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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 102 Bewertungen
Bewertung vom 19.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


ausgezeichnet

Lenin und das junge Mädchen

Philosophenschiffe - so wurden die Schiffe genannt, mit denen russische Intellektuelle, vom Regime verbannt, um die 1920er ins Exil verbracht wurden. Auf einem solchen Schiff war auch Anouk Perlemann-Jacob, als 14 Jährige gemeinsam mit ihren Eltern verbannt aus ihrer Heimat Sankt Petersburg. Als 100 jährige durchaus amüsante und etwas schrullige doch nicht minder resolute Greisin erzählt die weltbekannte ehemalige Architektin nun dem Autor von dieser bisher beschwiegenen Etappe ihres Lebens.

Der Roman entfaltet sich als Interview zwischen dem Autor und Anouk Perlemann-Jacob, die ersteren zunächst zum Festakt anlässlich ihres Geburtstages laden lässt und ihn im Anschluss als Bewahrer nicht nur der Erfahrungen auf dem Philosophenschiff sondern auch zahlreicher Inneneinsichten und Anekdoten aus dem Russland Anfang des vergangenen Jahrhunderts, auserkoren hat. Was wir dort lesen ist nicht immer erbaulich, oft schrecklich, und doch ein wichtiges Stück Geschichte, dass uns nun in Romanform näher gebracht wird. Insbesondere die staatliche Willkür, verbreitete Armut, Gewalt und permanente Unsicherheit in der sich die Protagonistin mit ihrer Familie bewegt hat, sind durch die Struktur und Erzählweise zurückhaltend und damit noch eindringlicher beschrieben. Wie und warum ausgerechnet Lenin persönlich auf das Schiff kommt, gilt es bei der Lektüre zu entdecken.

Mir gefällt das Spiel mit Wahrheit und Lüge, das Köhlmeier mit dem Leser treibt. Auf verschiedenen Ebenen durchzieht die Dichotomie immer wieder die Erzählung, sei es in Perlemann-Jacobs Erinnerungen oder mit Blick auf den Autor, dem man glaubt, wenn er lügt und an dem man zweifelt, wenn er die Wahrheit sagt - und genau deshalb habe Anouk Perlemann-Jacob ihn auserwählt. Wahr oder nicht, das Philosophenschiff ist eine kurzweilige Lektüre, die lange nachhallt und dazu einlädt sich näher mit dieser Epoche der Geschichte zu beschäftigen.

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Bewertung vom 19.01.2024
Umweltschutz / Wieso? Weshalb? Warum? - Erstleser Bd.13
Kessel, Carola von

Umweltschutz / Wieso? Weshalb? Warum? - Erstleser Bd.13


ausgezeichnet

Ein tolles Leselern- und Mitmachbuch für kleine Klimaschützer:innen

Warum ist Umweltschutz wichtig? Warum Energie und Wasser sparen? Welche Rolle spielen Einkäufe? Welche Entscheidungen helfen der Umwelt? Diesen wichtigen Fragen widmet sich dieses tolle Buch und dies in sehr kindgerechter und animierender Weise.

Jedes Kapitel schließt mit einem zweiseitigen Leserätselteil. In den verschiedenen kurzweiligen Aufgaben werden thematisch und inhaltlich die Begriffe des Kapitels noch einmal aufgegriffen. Zur Illustration werden immer wieder gelungene Zeichnungen und Fotografien großzügig ergänzt und komplettieren so das Lese- und Lernerlebnis. Im Mittelteil gibt es noch ein Klebespiel mit passenden Stickern. Der Lernerfolg kann schließlich ganz am Ende mit einem kleinen Quiz überprüft werden, noch spielerischer gelingt dies mit dem beigefügten Leselotto, kleinen Karten mit thematisch passenden Beschreibungen für zentrale Begriffe, wie beispielsweise Gletscher und deren Abbildung.

Sehr besonders finde ich, dass selbst komplizierte Zusammenhänge, wie etwa die Bedeutung von Bäumen bei der Umwandlung von Kohlendioxid in Sauerstoff, kindgerecht, verständlich und in leichter Sprache, ergänzt mit passenden Illustrationen erklärt werden.

Erwähnenswert und als sehr gelungen ist mir auch das Schlusskapitel aufgefallen, wenn es um konkrete Maßnahmen und Selbstwirksamkeit beim Umweltschutz geht. Ganz praktische Maßnahmen zum Umweltschutz, wie Mülltrennung, umweltfreundliche Ernährung etc. ergänzen auch bereits die anderen Kapitel. So lernen schon junge Kinder, wie sie mit ihrem Handeln aber auch ihrer Stimme etwas verändern und politische Entscheidungen beeinflussen können. Damit wird das Buch nicht nur zum Leselern- und Umweltschutzbuch, sondern vermittelt quasi nebenbei auch demokratische Grundwerte und so wichtiges Engagementbewusstsein und Selbstwirksamkeit.

Insgesamt ein wunderbares Lern- und Mitmachbuch für kleine Klimaschützer:innen!

Bewertung vom 16.01.2024
Fräulein bitte zahlen
Mahlknecht Ebner, Sigrid;Weiß, Katharina

Fräulein bitte zahlen


ausgezeichnet

Südtirol - ein Sehnsuchtsort für viele Urlauber:innen! Doch was wissen wir wirklich über die bewegenden Geschichten der Menschen dahinter, die rasante Entwicklung von der Landwirtschaft zum Tourismus als großem Wirtschaftszweig? Dieses wundervolle Büchlein gibt einen Einblick in den Lebensweg von sechs Südtirolerinnen, geboren zwischen 1941 und 1968, und ihren Weg in und Erfahrungen im Tourismus in Südtirol.

Besonders interessant finde ich, dass explizit Frauengeschichten gewählt wurden, denn oft sind es gerade Frauen, die die Familien und Betriebe mit ihrer beeindruckenden Energie und Schaffenskraft mit am Laufen halten, während sie gesellschaftlich nicht selten wenig Anerkennung dafür erfahren. Neben den sehr verschiedenen Wegen in den Tourismus, risikoreichen Investitionen, den ersten Zimmern mit fließend Wasser und Freundschaften mit Gästen, kommen natürlich auch lustige Anekdoten zum Vorschein, wie der vom vermeintlichen Kardinal zu Köln.

An allen Frauen im Buch beeindruckt mich ihre Energie, Freude und unglaubliche Resilienz, mit der sie nicht nur mit einem Lächeln und tiefster Zufriedenheit ihren arbeitsreichen Alltag gestalten, sondern ebenso auch tiefe Lebenskrisen und Schicksalsschläge innerhalb der Familien meistern.

Ich habe auch die anderen Bücher der Reihe gelesen und kann diese ebenso wie das vorliegende Büchlein uneingeschränkt und unbedingt empfehlen! In jedem Sinne ist dies ein geschichtlich informatives und, mit Blick auf die dargestellten Frauen, inspirierendes Leseerlebnis!

Bewertung vom 08.01.2024
Julia
Newman, Sandra

Julia


gut

Stilistisch gelungen, doch Gewalt und Sex machen noch keine Gesellschaftskritik

1949 veröffentlichte George Orwell 1984 als dystopisches, gesellschaftskritisches Werk. Im Mittelpunkt stand Winston Smith, der im Laufe der Handlung eine Affäre mit Julia Worthing eingeht. In Julia 1984 erzählt Sandra Newman die Geschichte neu, diesmal aus der Perspektive Julias. Kann das funktionieren? Soll es das überhaupt?

Die Geschichte orientiert sich zunächst am Originaltext und entwickelt diesen aus der Perspektive Julias und insbesondere im dritten Teil auch in der Handlung weiter. Für mich funktioniert dies im Jahr 2023 nur begrenzt.

Während mich die erste Hälfte des Buchs noch interessiert die sprachlich durchaus flüssige Handlung hat verfolgen lassen, konnte der weitere Verlauf und das Ende meine Erwartungen nicht erfüllen. Was habe ich erwartet? Einen klugen gesellschaftskritischen Roman aus moderner weiblicher Perspektive, der die gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen 70 Jahre berücksichtigt und dabei geschickt an Orwells 1984 anknüpft.

Vor diesem Hintergrund hätte ich mir mehr gesellschaftspolitische und historische Reflexion von der Autorin gewünscht. Orwell hat 1984 erstmalig 1949 veröffentlicht. Damit hat er bei Ersterscheinen mit Blick auf spätere gesellschaftliche Entwicklungen eine Form von Weitsicht, intendiert oder nicht, bewiesen. Im Jahr 2023 geschrieben funktioniert das ursprünglich als Dystopie entworfene Setting nur noch sehr begrenzt. Zu sehr erinnern Praktiken und Szenen von Manipulation, Folter und seelischem wie körperlichen Missbrauch an die Realität totalitärer Systeme der Vergangenheit und staatliche Verbrechen jenseits von Rechtsstaatlichkeit seit der Ersterscheinung, auch in der Gegenwart. Indem Newman den Roman unreflektiert ohne aktuelle Gesellschaftskritik als schlichten dystopischen Unterhaltungsroman weiter konstruiert, werden die grausamen Parallelen darin in Vergangenheit und Gegenwart karikiert und damit letztlich zu Unterhaltungszwecken degradiert.

Es war für mich das erste Mal, dass ich mich emotional für ein Buch und das Weiterlesen rüsten musste. Einige Szenen in der Folter hätten für mich in der Form nicht sein müssen. Für eine Gesellschaftskritik muss und möchte ich nicht im Detail beschrieben lesen, wie ein Mensch einer Ratte den Kopf abbeißt. (Ein kleiner Spoiler, den ich mir jedoch als Triggerwarnung im Vorfeld gewünscht hätte)



Auch die große Rolle, der die Autorin Julias Sexleben einräumt, wirkte in der Intensität und Wortwahl auf mich nur begrenzt in der Handlung begründet, vielmehr scheint es wie beim Thema Gewalt primär um Effekt und Unterhaltung zu gehen. Sex und Gewalt um ihrer selbst Willen ohne tieferen Erklärungsgehalt für die Handlung sind mir vor diesem Hintergrund zu wenig und stoßen mich eher ab.



Die Charaktere waren für mich nicht immer konsistent in ihren Aussagen und Handlungen gezeichnet. Gerade das Ende wirkte auf mich konstruiert, zu viele zufällige Ereignisse, die plötzlich wie durch magische Hand einen bestimmten Weg vorzeichneten, und das im Kontrast zur absoluter Stagnation und Resignation über weite Teile des restlichen Buchs, die jedoch als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit im Originaltext durchaus passend sind.



In Orwells 1984 lag für mich das zentrale Verdienst in seiner gesellschaftskritischen Analyse. Dies kann Sandra Newman mit Julia 1984 nicht einlösen und für mich bleibt auch unklar, welche relevante Botschaft über den Originaltext hinaus Newman vermitteln möchte mit Julia, bzw. ob sie das überhaupt möchte. Die Chance mit Julia einen neuen weiblichen Klassiker, der Orwells Gesellschaftskritik aufgreift und neu schreibt, zu erschaffen, hat die Autorin leider vertan. Für mich war das Buch daher zwar interessant und grundsätzlich auch gut geschrieben, inhaltlich konnte es mich jedoch nur begrenzt überzeugen und stellt damit für mich leider auch kaum einen zusätzlichen Mehrwert zum Originaltext dar. Trotzdem lädt der Text zu einer Wiederentdeckung von 1984 und einer Reflexion autoritärer Tendenzen und Massenmanipulation mit Fakenews in der Gegenwart ein und kann damit die gesellschaftliche Debatte bereichern. Ebenso als „einfacher“ dystopischer Roman mit weiblicher Hauptrolle funktioniert der Roman, hier eben dann, wenn man ihn nicht zu Orwell ins Verhältnis setzt. Mein Fazit ist daher sehr durchwachsen, mit bedingter Leseempfehlung.

Menschen, die sensibel auf die Beschreibung von Fehlgeburten, Folterszenen und derbere Sprache in Bezug auf Sex reagieren, würde ich das Buch nicht empfehlen.

Bewertung vom 31.12.2023
Zweistromland
zu Stolberg, Beliban

Zweistromland


ausgezeichnet

Eine Identitätssuche zwischen Deutschland und Diyarbakir, zwischen Trauma und Neuanfang…

Wie leben beschwiegene Traumata in Familien fort, nehmen die Zwischenräume menschlicher Beziehungen ein und prägen so auch nachfolgende Generationen? Wie sehr beeinflusst was die Eltern waren und sind, die Identität ihrer Kinder? Wie findet man zu sich selbst durch Traumata und Schweigen der Kindheit?

In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Gesichte um Dilan, Kind kurdischer Eltern, geboren und aufgewachsen in Norddeutschland. Kurdisch, die Muttersprache ihrer Eltern, umgibt seit jeher ein Geheimnis, ihr selbst hat man es nie beigebracht. Doch Sprache ist Weltzugang. Welche Geschichte und Vergangenheit wird mit der Sprache und durch sie verborgen? Und was hat das alles mit Dilan zu tun?

Dilans Geschichte wird in drei Teilen, als Erwachsene und werdende Mutter in der Türkei, als Kind und Jugendliche in Norddeutschland und wieder als Erwachsene auf Spurensuche in Diyarbakir, erzählt. Die Handlung setzt sich dabei bruchstückhaft zusammen, erschließt sich im Hintergrund allmählich und steht damit auch sinnbildlich für Dilans Geschichte und Identität selbst.

Besonders begeistert hat mich wie die Autorin Worte für die Zwischentöne menschlicher Beziehungen und des Sich-Verhaltens und in Beziehung- Setzens zur Umwelt findet. Das Bedürfnis nach Ruhe und Mit-Sich-Selbst sein, sich über eine Konversation zu freuen, weil man den Moment des Alleinseins danach so genießt.

Das politische Thema im Hintergrund ist das Schicksal Kurdistans und seines Volkes, der die Erzählung ein Gesicht gibt und so auch einlädt mehr darüber zu erfahren.

Zweistromland ist eine leise Erzählung mit präzisen Beschreibungen der Zwischenmenschlichkeit und Identitätsfindung auf dem Weg in die Vergangenheit um sich selbst besser zu verstehen und für einen Neuanfang zu finden.

Bewertung vom 31.12.2023
Die schreckliche Adele und die Galaxie der Bizarren
Mr. Tan;Le Feyer, Diane

Die schreckliche Adele und die Galaxie der Bizarren


ausgezeichnet

Ein schrecklich schönes und lustiges Comicerlebnis für Klein und Groß

Adele, bizarr und schrecklich, und gerade deshalb gleichzeitig unglaublich liebenswert, hat eine neue Mission: sie muss die Galaxie vor Imperatorin Jade retten, die alle Planeten unterwerfen, mit Glitzer überziehen und alle Kinder gleichmachen möchte. Alles Bizarre soll verschwinden! Das kann Adele nicht zulassen, jedes Kind soll so sein können, wie es sein möchte, bizarr und liebenswert und einzigartig, wie es ist!

Damit beginnt ein kurzweiliges Comicerlebnis der besonderen Art, denn Adele reist in ihrer Mission von Planet zu Planet um die Kräfte des Bizarren zu verbünden. Dabei begegnen ihr viele alte Bekannte, Freunde und Familie und so manche Skurrilitäten, wie meterhohe Brokkolibäume oder die Limokalypse.

Besonders gefallen hat mir, dass die Geschichte nicht nur toll erzählt ist, sondern auch die Botschaft, die dabei vermittelt wird. Jede:r soll so sein können, wie er:sie möchte und gerade die Andersartigkeit ist besonders, kraftvoll und schützenswert!

Mit ganz viel schwarzem Humor, der kindgerecht umgesetzt ist, begeistert Adele sicher nicht nur Kinder! Auch die Zeichnungen sprühen nur so vor Energie und Charakter, dass es eine wahre Freude ist, die Gesichte zu verfolgen. Erwähnenswert ist auch der goldig glänzende Buchschnitt und die schöne Covergestaltung - das Buch sieht aus wie ein kleiner Schatz und ist so auch ein tolles Geschenk.

Empfehlen würde ich das Buch ab ca. 7-8 Jahre.

Bewertung vom 25.12.2023
Lindy Girls
Stern, Anne

Lindy Girls


sehr gut

Ein Leseerlebnis wie ein Tanz: 4 Frauen in einem Jahrzehnt des Aufbruchs und des Tanzes

Bereits nach den ersten Seiten von Lindy Girls taucht man in das Berlin des Jahres 1928 ein und kann die Stimmung fast schon mitfühlen, die Musik, der Tanz, man fühlt sich bei jeder Beschreibung fast wie im Tanzsaal. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Entstehung und ersten Erfolge der Tanzgruppe Lindy Girls, erzählt jeweils aus den Perspektiven von Gila, Thea, Wally und Alice. Vier vollkommen unterschiedliche Frauen, mit ihrer eigenen durch die Zeit geprägten schwierigen Vergangenheit und Herausforderungen der Gegenwart.

Sehr schön dargestellt und beschrieben finde ich die Aufbruchstimmung dieser Zeit, gerade für Frauen, Wahlrecht und weitere Veränderungen schlagen sich deutlich in einem anderen Lebenswandel, Selbstbild und auch Selbstbewusstsein wider, wobei zugleich auch die Grenzen deutlich werden. Der Autorin gelingt es auch die historischen gesellschaftlichen Problemlagen in die Geschichte einzuflechten, die schwierige tatsächliche Emanzipation der Frauen, die traumatisierten und verletzten Männer aus dem Krieg, die spanische Grippe etc. mit allen Folgen. Auch den teils schon präsenten Nationalsozialismus und wenig versteckten Antisemitismus hat die Autorin sehr gut in die sonst so heitere Handlung eingewebt und thematisiert damit auch die dunklen Seiten des Jahrzehnts.

Etwas getrübt war mein Leseerlebnis lediglich durch kleinere Logikfehler in der Handlung.

Insgesamt ist dem Roman ein guter Kontrast zwischen der Glitzerwelt des Tanzes und des goldenen Berlins und der harten Realität der Nachkriegsgesellschaft gelungen. Ich war ganz in die Geschichte eingetaucht, konnte die Musik fast hören und die Lindy Girls beim Tanzen vor mir sehen.

Bewertung vom 12.12.2023
Close to Home
Magee, Michael

Close to Home


ausgezeichnet

Was bedeutet es im lange konflikt- und gewaltgebeutelten Nordirland als Kind der Arbeiterklasse aufzuwachsen? Michael Magee erzählt von vererbten Traumata, Gewalt, Armut, Drogenmissbrauch, Vorurteilen und Diskriminierung und immer wieder Machtlosigkeit angesichts einer traumatischen Vergangenheit und einem Gesellschafts- und Sozialsystem, das im Heute dem Individuum beinahe unüberwindbare Grenzen auflegt und ein Entkommen aus der Armuts- und Gewaltspirale damit fast unmöglich macht.

Michael Magee wirft uns direkt in die Geschichte, sein Schreibstil ist flüssig und unmittelbar, erzählt aus der Perspektive von Sean, Anfang 20, aufgewachsen und lebend in einem wirtschaftlich und kulturell benachteiligten Teil von Belfast, in einer republikanischen Familie der Arbeiterklasse. Sean versucht im Laufe des Buchs sich von seiner Herkunft zu emanzipieren, ein gesundes, glückliches, seiner Neigung zur Literatur und zweifelslosen Begabung wie Intelligenz entsprechendes, Leben aufzubauen - und scheitert dabei immer wieder, an seinem Umfeld, seiner Familie, dem Gesellschaftssystem, seiner Herkunft und manchmal auch an sich selbst. Die Ich-Perspektive Seans ist sehr gut gewählt, um den schwierigen Lebensweg und das Milieu nachzuempfinden. Als Leser fühlt man mit Sean, erlebt oft die Ausweglosigkeit seiner Situation, und hofft immer wieder es möge sich irgendwo ein Horizont der Hoffnung auftun, damit Sean sein Potential wirklich leben kann. Ob das gelingen wird?

 Sehr eindrücklich wird immer wieder auch der Nordirland-Konflikt und seine ständige Präsenz im kollektiven Gedächtnis von Seans Familie und Umfeld in die Geschichte eingewoben.

Der liberalen Erzählung vom Aufstieg, in der jeder und jede es schaffen kann, wenn er oder sie sich nur genug anstrengt, setzt Magee ein allzu realistisches Bild einer Gesellschaft entgegen in der selbst härteste Arbeit oft nicht honoriert wird und dem Individuum durch erlebte wie vererbte Traumata, und ein klassenzementierendes Gesellschaftssystem massive Grenzen in seiner Entfaltung gesetzt werden. Damit ist der Roman nicht nur wirklich gute Literatur, sondern auch eine Form von Sozialstudie, die Magee mit Close to Home, hier gelungen ist. Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 08.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Wenn der Spion ausspioniert wird… Der Spion und der Verräter erzählt die wahre Geschichte des Doppelagenten Oleg Gordijewski, ursprünglich ein Mann des KGB, angeworben vom MI6.
Bereits nach den ersten Seiten scheint es unglaublich und faszinierend zugleich, dass es sich dabei um eine wahre Geschichte handelt. Es ist wie ein Eintauchen in eine Parallelwelt, die der Geheimdienste, in die uns der Autor mitnimmt. Ein Kind des KGBs als Spion des MI6 und damit Inneneinsichten in zwei der mächtigsten Geheimdienste weltweit. Ich konnte bereits nach den ersten Seiten nicht aufhören zu lesen und kaum erwarten wie die Geschichte um Oleg Gordijewski sich weiterentwickelt.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erfahren wir viel über Gordijewskis Herkunft, Familie, und damit auch Prägung und Weg zum KGB. Im zweiten Teil steht die Zeit für den KGB und als Doppelagent in London und damit auch Gordijewskis Rolle bzw. seiner Informationen im Kalten Krieg im Mittelpunkt. Im letzten Teil folgt schließlich die eigentliche Enttarnung und spektakuläre Flucht aus Russland.

Wirklich interessant sind die vielen Inneneinsichten in die Funktionsweise beider Geheimdienste. Doch auch die Geschichte des Spions und seiner Familie kommt nicht zu kurz und hilft zu verstehen, wie er zum KGB kam und auch warum der MI6 später attraktiv für ihn war.

Der Schreibstil ist sehr flüßig, immer wieder musste ich innehalten und mich erinnern, dass es sich um wahre Begebenheiten handelt, denn geschrieben ist die Geschichte um Oleg Gordijewski wie ein Roman bzw. Thriller, die Charaktere sind oft gut ausformuliert, die Umgebung detailreich geschildert.

Eine wertvolle Ergänzung und unbedingt erwähnenswert sind die vielen Originalfotos von Gordijewski, seiner Familie und Weggefährten zur Illustration der Handlung.

So wird Geschichte lebendig und macht richtig Freude beim Lesen!

Bewertung vom 06.12.2023
Eine Blume ohne Wurzeln
Chekh, Nada

Eine Blume ohne Wurzeln


ausgezeichnet

Die schmerzhafte Geschichte einer Emanzipation: Berührend, klug und unglaublich stark!

Die Österreicherin Nada wächst als zweitjüngstes von fünf Kindern in einem Wiener Gemeindebau auf. Ihre Eltern kommen aus Palästina und Ägypten und bauen sich in Österreich ein neues Leben auf. Doch obwohl Nada in Österreich geboren ist, wirkt die Community der Herkunftsgesellschaft ihrer Eltern auch in Österreich auf sie ein, engt sie ein und bringt Nada immer wieder in ein Gefühl zwischen zwei Welten.

Nada Chekh lenkt unseren Blick weg von antirassistischen Debatten hin zu den Feinheiten, die innerhalb wie außerhalb von Communities Lebenschancen einschränken, zu intra- und interkulturelle Konflikten führen und arbeitet anhand ihrer eigenen Biografie Schicht für Schicht die intersektional wirkenden Mechanismen von Benachteiligung in unserer Gesellschaft heraus. Neben einer kulturellen Dimension stellt die Autorin so auch heraus, dass ihre Erfahrungen und Status in der Gesellschaft oft in der finanziell benachteiligten Situation ihrer Familie begründet lagen.

Ein großer Fokus liegt auf der Rolle als Frau in der arabischen Community und was es bedeutet gegen diese aufzubegehren, wie Nada Chekh es getan hat. Gerade diese Passagen sind oft unglaublich bedrückend und nichts für zarte Gemüter. Doch was die Autorin schreibt ist Realität für viele Frauen, auch im 21. Jahrhundert und es ist wichtig, dass darüber gesprochen wird um für kommende Generationen etwas zum Positiven ändern. Zu diesem bedrückenden Gefühl bei mir, trug allerdings auch die unglaubliche Leistung der Autorin bei, die verschiedenen, zum Teil unsichtbaren, Prozesse und Strukturen zu beschreiben, die ihre Lebenswelt determinieren. Es braucht eben manchmal keinen offensichtlichen Zwang, damit dieser trotzdem wirksam wird und individuell fast in dergleichen Intensität erlebbar wird. Dies fand ich wirklich grandios herausgearbeitet.

Nada Chekh habe ich im Buch als unglaublich starke, kluge, talentierte und reflektierte Persönlichkeit kennengelernt, für die mir nur Bewunderung und Dank bleibt, ihre Geschichte zu teilen. Eine klare Leseempfehlung!