Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Diamondgirl
Wohnort: 
Stolberg
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 120 Bewertungen
Bewertung vom 12.07.2019
All die unbewohnten Zimmer
Ani, Friedrich

All die unbewohnten Zimmer


ausgezeichnet

Ein Buch wie ein Puzzle

In dem vorliegenden Buch von Friedrich Ani kann man, wenn man bereits Bücher von ihm gelesen hat, alte Bekannte treffen. Es sind Jakob Franck, der seinen Kollegen die meist unangenehme Aufgabe abnimmt die Angehörigen über den Tod des Opfers zu informieren, Tabor Süden, der gar kein Polizist mehr ist, sondern für eine Detektei nach vermissten Personen sucht, Polonius Fischer ein ehemaliger Mönch der jetzt Chef des K111 (bekannt als die 12 Apostel) ist und Fariza Nasri die nach einer langjährigen Pause wieder in den Dienst zurückkehrt.
Diese vier Ermittler arbeiten zusammen und doch jeder mit den eigenen Methoden an zwei Morden, die anfänglich nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Ein Polizist wird erschlagen als er zwei Kinder verfolgt, die Obst gestohlen haben und eine Frau wird auf offener Straße scheinbar ohne Motiv erschossen.
Am Anfang gibt es offensichtliche Ermittlungsansätze und Ergebnisse, aber mit jedem Kapitel kommen neue Aspekte dazu die die Situation in neuem Licht erscheinen lassen. So als hätte man in einem Puzzle ein Teil, was so aussieht als ob es passt, aber wenn man dann versucht die Lücke zu schließen, merkt man, dass da doch ein anderes hingehört.
Am Ende des Buches hat man ein stimmiges Bild über die Abläufe der Morde, die Umstände die dazu geführt haben und ein recht überraschendes Finale.
Ganz nebenbei hat man auch noch ein gesellschaftspolitisch hochaktuelles Buch gelesen, da hier u. a. Bereiche wie Migrationspolitik, Vorurteile, Rassismus, Fluch und Segen der sozialen Netzwerke, Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland etc. geschickt mit eingeflochten werden.
Der Autor schafft es mit seinem ruhigen, intensiven Erzählstil den Lesenden in seinen Bann zu ziehen und hat mich wieder einmal total gefesselt.

Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Buch, das wesentlich mehr ist als nur ein Krimi.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.07.2019
Fünf Tage in Paris
Rosnay, Tatiana de

Fünf Tage in Paris


gut

Kurz zur Rahmenhandlung: Eine 4köpfige Familie trifft sich in Paris, um den 70. Geburtstag des Vaters und gleichzeitig den 40. Hochzeitstag der Eltern zu feiern. Die Tochter kommt aus London und der Sohn, inzwischen ein bekannter Fotograf, aus Los Angeles angereist. Die Eltern selbst wohnen auf einem ländlichen Gut, das sie wiederum von den Eltern des Vaters erbten. Die Mutter stammt aus den USA.
Genau zum Zeitpunkt der geplanten Feierlichkeiten erlebt Paris eines der schlimmsten Regenereignisse seit Beginn des 20. Jhd. und versinkt immer mehr in den Fluten der unaufhörlich steigenden Seine. Dass Vater Paul während des Essens einen Schlaganfall erleidet und auch Mutter Lauren ganz plötzlich schwer erkrankt, macht die Situation nicht einfacher.

Das hätte echt was werden können, mit dieser Konstellation. Leider übertreibt die Autorin es m. E. mit den Schicksalsschlägen. Man kommt sich vor wie in einem der Katastrophenfilme der 80er, in denen möglichst viele Protagonisten möglichst viel mitmachen müssen. Statt sich auf eine Person zu konzentrieren verstrickt sich die Autorin in zahlreichen Wollknäueln und verpasst den richtigen Zeitpunkt, sich auf 2 oder 3 Farben zu beschränken. Hinzu kommen noch unverarbeitete Erlebnisse aus der Kindheit, sodass man irgendwann gar nicht mehr weiß, welchem Protagonisten es eigentlich am schlechtesten ging in seinem Leben.
Dazu gesellen sich mehr oder weniger interessante Ausführungen, wie diese oder jene Straße von Paris überflutet aussieht und wie schlimm das alles für die Bevölkerung ist. Stimmt ja auch, aber genau die Verzweiflung dieser Menschen wird außen vor gelassen und nur nebulös angedeutet. Sie wird gerne über Fotomotive vermittelt, die der berühmte Fotograf noch neben der Sorge um Vater und Mutter mitnimmt.
Vermutlich ist das Buch für Pariskenner wesentlich interessanter, ich hingegen konnte mit den meisten Namen und Schauplätzen nicht viel anfangen und mich langweilte es insgesamt, da es mir eher als Seitenfüller erschien. Der Schreibstil ist nicht schlecht, riss mich jedoch auch nicht vom Hocker.

Achtung Spoiler:
Für meinen Geschmack hat die Autorin einfach zu viel unterbringen wollen in ihrem Roman. Zwei lebensgefährlich Erkrankte reichen nicht - jemand muss noch das aktuelle Thema Homophobie bedienen und dann muss ein Beteiligter durch einen fürchterlichen Unfall behindert geblieben sein. Ach was sag ich... Fürchterlicher Unfall alleine reicht gar nicht - das kann man noch ganz, ganz grauslig ausschmücken, sodass auch eine Phobie zurück bleibt. Und stimmt... Ist noch gar keiner fremdgegangen und häusliche Gewalt nach Alkoholmissbrauch passt sicher auch noch mit rein. Dann müsste jetzt noch jemand Suizid begangen haben, der den Beteiligten ganz nah stand. So.... jetzt ist aber alles fein komplett. Obwohl... Zeuge eines Mordes - ja das rundet das Ganze noch fein ab.
Dazu noch die stattbekannten Allerweltsprobleme (als ob das noch zählen würde) wie Vater, der nicht mit Sohn spricht; Sohn, der sich unverstanden fühlt und aus der Familie flieht; Mutter, die sich ungeliebt von Vater fühlt; Tochter, die sich nicht traut sich von ihrem Mann zu trennen; Enkeltochter, die sich um ihre Mutter kümmern muss, weil die sich nicht gegen ihren Mann wehren kann; Vater der eigentlich mit überhaupt niemandem redet außer mit Bäumen etc., etc.

Insgesamt einfach viel zu viel in eine Familie und deren Geschichte gesteckt und viel zu viel gequirlt statt ruhig fließen zu lassen. Das kenne ich deutlich besser!

Bewertung vom 01.07.2019
Die Nickel Boys
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


sehr gut

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Colson Whitehead bringt den Lesenden die "schöne" Welt Amerikas wieder einmal näher. Sein Roman spielt in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Martin Luther Kings Reden beeindrucken den jugendlichen Elwood stark und er nimmt sich vieles davon zu Herzen und ist bestrebt, in dessen Sinn leben und zu kämpfen.
Obwohl erst 16, bekommt er ein Stipendium für das College. Lediglich die Anreise muss er selbst bewerkstelligen und versucht es mangels Geld per Anhalter. Leider setzt er sich genau ins falsche Auto, denn dieses ist gestohlen und er wird bei einer Kontrolle mit verhaftet und als Autodieb verurteilt. Er muss in die Besserungsanstalt Nickel Academy und seine Zukunftsträume kann er nur schwer aufrecht erhalten.
Erneut kombiniert Whitehead Fiktion und Wirklichkeit. Die im Buch geschilderte Nickel-Academy existierte nicht in Wirklichkeit, sondern lehnt sich stark an die Dozier School for Boys an, die tatsächlich in Florida existierte. Die grausame Wirklichkeit lässt sich auf der HP der Whitehouseboys im Original nachlesen. Alle Charaktere des vorliegenden Buches sind frei erfunden, was dem Wahrheitsgehalt der Vorkommnisse jedoch keinen Abbruch tut.
Nun mag man berechtigterweise feststellen, dass zumindest ähnliche Zustände zu jener Zeit auch in anderen Ländern in "Besserungsanstalten" für Jugendliche und Kinder herrschten. Dies wird sicher wahr sein und auch der Autor erwähnt hie und da, dass im Trakt der weißen Jungs ebenfalls geschuftet und gelitten wurde. Aber eben im Bereich der schwarzen besondere Ausnahmezustände herrschten. Und das hatte eindeutig rassistischen Hintergrund. Unter ähnlich schlimmen Grausamkeiten litten hierzulande z. B. Juden, in der Türkei vermutlich Kurden und Armenier, in Europa generell Roma und Sinti. Was es aber keinen Deut besser macht, denn es geht ja im Grunde nicht ausschließlich um ein Problem der Schwarzen, sondern um Rassismus im Allgemeinen.
Schwarze hatten auch in den 60ern, die so ewig ja schließlich noch gar nicht her sind, in einigen Bundesstaaten der USA einen viehähnlichen Stellenwert. War einer nicht gefügig oder gar rebellisch, versuchte man ihn gefügig zu machen und sogar auszutilgen wie ein lästiges Insekt, nur im Nickel dazu noch auf besonders grausame Weise, um die eigenen niederen Triebe noch zuvor daran zu befriedigen.
Dankbarer Weise verzichtet Whitehead auch in diesem Roman wieder auf zu viel Details und zu genaue Schilderungen. Ein solches Buch wäre für mich nur schwer erträglich, wenn ich den Protagonisten zu tief folgen würde. Er versteht es, das Unbeschreibbare anzudeuten, sodass man als Lesender trotzdem alles "versteht", jedoch eine gesunde Distanz halten kann. Ich möchte mich gar nicht mit den Protagonisten identifizieren - ich möchte sie nur beobachten und mitfühlen - nicht "mitleiden".
Der Schreibstil ist wieder hervorragend! Es macht einfach Spaß, seinen Erzählungen zu folgen, selbst wenn etwas scheinbar Belangloses geschildert wird.
Ich hoffe, dass dieses Buch, das mich gegen Ende dann auch noch richtig überraschen konnte, viele Menschen erreichen wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.04.2019
Das Haus meiner Eltern hat viele Räume
Ott, Ursula

Das Haus meiner Eltern hat viele Räume


ausgezeichnet

Das Loslassen der Kriegsenkel

Ein Problem, das auf viele der Kriegsenkel-Generation (50er/60er Geburtsjahrgang) zukommt, wenngleich nicht auf alle: Das Elternhaus muss aufgelöst und ausgeräumt werden.
Es trifft nicht auf alle zu, denn längst nicht alle der Kriegskinder-Generation hatten das Glück, ein eigenes Heim zu besitzen. Viele lebten (wie meine Eltern) in einer Mietwohnung, wo es schon aus Platzgründen deutlich weniger auszuräumen gibt als in einem Haus.
Von meinen Schwiegereltern her kenne ich jedoch auch die von der Autorin Ursula Ott beschriebene Seite der Besserverdienenden und auch bereits das Problem, ihr Haus zumindest tlw. räumen zu müssen. Da es jedoch nicht mein Elternhaus war, fiel es mir recht leicht.
Bei der Lektüre dieses Sachbuches - ist es das oder doch eher eine Art Biografie eines Auszugs? - fand ich jedenfalls genügend Episoden, die mir absolut vertraut waren. Teils durchaus amüsant festzustellen und oft musste ich lachen deswegen.
Absolut interessant waren die aufschlussreichen Beobachtungen zum Thema Kriegsenkel - ein Begriff, der mir völlig neu war. Die hierzu gemachten Beobachtungen fachlich versierter Menschen (Psychologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler) fand ich allesamt schlüssig und nachvollziehbar. Nachvollziehbar schon deshalb, weil ich sie auch bei mir selbst beobachten kann.
Letztlich bietet das Buch eine Reihe hilfreicher Tipps, womit ich nicht unbedingt die im Anhang aufgeführten und immerhin über 30 Seiten umfassenden Tipps zur Weiterverwendung bzw. Entsorgung gefundener Sachen meine. Einzelne Hinweise innerhalb der biografischen Erzählung bargen für mich Schlüsselerkenntnisse: Aus einer Sammlung gleichartiger Gegenstände 1 oder 2 "warme" heraus picken und behalten, der Rest kommt weg. Wenn man, wie ich als Kriegsenkel, kaum bis gar nicht wegwerfen kann, dann muss man großzügig verschenken. Notfalls auch an Unbekannte durch auf die Straße stellen. Vor allem von den Dingen trennen, die man nur als kalt erinnert und die einem persönlich wirklich gar nichts bedeuten. Kurz nochmal anschauen, innehalten und ggf. drüber reden und dann ab dafür!
Frau Ott schreibt einen wirklich gut lesbaren Stil und da sie größtenteils von eigenen Erfahrungen schreibt, kann sich der Lesende gut darauf einlassen und sich auch mit diesem haarigen Thema auseinander setzen. Etwas schade finde ich, dass die eigentliche Erzählung lediglich 140 Seiten umfasst. Aber vielleicht wäre auch viel mehr gar nicht zu schreiben gewesen.
Fazit: Absolut empfehlenswert für Interessierte mit anstehendem Räumungsproblem bei den Eltern.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.04.2019
Rückwärtswalzer
Kaiser, Vea

Rückwärtswalzer


ausgezeichnet

Ein außergewöhnlicher Roman

Lorenz ist eine Art verkrachte Existenz. Er hat nur bescheidenen Erfolg als Schauspieler, führt eine nicht gerade glückliche Fernbeziehung und weiß wieder einmal nicht, wie er seine nächste Miete bezahlen soll. Also kommt er für einige Zeit bei Onkel und Tante unter, in der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Mirl, Wetti und Hedi sind 3 in den 40ern geborene Schwestern. Alle leben in Wien - trotz separater Wohnungen - praktisch im Haushalt von Hedi und deren Mann Willi zusammen. Als Willi eines Tages überraschend stirbt, werden die Schwestern vor ein Problem gestellt, denn Hedi hat ihrem Mann immer versprochen, dass er einmal in seiner Heimat Montenegro beerdigt werden würde. Da für eine Überführung das Geld fehlt, macht sich Lorenz mit seinen 3 Tanten und einem tiefgekühlten Onkel Willi im Panda auf den über 1000 km langen Weg nach Montenegro.

Eingangs möchte ich gleich erwähnen, dass diese Reise eigentlich nicht das Kernstück des Romans darstellt, sondern eher einen Rahmen für längst Vergangenes. Nicht jeder Roman, der von einer Reise handelt, ist ein Roadmovie.
Aktuelle Kapitel lösen sich mit Rückblenden in die Vergangenheit ab. So gleitet man immer mehr in die Geschichte der Geschwister Prischinger und Willis hinein und langsam ergibt sich ein komplexes Bild, wie alles zusammen hängt. Auch Lorenz lernt einiges über sich selbst und seine Mitmenschen.
Vea Kaiser beherrscht bravourös die Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Groteske. Ihr Roman gleitet nie ins Comedyhafte ab sondern er sprüht vor charmantem, typisch österreichischem Witz. Die Charaktere sind so tief und liebevoll entwickelt, dass man sie förmlich vor sich sieht. Die Anerkennung in der Gesellschaft suchende Mirl, bei der immer alles herausgeputzt und 1a aussehen muss. Die recht unkomplizierte Hedi, die von allen Schwestern am meisten Schuldgefühle mit sich herum schleppt oder die etwas spezielle Wetti, für die Natur immer wichtiger war als menschliches Miteinander. Eines jedoch eint die Schwestern: ihr Familiensinn und das Zugehörigkeitsgefühl zu den 3 weiblichen Musketieren. Und Willi ist ohnehin ein Goldstück!
Vea Kaisers Schreibstil ist unglaublich locker und gekonnt. Man fühlt sich sofort mitgenommen und legt das Buch nur höchst ungern aus der Hand. Die Dialoge sind spritzig und das Geschehen - vor allem das der Vergangenheit - fesselt bis zur letzten Seite.
Für mich ist dieses Buch das bisherige Highlight des Jahres!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.03.2019
Stella
Würger, Takis

Stella


sehr gut

Kaum ein Buch in den vergangenen Jahren spaltet die Leserschaft - oder eher: die Literaturkritiker - so sehr, wie Takis Würgers neuer Roman. Das liegt zu einem großen Teil sicher daran, dass er ausgerechnet eine Persona non grata als Titelheldin erwählte. Dazu kommt noch, dass dieser Titelheldin die Hauptrolle gar nicht zu kommt.
Protagonist des Romans ist der fiktive Friedrich (im Buch gerne auch Fritz genannt), den die Lesenden ab den einleitenden Jugendjahren durch das komplette Jahr 1942 begleiten. Friedrich ist Schweizer und wächst dort in wohlsituierten Verhältnissen auf.
Auf den ersten 35 Seiten erfährt man, wie er aufwuchs und wie er unter seiner alkoholkranken Mutter litt, die ihm erst sehr nah war, dann aber größtenteils ignorierte oder gar missachtete, da er wegen eines Vorfalls keine Farben mehr sehen konnt. So konnte er unmöglich die von ihr gesteckten Pläne, ein großer Maler zu werden, erfüllen. Er wuchs in einer Art Vakuum zwischen Bediensteten und dem leider nur selten anwesenden Vater auf. So erklärt sich auch die für ihn typische Naivität und Blauäugigkeit gegenüber anderen Menschen.
Nach Schulabschluss entscheidet er, nach Berlin zu gehen, da er unglaubliche "Gerüchte" über den dortigen Umgang mit Juden hörte. Er will diesen "Gerüchten" nachgehen und sie am liebsten als Lügen enttarnen. So kommt er im Januar 1942 nach Berlin und lernt Kristin kennen in die er sich verguckt, von ihr den ersten Kuss bekommt und mit ihr eine Affaire beginnt. Fritz lebt trotz Kriegszeit sehr kommod von Vaters Geld im Grand Hotel und kann sich etwas leisten. Kristin findet natürlich Gefallen daran sich verwöhnen zu lassen.
Eines Tages kommt sie misshandelt nach Tagen der Abwesenheit zurück und offenbart ihm, dass sie eigentlich Stella Goldschlag heiße und Jüdin sei. Ab da beginnt Friedrich, endlich erwachsen zu werden und seinen Blick zu schulen. Sein Blick, der offenbar noch viel weniger sieht als nur keine bunten Farben. Und er lernt auch, besser hinzuhören. Er lernt Nuancen zu hören und zu sehen.
Obwohl er Stella beisteht und zu ihr hält, erkennt er immer mehr, welches Drama sich um ihn herum abspielt und seine rosa Brille bröckelt immer mehr. Er erkennt langsam das Unrecht und die Verlogenheit seines Umfelds und hadert damit, dass er selbst kaum Handlungsspielraum hat und Stella nicht einfach ihrem Schicksal überlassen, aber auch nicht herausreißen und mitnehmen kann.
Das Buch ist - von der Einleitung abgesehen - in Monate unterteilt, die alle mit einer Zusammenfassung tatsächlicher Begebenheiten des Monats beginnen. Gespickt mit je einem Göbbels-Zitat aus dessen 10 Geboten für jeden Nationalsozialisten. Diese von der Handlung gelösten Zusammenfassungen fand ich ausgesprochen gelungen. Eine wunderbare Art darzustellen, dass eben nicht nur Krieg und Not herrschte sondern auch "normales" Leben auf dem Erdball. In Abständen stehen kursiv gesetzte Passagen aus dem Gerichtsprozess gegen Stella Goldschlag. Auch dies fand ich aufschlussreich und passend.
Sicher lässt sich darüber streiten, ob man eine solche Person für einen Roman als titelgebenden Protagonisten wählen sollte - dafür gab es von mir leichten Punktabzug - denn sie dient nur dazu, Käufer zu generieren, die dieses Buch sonst nicht erstanden hätten. Auch wenn Fritz Liebe zu Stella Kern des Geschehens ist, ist es dennoch für mich kein Liebesroman. Vielmehr kann man erahnen, wozu Menschen fähig sind, wenn sie Todesangst, auch um ihre Liebsten, haben. Wie sehr man die Augen schließen oder wegsehen kann, wenn man die Wahrheit nicht wissen will. Weil man ahnt, dass man mit ihr nicht leben könnte auf Dauer.
Dies ist ein Roman, bei dem man sich mit keinem der Protagonisten identifizieren möchte. Ganz im Gegenteil. Aber verstehen kann man zumindest. Sogar gegenüber jemandem wie Stella kann man Verständnis aufbringen, völlig egal, wie nah sie an der tatsächlichen geschrieben wurde.
Der Schreibstil ist gekonnt und mitreißend.
Mir hat es sehr gut gefallen.

Bewertung vom 20.02.2019
Der Hunger der Lebenden / Friederike Matthée Bd.2
Sauer, Beate

Der Hunger der Lebenden / Friederike Matthée Bd.2


sehr gut

Spannende Zeitreise

Hitzesommer Juni 1947 - Friederike Matthée arbeitet bei der weiblichen Polizei in Köln, als im Umland die Gutsbesitzerin Ilse Röder brutal ermordet auf ihrem Hof aufgefunden wird. Friederike fährt zur Unterstützung der dortigen Polizei zum Tatort, da die Hauptverdächtige ein junges Mädchen ist. Obwohl die Indizienlage ziemlich eindeutig ist, hat Friederike Zweifel am vermuteten Hergang der Tat und der Schuld der vermeintlichen Täterin. Also stellt sie Ermittlungen an und erweitert diese im Laufe der Geschichte, als Richard Davis, ein Lieutenant der Royal Military Police, sich erneut in Köln einfindet, um den Tod von drei britischen Soldaten aufzuklären, die in den letzten Kriegswochen mit ihrem Flugzeug abstürzten und grausam ermordet wurden. Sie wird ihm als Unterstützung zugeteilt und bald finden sie heraus, dass beide Fälle irgendwie zusammenhängen. Richard Davis, der als jüdischer Junge nach England flüchtete, fühlt sich derweil ständig hin und her gerissen zwischen seinem Hass auf Deutschland und der Zuneigung zu Friederike, die er von seinem letzten Einsatz bereits kennt.

Dies ist bereits der zweite Roman um die Polizistin Friederike Matthée und Lt. Richard Davis. Beate Sauer schafft es, das Köln der Nachkriegszeit auferstehen zu lassen. Ohne melodramatisch zu werden vermittelt sie dem Leser die anstrengende Hitze, den ständig vorhandenen Hunger, das Gefühl, nie satt zu werden und die damals herrschende Ohnmacht gegenüber der Verwahrlosung vieler elternloser Kinder.
Obwohl die Story erfunden ist, besteht sie doch aus zusammengesetzten Teilen wahrer Begebenheiten, die sich so oder ganz ähnlich zugetragen haben. Genauere Angaben schließen sich im Nachwort an, genau wie ein Personenverzeichnis, was ich aber durchaus hätte entbehren können, trotz der zahlreichen mitwirkenden Personen.
Obwohl die Handlung manchen Bogen schlug und der Personenkreis nicht gerade klein war, machte es mir überhaupt keine Mühe, der Geschichte zu folgen. Der Schreibstil kommt ausgesprochen ungezwungen und schnörkellos daher und verrät gutes Gespür für Situationen. Der Spannungsbogen wurde während der gesamten Geschichte gleichmäßig gehalten. Lediglich der Schluss der Ermittlungen kam mir ein wenig zu plötzlich und ruppig daher, so, als hätte nur noch eine bestimmte Seitenzahl für die Auflösung zur Verfügung gestanden.
Insgesamt hat mich die spannende Story sehr gut unterhalten und ich werde mir sicher den ersten Teil auch noch zulegen. Ein guter Filmstoff und ich hoffe auf einen Nachfolgeband. Weniger weil mich die Liebesgeschichte interessieren würde, dafür die Nachkriegszeit in meiner Heimatstadt umso mehr.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.01.2019
Agathe
Bomann, Anne Cathrine

Agathe


ausgezeichnet

Klein aber fein!

Obwohl das Buch nach Agathe benannt ist, spielt sie eher eine Nebenrolle in diesem kleinen Büchlein.
Der Erzähler und gleichzeitig Protagonist dieses Romans ist ein fast 72jähriger Psychologe oder Psychiater. Nach jahrzehntelanger tlw. eintöniger getaner Arbeit ist er eindeutig müde und vor allem geistig erschöpft vom täglichen Geschäft. Er interessiert sich kaum noch für seine Patienten und lässt die Gespräche über sich ergehen, während er die Zahl der noch zu bewältigenden Gespräche akribisch zurück zählt wie einen Countdown. Er hat sich vorgenommen, nach seinem 72. Geburtstag die Praxis zu schließen und in den Ruhestand zu gehen.
An diesem Punkt betritt Agathe seine Praxis und auch sein Leben. Obwohl er keinen neuen Patienten mehr aufnehmen will setzt sie sich durch und erkämpft sich einen regelmäßigen Platz in seinem Terminkalender.
Das Buch spielt 1948 in einem Pariser Vorort, was bei der Lektüre zu berücksichtigen ist.
Man beginnt dieses Buch zu lesen und ist zunächst etwas verwirrt vom Protagonisten der Geschichte, weil man seinen Gedankengängen leicht befremdet gegenüber steht. Es hat erst einmal so gar nichts Angenehmes an sich, wenn man begreift, dass ihn seine Patienten überhaupt nicht mehr berühren. Er be- und verurteilt sie teilweise und hat ganz offenbar auch nicht den Hauch von Lust, ihnen bei ihren Problemen zu helfen. Er ist zutiefst davon überzeugt, es auch gar nicht zu können und in mancher Situation einfach nur hilflos überfordert.
Warum Agathe überhaupt den Prozess einer Veränderung in ihm anzuwerfen vermag, das bleibt ein Geheimnis dieses Buches. Ist es ihr Parfum oder ihre Verbissenheit bei der Terminplanung, etwas an ihrer äußeren Erscheinung oder Seelenverwandtschaft - man weiß es auch nach der Lektüre nicht. Auf jeden Fall kommt etwas ins Rollen und man erlebt die Veränderung des Erzählers in kleinen, bewegenden Schritten mit.

Die Sprache dieses Buches ist sehr angenehm zu lesen. Keine extralangen, verschachtelten Sätze, dafür jedoch sehr schöne, fast poetische Sätze. Immer ein klein wenig melancholisch laden sie trotzdem auch ein, die eigenen Gedanken auf den Weg zu schicken. Es ist definitiv ein Buch, das man langsam genießen möchte und nicht verschlingt wie einen Pageturner. Ganz im Gegenteil fiel mir irgendwann auf, dass ich es bewusst langsam las und manches Mal auch zurück blätterte, weil ich eine Stelle noch einmal lesen wollte. Um alles ganz genau mitzubekommen und nichts zu verpassen. Denn dieses Buch bietet reichlich Raum für eigene Spekulationen. Vieles bleibt ungeklärt und auch das Ende passt sich dem an. Es bietet Platz für einige Möglichkeiten, die passieren könnten.
Obwohl die Geschichte vom Protagonisten erzählt wird sind die übrigen Charaktere sehr gut dargestellt und ausgeformt. So weit das eben geht, wenn man sie nur von jemandem beschrieben bekommt, der sie nur von außen betrachten kann.
Man hat das Gefühl, dass jeder Satz genau so da steht, wie er stehen muss. Nichts ist zu viel geschrieben sondern auf das Wesentliche fokussiert. Alles Unnötige wird vermieden aber wenn nötig auch eine Kleinigkeit genau beschrieben.
Es berührt den Leser, ohne auch nur einmal kitschig zu werden. Stattdessen bietet es einige Aha-Effekte dank kleiner, philosophisch anmutender Gedankengänge oder Dialoge. Es handelt auch von Liebe, aber es ist alles andere als ein Liebesroman. Man kann es schlecht beschreiben - man muss es schon lesen...

Mir hat das Buch wirklich gut gefallen. Obwohl ich mir 100 Seiten mehr gewünscht hätte, die durchaus für weitere Informationen an den neugierigen Leser hätten genutzt werden können.

Bewertung vom 13.12.2018
Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21
Ani, Friedrich

Der Narr und seine Maschine / Tabor Süden Bd.21


ausgezeichnet

Ani und seine Bücher

Tabor Süden möchte verschwinden. In seinem letzten Fall wurde sein Freund und Kollege getötet und er kommt damit überhaupt nicht zurecht. Allerdings weiß er auch nicht so recht, wohin der denn wohl verschwinden soll. So steht er lange am Bahnhof und wartet auf eine plötzliche Eingebung.
Statt der Eingebung taucht seine ehemalige Cheffin auf und möchte, dass er einen letzten Fall übernimmt. Die Suche nach dem verschwundenen Cornelius Hallig, der plötzlich genau so verschwand, wie Süden es geplant hatte. Langsam und konzentriert nimmt er die Suche auf.

Was macht sie so besonders, die Bücher des Friedrich Ani? Ich kann es nicht mal sagen. Ist es der bedächtige Verlauf der Handlung? Oder doch die extrem genaue und feine Art zu schreiben? Ist es die Beharrlichkeit, mit der er auch feinste Verstrickungen zu lösen pflegt, sodass sich am Ende eine fein gesponnene Geschichte ergibt, die so leise ist und doch so eindringlich auf seine Leser wirkt?
Bei diesem Buch gerät man in einen Schwebezustand. Man ist zugleich mit Hallig unterwegs in dessen Zeitrückblicken und im Jetzt, wo er alles daran setzt, unterzutauchen und einen letzten Plan umzusetzen. Und man ist mit Süden unterwegs, der sich mühsam sein Puzzle zusammensetzt indem er Dank Erfahrung und Blick hinter die Stirn seiner Zeugen Teilchen für Teilchen entwickelt und zusammenbringt. Und er erkennt immer mehr Parallelen zwischen sich und Hallig. Beide scheinen innerlich aus der Zeit gefallen und ohne irgendeine Hoffnung für die Zukunft zu sein.
Dieses Buch ist ganz sicher keine Kriminalgeschichte, sondern wesentlich eher ein Seelenstriptease der Protagonisten. Es ist auch kein typischer Tabor Süden Roman, sondern erinnert in seiner düsteren Art wesentlich eher an die Jakob Franck Romane.

Fazit: Wer sich darauf einlassen kann, ein Buch auch einmal langsamer zu lesen und keine Action zu erwarten, der bekommt hier ein ganz feines Häppchen zu lesen!

Bewertung vom 08.11.2018
Gangsterblues
Bausch, Joe

Gangsterblues


gut

Fiktive wahre Geschichten aus dem Knast

Joe Bausch, bekannt aus dem Kölner Tatort, arbeitet seit über 30 Jahren als Mediziner in der JVA Werl. Im Laufe seines Berufslebens hat er sicherlich eine Menge erlebt und gehört. In seinem neuen Buch lässt er in 12 Knast-Geschichten die Leser am Leben hinter Gittern teilhaben.
Man erfährt so einiges aus dem für Normalbürger verborgenen Gefängnisalltag, sowohl der Insassen als auch des Wachpersonals und natürlich des Mediziners selbst. Die jeweilige Haftursache, sprich das begangene Verbrechen, wird jeweils kurz erläutert - nicht mit überflüssigem Voyeurismus, sondern angenehm sachlich. Er erwähnt auch Schwachstellen des Systems und vor allem Schwächen der Menschen innerhalb dieses Systems.

Die Stories sind durchweg interessant zu lesen und Bausch schreibt so, wie er diese Stories auch live erzählen würde. Das passt natürlich auch irgendwie, denn er ist schließlich kein Schriftsteller. Alles andere würde man ihm vermutlich nicht abnehmen.
Leider muss ich an dieser Stelle sagen, dass das Buch dadurch auch gewisse Schwachstellen hat. Man ist lediglich Beobachter oder Zuhörer aus der Ferne. Es gelang mir an keiner Stelle irgendeine wie auch immer geartete Verbindung zu einer der geschilderten Personen - nicht einmal zu der des Erzählers Bausch. So, als ob jemand von seiner Urlaubsreise erzählt, was er alles gesehen hat unterwegs. Man hört es, nimmt es zur Kenntnis und das war es dann auch.
Was mich sehr gestört hat: Wenn man dieses Buch kauft aufgrund des Bucheinbandes, dann ist man der Meinung, dass es sich um wahre Geschichten handelt - so steht es auf dem Klappentext ausdrücklich erwähnt: "Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen."
Bereits im Vorwort des Buches erfährt man dann allerdings, dass es sich beileibe nicht um wahre Geschichten handelt, sondern vielmehr um fiktive Stories: "Die Idee, die interessantesten von ihnen zu anonymisieren, zu fiktionalisieren und weiterzuspinnen, trieb mich dabei an."
Obendrein auf einem Vorsatzblatt: "Sie beschreiben also keine lebenden oder toten Personen; sie haben sich nicht zugetragen, hätten sich aber so wie beschrieben zutragen können."
Das ist natürlich die Entscheidung des Autors, ihm bekannte Begebenheiten noch entsprechend auszuschmücken und weiterzuspinnen, damit sie überhaupt interessant genug erscheinen, um aufgeschrieben zu werden. Dennoch sollte nicht auf dem Bucheinband der Eindruck von True-Crime erweckt werden, wenn es nicht den Tatsachen entspricht. Das gibt auf jeden Fall einen Punkt Abzug von mir.
Ich gebe zu, dass ich während der Lektüre unwillkürlich Vergleiche zog mit den vom Ansatz her ähnlichen Büchern Ferdinand von Schirachs (Schuld, Verbrechen, Strafe). Leider jedoch hat Bausch nicht dessen schriftstellerische Begabung, mich als Leser mit zu nehmen und vor allem mitfühlen zu lassen. Wenn ohnehin sehr viel Fiktion dabei war, hätte er mir auch irgendwie vermitteln können, was in dem jeweiligen Protagonisten vorging. Aber in diesem Buch ist eigentlich nur einer Protagonist: Joe Bausch. Das war zwar immer noch unterhaltsam, weil ich Herrn Bausch und seine direkte Art durchaus mag, aber insgesamt war es doch etwas wenig.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.