiner Dramaturgie auf. Durch die Retrospektive wirkt das Buch bisweilen wie eine Nacherzählung. Albert erzählt zu kleinteilig, wodurch Redundanzen entstehen. Gefühle der Figuren werden zu oft betitelt. Hier könnte das Vertrauen in die Leserschaft noch größer sein, denn Freude, Trauer und Wut lassen sich aus dem Roman auch so deutlich herauslesen, ohne dass sie benannt werden müssten. Brachvogel könnte sich längere Satzkonstruktionen zutrauen, anstatt über weite Strecken vornehmlich auf Hauptsätze zu setzen. Zudem fehlt in einigen Momenten die Atmosphäre. Dass der Autor diese nämlich sehr gut beherrscht, blitzt immer wieder auf, wie beispielsweise auf Seite 21, wo sich Albert als Kind gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Emil nach einem Versteckspiel seinem Lieblingsplatz mit Blick auf die Ostsee nähert. Ein magischer Kindheitsmoment und meine absolute Lieblingsstelle im Buch, von denen ich mir noch mehr gewünscht hätte.

Insgesamt ist "Ein Leben in vier Welten" jedoch ein lesenswerter Debütroman, der nicht nur durch die unglaubliche Geschichte des Protagonisten Albert zu überzeugen weiß, sondern auch zum Nachdenken anregt. Zum Nachdenken über deutsch-deutsche Geschichte, über Alberts Geschichte und Person speziell, aber auch über sich selbst und die eigene Haltung. Und zur Reflexion über aktuelle Kriege und Konflikte - und über Menschen, die gezwungen sind, ihre Welt aufzugeben, um in einer anderen Welt ein vermeintlich besseres Leben zu finden.

Bewertung vom 27.12.2022
Herz der Finsternis
Conrad, Joseph

Herz der Finsternis


gut

Als Kapitän Marlow seinen Flussdampfer in den Kongo steuert, weiß er noch nicht, dass diese Fahrt sein bisheriges Verständnis von menschlicher Zivilisation über den Haufen werfen wird. Sein Auftrag ist es, den erfolgreichen, aber erkrankten Handelsagenten Kurtz aufzuspüren und in die Heimat zurückzubringen. Doch je tiefer der Dampfer in die afrikanische Wildnis eindringt, desto bedrohlicher wird die Reise. Marlow und seine Begleiter sehen sich mehr als einmal Angriffen vom Flussufer ausgesetzt. Doch das eigentliche Grauen lauert dort, wo Marlow es nicht erwartet hatte: im Herzen der Finsternis, dem Schrecken des englischen Kolonialismus.

Vor nicht allzu langer Zeit startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. In kräftigem Lila ist nun "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad in der deutschen Übersetzung von Fritz Güttinger und versehen mit einem Nachwort von Ernst Weiss erschienen. Die Erzählung wurde erstmals 1899 veröffentlicht und gilt bis heute als eines der wichtigsten Prosastücke in englischer Sprache. Neben der Besonderheit, dass Conrad als Sohn polnischer Eltern erst mit 21 Jahren Englisch lernte, ist für die Lektüre von "Herz der Finsternis" erwähnenswert, dass der Autor selbst als Kapitän eines Flussdampfers in den Kongo fuhr. Somit erhöht sich die Authentizität der Erzählung um ein Vielfaches.

Seine stärksten Momente hat "Herz der Finsternis" eindeutig in den Momenten, in denen es Joseph Conrad gelingt, die Atmosphäre der Flussfahrten fast spürbar zu machen. Sei es auf der einleitenden Fahrt auf der Themse, auf der ein anonymer Ich-Erzähler den Protagonisten Marlow einführt, oder später auf der zentralen Dampferfahrt in den Kongo. Gut spürbar ist auch der innere Kampf Marlows, von dessen Aufbruchstimmung und Optimismus zu Beginn seiner Reise nach und nach überhaupt nichts mehr übrig bleibt und er sich nur noch Gewalt und Gefahren gegenübersieht.

Doch das Buch weist aus heutiger Sicht auch Schwächen auf. Trotz seines hehren Ansinnens - der Fundamentalkritik am englischen Kolonialismus und Rassismus - wirkt die Umsetzung fragwürdig. Denn Conrad gelingt es nicht, der afrikanischen Bevölkerung ein Gesicht zu geben. Nicht einmal ein diffuses. Ständig schreibt er von "schwarzen Leibern", von unkultivierten "Wilden", von Menschen ohne Zeitbegriff, die es nicht gewohnt waren, die Folgen ihres Handelns zu bedenken. Und auch die Figurenkonstruktion an sich ist nicht immer gelungen. Insbesondere die Figur Kurtz, die uns mehr als 100 Seiten lang als ein Mythos, ja, fast als eine Legende präsentiert wird, entpuppt sich letztlich als Enttäuschung und als wahnsinnig wirkender Krimineller, aus dem überhaupt nicht hervorgeht, warum er zuvor ein solch hohes Ansehen hatte. Stilistisch gibt es zahlreiche Wiederholungen, was aber natürlich auch dem Fakt geschuldet sein könnte, dass Joseph Conrad eben kein Muttersprachler war. Zudem entpuppt sich "Herz der Finsternis" als relativ handlungsarm, so dass die Erzählung in ihrer Gesamtheit deutlich länger wirkt als die gerade einmal gut 150 Seiten.

Das Nachwort des Schrifstellers Ernst Weiss ist durchaus emotional und macht deutlich, was Weiss an seinem Schrifstellerkollegen schätzte. Doch letztlich hätten ein paar sachlichere Fakten zu Conrad und zur Entstehung von "Herz der Finsternis" sicherlich einen höheren Informationsgehalt gehabt. Besser ist da die Editorische Notiz des Verlags, in der deutlich gemacht wird, warum man davon abgesehen hat, diskriminierende Begriffe der Erzählung zu ändern und sie somit als historisches Dokument für sich stehen zu lassen.

Die historische Bedeutung der Erzählung ist es letztlich auch, die eine erneute Veröffentlichung rechtfertigt und dafür sorgt, dass das "Herz der Finsternis" auch von einer jüngeren Generation erschlossen werden kann. Denn bei aller Kritik darf man nicht vergessen: Joseph Conrad war einer der Ersten, der mit seinem Werk öffentlich Kritik am europäischen Kolonialismus und Rassismus verübte. Eine Leistung, die ihm niemand mehr nehmen kann.

Bewertung vom 23.12.2022
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen


sehr gut

Der junge senegalesische Autor Diégane ist auf der Suche nach sich selbst und nach dem großen Roman, der ihm den schriftstellerischen Durchbruch bringen soll. Als er in Paris die rätselhafte Schriftstellerin Siga D. trifft, hat dies für ihn weitreichende Konsequenzen. Denn Siga übergibt ihm ein Buch, das 80 Jahre zuvor den französischen Literaturbetrieb gehörig durcheinander wirbelte: "Das Labyrinth des Unmenschlichen" von T.C. Elimane, der seinerzeit zunächst als "schwarzer Rimbaud" gefeiert, kurz darauf aber als Plagiator verschmäht wurde. Der Roman und das Schicksal des verschwundenen Elimane lassen Diégane fortan keine Ruhe mehr. Und so begibt er sich auf eine weitere große Suche, die ihn in längst vergangene Zeiten und an geheimnisvolle Orte führt...

"Die geheimste Erinnerung der Menschen" ist der fünfte Roman von Mohamed Mbougar Sarr - und der erste, der in deutscher Übersetzung vorliegt. Sarr gewann mit ihm den Prix Goncourt 2021, was ihn kurioserweise von seinem heimlichen Protagonisten T.C. Elimane unterscheidet. Denn dessen Roman wurde nach den Plagiatsvorwürfen nicht nur vernichtet, sondern führte auch zur Auflösung des jungen Verlags. Selbiges droht dem Hanser Verlag glücklicherweise also nicht. Wäre auch unfair, denn der Verlag legt sich für Sarrs Werk so richtig ins Zeug - inklusive digitaler Schnitzeljagd, einem wunderbar schillernden Buchumschlag und den beiden Übersetzer:innen Holger Fock und Sabine Müller.

Und dieser Aufwand hat sich durchaus gelohnt, denn "Die geheimste Erinnerung der Menschen" ist ein über weite Strecken sehr gelungener Roman, der vor allem formal immer wieder aufs Neue überrascht und überzeugt. Sarr springt wild zwischen 80 Jahren französischer und afrikanischer Literaturgeschichte hin und her und verliert dabei selten einmal den Faden. Er vermischt Tagebucheinträge mit Literaturkritiken, Briefen und erzählerischen Passagen, folgt einem jungen jüdischen Verleger in den Widerstand des Zweiten Weltkriegs, begibt sich auf magische Spurensuche in senegalesischen Dörfern und verfolgt mordende Geister. Dass er sich in diesem "Labyrinth des Erzählerischen" nicht selbst verläuft, ist wohl die größte Leistung des Autors.

Von der Leserschaft fordert er dabei allergrößte Aufmerksamkeit. Denn bei fehlender Konzentration dürfte es schwierig werden, sofort zu entschlüsseln, welche Figur eigentlich gerade erzählt und in welchem Jahr und an welchem Ort wir uns gerade befinden. Wer sich also auf die im Klappentext erwähnte "soghafte Kriminalgeschichte" freut, könnte enttäuscht werden. Denn erstens sind klassische Genremerkmale kaum vorhanden und zweitens ist "Die geheimste Erinnerung der Menschen" eher ein literarisches Vexierspiel. Ein anspruchsvoller "Schatten des Windes" oder eine rätselhafte Identitätssuche à la "Nach einer wahren Geschichte" von Delphine de Vigan in uns fremden Welten.

Ein Kritikpunkt ist die Länge des Werkes mit seinen knapp 450 Seiten. Denn gerade zu Beginn des letzten Drittels schafft es Mohamed Mbougar Sarr nicht durchgehend, die Aufmerksamkeit der Leser:innen hochzuhalten. Hier wirkt der Roman mit seinen innerhalb eines Absatzes wechselnden Erzählperspektiven und seiner senegalesischen Gesellschaftskritik bisweilen etwas überambitioniert. Zudem sorgten die zahlreichen Charaktere mit ihren zumeist kurzen Auftritten dafür, dass sich zumindest bei mir letztlich selten einmal eine emotionale Bindung zu ihnen einstellen wollte.

Dennoch ist es lohnenswert, sich gemeinsam mit Diégane auf die Suche nach der "geheimsten Erinnerung der Menschen" zu begeben. Denn mit seiner Themenvielfalt und seiner Komplexität schafft es Sarr nicht nur, den Intellekt der Leser:innen herauszufordern, sondern richtet den Blick auch auf aktuell relevante Themen wie Identität, Rassismus, Kolonialismus - und natürlich Literatur und ihre Kritik. Sarr persönlich wünsche ich, dass auch die deutsche Leserschaft zukünftig noch von ihm hören wird. Sei es in seinen neuen Romanen oder in den spannend klingenden Vorgängern wie "De purs hommes". Schließlich soll sich in 40 Jahren niemand auf die Suche eines einst bekannten jungen Autors aus dem Senegal begeben müssen, der längst in Vergessenheit geraten ist.

Bewertung vom 30.11.2022
Verräterkind
Chalandon, Sorj

Verräterkind


ausgezeichnet

Als der Erzähler im zarten Alter von zehn Jahren von seinem Großvater erfährt: "Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite", ist das eine solch prägende Information, dass sie das weitere Leben des Jungen erheblich beeinflussen wird. Noch dazu, weil der Großvater ergänzt, er sei ein "Verräterkind". Ein Begriff, der nicht nur den Vater brandmarkt, sondern auch das Kind. Dabei hatte ihm der Vater doch ausführlich über seine Heldentaten in der französischen Résistance berichtet. Was macht es mit einem Menschen, wenn er erkennt, dass sein Vater ihn jahrelang belogen hat? Wie fühlt es sich an, ein "Verräterkind" zu sein? Darüber schreibt Sorj Chalandon in seinem neuesten gleichnamigen Roman, der in der deutschen Übersetzung von Brigitte Große jetzt bei dtv erschienen ist. Dass "Verräterkind" als Autofiktion und damit als äußerst persönliches Werk angesehen werden kann, erfahren die Leser:innen schon in der Widmung.

Bereits das erste Kapitel zieht der Leserschaft mit ungemeiner Wucht den Boden unter den Füßen weg. Der Ich-Erzähler reist im April 1987 nach Izieu, um sich auf die Spuren der 1944 aus dem dortigen Kinderheim deportierten jüdischen Kinder und ihrer Betreuer:innen zu begeben. Er bereitet sich auf seine Reportage über den Gerichtsprozess gegen den deutschen Gestapo-Leiter Klaus Barbie vor, jenen "Schlächter von Lyon", der unter anderem auch für diese Deportation verantwortlich war. Unschwer sind bereits hier die Gemeinsamkeiten zwischen Sorj Chalandon und dem Ich-Erzähler zu erkennen, denn für diese Reportage wurde der Autor und Journalist 1988 mit dem Albert-Londres-Preis gekrönt. Chalandon erzählt in kurzen, pointierten Sätzen und macht das Grauen von Izieu unmittelbar deutlich. Er findet in einer tieftraurigen Szene die Schultafel eines getöteten Kindes mit dem Wort "Apfel" und richtet verzweifelt später in einem eindringlichen "Du" das Wort erstmals direkt an seinen Vater: "Warum wurdest du zum Verräter, Papa?" Fast scheint es, als könnte dieses erste Kapitel die Grundlage des gesamten Romans sein.

In der Folge verknüpft Chalandon äußerst klug und geschickt die zwei entscheidenden Prozesse des Buches miteinander. Abwechselnd erzählt er vom Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie und seinem eigenen, inneren Prozess: das Leben als Kind eines Lügners und Hochstaplers. Denn tatsächlich entpuppt sich die Geschichte des Vaters als so unglaublich, dass sie allein für einen mehrere hundert Seiten starken Roman ausgereicht hätte. Vater Jean wechselte im Zweiten Weltkrieg nämlich ständig die Seiten und Uniformen. Von französischen Legionären im Kampf gegen den Bolschewismus zur französichen Armee, von der deutschen Uniform zur französischen Résistance und wieder zurück. Ganz nebenbei erhält man zudem als Leser:in dabei einen hervorragenden Überblick über die verschiedenen politischen Strömungen und Bewegungen im besetzten Frankreich. Die Volten und Desertationen des Vaters sind so widersprüchlich, dass man ihnen kaum folgen kann. Und auch der Ich-Erzähler weiß gar nicht mehr, welche der zahlreichen Geschichten aus seiner Jugend er überhaupt noch glauben kann.

So leistet sich "Verräterkind" in der Darstellung der Figuren seine einzige kleine Schwäche, die aber aufgrund der zahlreichen Stärken kaum ins Gewicht fällt. Denn der Vater wird nahezu durchgehend als ungebildeter Taugenichts dargestellt und auch die Mutterfigur wirkt zwar warmherzig, aber äußerst schwach und einfach gestrickt. Es mag zwar keine positive Eigenschaft sein, aber wenn ein Mensch sich über mehrere Jahre immer wieder aus lebensbedrohlichen Situationen befreit, indem er als "Wendehals" seine Fühler mal in diese, mal in jene Richtung ausstreckt, so ist es doch kaum eine Figur, die nichts kann und nichts auf die Reihe bekommt. Zudem dauert es geschlagene 295 Seiten, bis einmal so etwas wie eine zärtliche Szene zwischen Vater und Sohn aufkommt. 

Besonders stark sind die Szenen, in denen der Ich-Erzähler über seinen Vater und sich selbst sinniert. Still lässt Chalandon hier visuelle Eindrücke und Geräusche poetisch in seine ansonsten doch so prägant-schmerzhaften Sätze einfließen. Überhaupt dominiert der Schmerz, der auch für mich fast körperlich spürbar war. Diese Verletzungen und Zweifel, die Ängste und die Wut.

Und auch das Finale gelingt Chalandon brillant. Die letzte Schlüsselszene ist so bewegend und vieldeutig konstruiert, dass man als Leser:in in einem Rausch aus Trauer und Erstaunen versinkt, nur um mit dem Umblättern auf die letzte Seite des Romans wieder in eine ganz andere Richtung gelenkt zu werden. 

Insgesamt ist "Verräterkind" ein grandioser Roman, der mit Sicherheit nicht zu Unrecht für den Prix Goncourt nominiert war. Intensiv, schmerzhaft, berührend, spannend und lehrreich lässt er die Leserschaft ungläubig zurück. Mit seinen zentralen Themen Schuld, Verrat, Schmerz und Moral leistet er auch mit Blick auf die heutige Gesellschaft einen wertvollen und unbedingt lesenswerten Beitrag.

Bewertung vom 24.11.2022
Gassengeflüster
Sommerfeldt, Albrecht

Gassengeflüster


ausgezeichnet

Dirnen, Vagabunden, Bettler. Wer die bisherigen drei Historischen Romane von Albrecht Sommerfeldt kennt, weiß, dass sich der Hamburger Autor gern auf die Seite der Schwachen und Hilfsbedürftigen schlägt. In seinen Geschichten regieren Schmutz und Armut, manchmal auch Gewalt und ein wenig Spuk. So auch im jüngst erschienenen Erzählband "Gassengeflüster", mit dem Sommerfeldt die Pause bis zu seinem neuen, für das nächste Jahr geplanten Roman "Sold und Sühne" gewohnt kreativ und spannend überbrückt.

Vier mehr oder weniger lange Erzählungen zwischen 35 und 90 Seiten beinhaltet das "Gassengeflüster". Während der Auftakt "Wer anderen eine Grube gräbt" mit seinem vor allem atmosphärisch gelungenem Leichengefledder noch stark an Sommerfeldts Debüt "Von Huren, Bettlern und Glunterschratzen" erinnert, folgt die größte Überraschung des Buches mit der zweiten Geschichte "Die Witte Tulp", die nicht nur wegen ihrer Länge wohl als Herzstück des Buches bezeichnet werden kann. In Tagebuchform lässt der Autor den Naturwissenschaftler Jacob Voigt von April bis Juli 1642 die Geschichte eines Schiffbrüchigen erzählen, der gemeinsam mit einer Handvoll niederländischer Matrosen auf einer unbewohnten Insel strandet und sich dort mit zunehmender Dauer einem unerbittlichen Überlebenskampf ausgesetzt sieht. Sommerfeldt experimentiert hier mit der Sprache und lässt diesen Voigt selbst die schauerlichsten Dinge extrem nüchtern und gewählt erzählen. Das wirkt bisweilen aberwitzig und brachte mich mehrfach trotz der Grausamkeit der Geschichte zum Lachen. Gerade weil sich Voigt als recht unzuverlässiger Erzähler präsentiert und Dinge, die ihn in ein schlechtes Licht rücken könnten, bewusst verheimlicht. Zwar weist "Die Witte Tulp" im Mittelteil die ein oder andere Länge auf, was jedoch zum zähen Ringen auf der Insel so gut passt, dass ich diese nach dem überraschenden Finale kaum noch als eine solche wahrnahm.

Der zweite Höhepunkt des Buches folgt mit "Das Sichtbare vergeht..." auf dem Fuße. Der aus den "Glunterschratzen" bekannte Wanderprediger Thomas von Marburg soll in einer nicht näher bezeichneten norddeutschen Stadt aufklären, warum zwei Frauen aus dem benachbarten Stift des Nachts eine Leiche ausgraben und eine dieser Frauen dabei zu Tode kommt. Marburgs Gefängnis-Besuche bei der überlebenden Stiftsvorsteherin Dorothea von Erlmoor entpuppen sich als das eigentliche Spektakel der Erzählung. Die beiden von der Intelligenz ebenbürtigen Gegenspieler:innen mögen ein wenig an Clarice Starling und Dr. Hannibal Lecter erinnern. Nur ohne "Quid pro quo", denn Dorothea schweigt beharrlich. Das Ende der Geschichte verblüfft mit einem unerwarteten Kniff, der sicherlich lange in Erinnerung bleiben wird.

Abgerundet wird das "Gassengeflüster" mit der diesmal einzigen Geschichte aus Hamburg namens "Bis dass dein Tod uns scheidet". In ihr sieht sich der junge Gaukler Lorenz einem moralischen Dilemma ausgesetzt, als er nach einem Einbruch ein "schrecklich nettes" Ehepaar trifft und entscheiden muss, wem er trauen kann. Eine Frage, die über Leben und Tod entscheidet...

"Gassengeflüster" ist ein insgesamt überzeugender Erzählband, in dem jede Geschichte für sich punkten kann. Atmosphärisch, spannend und augenzwinkernd lädt Albrecht Sommerfeldt damit alte und neue Leser:innen ein, sich den düsteren Gestalten in den Gassen der frühen Neuzeit anzuschließen. Mich haben vor allem die beiden mittleren Erzählungen überzeugt, die mehr als nur ein Appetithappen auf den nächsten Roman sind. Wobei zu viel Appetit auch nicht gut ist, wie einige Figuren in diesem Buch eindrücklich zeigen. Denn bei der Lektüre bleibt einem auch schon mal das Lachen im Halse stecken...

Bewertung vom 21.11.2022
Mithu Sanyal über Emily Brontë / Bücher meines Lebens Bd.2
Sanyal, Mithu

Mithu Sanyal über Emily Brontë / Bücher meines Lebens Bd.2


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"Out on the wily, windy moors, we'd roll and fall in green." Für nicht wenige Kinder und Jugendliche der 1970er- und 1980er-Jahre dürften diese Worte aus Kate Bushs Song "Wuthering Heights" aus dem Jahre 1978 die erste Begegnung mit einem der großen Klassiker der Weltliteratur gewesen sein. So auch für Mithu Sanyal, die in der neuen, von Volker Weidermann herausgegebenen Reihe "Bücher meines Lebens" eben jenes "Sturmhöhe" von Emily Brontë von 1847 als "lebensprägende, lebensverändernde Kraft" bezeichnet. Sanyal setzt sich in "Mithu Sanyal über Emily Brontë" äußerst intensiv und persönlich mit der früh gestorbenen Autorin und ihrem einzigen veröffentlichten Roman auseinander. Und macht ganz nebenbei Lust darauf, das Werk wieder und wieder lesen zu wollen - in möglichst vielen der zahlreichen deutschen Übersetzungen.

175 Jahre ist die Erstveröffentlichung von Brontës "Wuthering Heights" nun her. Und so ist es nicht überraschend, dass es zum Jubiläum wieder einmal in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Sei es durch die knallbunte neue Ausgabe der "Penguin Edition" vor einigen Monaten, durch die auch ich endlich zur Erstlektüre dieses Meisterwerks fand. Sei es durch die kürzlich ausgestrahlte TV-Doku auf ARTE, durch den diese Woche in den deutschen Kinos startenden Film "Emily" von Frances O'Connor - oder eben ganz besonders auch durch Mithu Sanyal.

Bei Kiepenheuer & Witsch sind bislang zwei Bände der "Bücher meines Lebens" veröffentlicht worden. Neben dem "Sturmhöhe"-Band setzt sich Florian Illies mit Gottfried Benn auseinander. Herausgeber Weidermann geht es um eine von Autor:innen zusammengestellte "Bibliothek der Bücher des Lebens", so erfahren wir es im Vorwort des ehemaligen Gastgebers des Literarischen Quartetts. Sanyals Lobgesang auf "Sturmhöhe" habe dabei eine zentrale Rolle eingenommen.

So können wir Mithu Sanyal also doppelt dankbar sein. Zum einen, weil sie damit offenbar den Startschuss dieser ambitionierten neuen Buchreihe gegeben hat. Und zum anderen, weil sie "Sturmhöhe" dabei so eindringlich und neuartig betrachtet wie wohl niemand im deutschen Sprachraum zuvor.

Nach einer Einführung ihrer Beweggründe stellt die "Identitti"-Autorin das Werk und Emily Brontë kurz und informativ vor und unterteilt "Sturmhöhe" im Anschluss in die für sie zentralen Themenkomplexe "Sex", "Class", "Race" und "Ghosts". Wer hier eine trockene literaturwissenschaftliche Abhandlung befürchtet, liegt falsch. Zwar ist Sanyals Quellenarbeit durchaus umfangreich und fundiert, doch erzählt sie darüber so unterhaltsam und persönlich, dass man fast das Gefühl bekommt, selbst wieder in "Sturmhöhe" eintauchen zu können. Dabei ist dem Text die Emotionalität der Autorin stets anzumerken, wodurch man ihr leichten Herzens auch die ein oder andere Flapsigkeit verzeiht.

Besonders gut gelingt ihr das Buch in den Momenten, in denen sie ihre Identifikation zu den Figuren herstellt. Insbesondere Heathcliff wird man nach der Lektüre von "Mithu Sanyal über Emily Brontë" vielleicht mit anderen Augen sehen. Wenn man diese Figur nicht ohnehin jedes Mal unterschiedlich betrachtet. Bezeichnend dafür ist das dem "Race"-Kapitel vorangestellte Zitat der Autorin Alice Hoffman, nach dem man Heathcliff je nach Lebensalter des Lesenden ganz anders beurteilt. Ganz wunderbar ist auch, wie Sanyal den jeweils ersten Satz der zahlreichen deutschen Übersetzungen miteinander vergleicht. Da bekommt man Lust und könnte schnell dem Wahn verfallen, diesen Vergleich Satz für Satz auch mit dem Rest der "Sturmhöhe"-Übersetzungen machen zu wollen.

Apropos Wahn. Der ist natürlich auch Thema. Wie könnte es auch anders sein in einem Buch, das sich mit einem Werk auseinandersetzt, in dem Liebe und Wahnsinn, Hass und Zärtlichkeit so untrennbar miteinander verbunden sind wie Heathcliff und Cathy.

Insgesamt ist "Mithu Sanyal über Emily Brontë" ein erfrischendes und lesenswertes Buch, das einerseits Lust macht, "Sturmhöhe" unter den neu entdeckten Aspekten ein weiteres Mal zu lesen. Es sollte aber auch neugierige Erstleser:innen anziehen - für "Sturmhöhe" und für die neue Reihe "Bücher meines Lebens".