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Helena

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Insgesamt 131 Bewertungen
Bewertung vom 21.07.2020
Die Dirigentin
Peters, Maria

Die Dirigentin


ausgezeichnet

„Meine Füße spüren die Erde, die Hände den Takt, die Ohren hören die Musik, die Augen verfolgen die Noten, meine Aufmerksamkeit gilt den Musikern, meine Seele gehört dem Komponisten. Kurz vergesse ich, wem mein Herz gehört. Ich bin siebenundzwanzig. Ich stehe vor den weltberühmten Berliner Philharmonikern, und das ist meine Weltpremiere.“

Haben Sie schon einmal von Antonia Brico gehört? Ich bis vor kurzem auch nicht. Wie gut, dass die niederländische Schriftstellerin Maria Peters das ein für allemal geändert hat. Denn genau so sehr wie wir Frauen brauchen, die für etwas brennen, brauchen wir auch Frauen, die für diese Frauen brennen. Und so fällt die Entscheidung schwer, welche der beiden Frauen nun die größere ist: Ist es Antonia Brico, die ihr Leben der Musik gewidmet hat und die erste studierte Dirigentin war, oder Maria Peters, die in Bricos Leben eingetaucht ist und dieses wundervolle Buch über ihren musikalischen Werdegang geschrieben hat? Diese schwierige Frage mag jeder für sich selbst beantworten, ich bin jedenfalls von beiden Frauen gleichermaßen begeistert.

Kommen wir zunächst auf Antonia Brico zu sprechen. Als kleines Kind wird sie von ihrer jungen Mutter, die von ihrem Liebhaber verlassen und von dem Vater verstoßen wurde, zur Adoption freigegeben. Unter dem Namen Wilhelmina Wolters reist sie mit ihren Pflegeeltern von den Niederlanden nach Amerika. Dass die beiden nicht ihre leiblichen Eltern sind, erfährt sie erst als Erwachsene. Bereits im Alter von fünf Jahren hat sie ihre erste prägende Erfahrung mit der Musik: „Ich ging an einer Kirche vorbei, und die Orgel spielte. Das hatte ich noch nie gehört, denn wir sind nie in die Kirche gegangen. Ich huschte hinein und ging die Treppe hinauf. Da saß der Organist. Ich war vollkommen verzaubert. Viel später erfuhr ich erst, dass es Albert Schweitzer war… Seit diesem Erlebnis habe ich um ein Klavier gebettelt.“ (Wie man im Nachwort erfährt, war Antonia Brico Zeit ihres Lebens eng mit Albert Schweitzer befreundet.) Auf diese Weise beginnt ihr intensiver und steiniger Kampf um musikalische Bildung und Entfaltung. Ihr Weg führt sie in die Niederlande, dann nach Deutschland und schließlich wieder zurück in die USA. Doch trotz abgeschlossenem Studium ist weiterhin kein Licht in Sicht: Antonia muss weiterhin um Akzeptanz als weibliche Dirigentin auf amerikanischem Boden kämpfen. Doch Antonia hat nicht nur Widersacher, sie hat auch Freunde und Fürsprecher, die sie unterstützen. Und niemand Geringeres als Eleanor Roosevelt gibt Antonia die Worte „Machen Sie, was Ihnen Ihr Herz sagt, denn Kritik gibt es so oder so“ mit auf den Weg.

Maria Peters war so fasziniert von Antonia Bricos Leben, ihrem Werdegang und ihrer grenzüberschreitenden Leidenschaft für die Musik, dass sie ihr Leben sowohl auf Papier als auch auf die Leinwand gebannt hat. (Das auf dem Cover zu sehende Foto stammt aus dem Film.) Im Gespräch mit Rex Brico (Antonias Cousin) erfuhr sie viele Details über die historische Person, die sie in ihrem Roman auf künstlerische Art aufleben ließ. Und wie sie sie aufleben lässt – so authentisch, so lebendig und so ergreifend! Man braucht von Antonia Brico nichts zu wissen und auch von klassischer Musik nichts zu verstehen, um der Handlung mit angehaltenem Atem zu folgen. Die Autorin hat ihren ganz eigenen Stil, weit ab vom Bekannten und Althergebrachten. Gekonnt spart sie gerade die Momente aus, die zu Pathos, Übertreibung oder Kitsch verleiten könnten. Besonders gelungen und originell sind oftmals die Dialoge (weswegen dieses Buch auch wunderbar als Film funktionieren wird!). Ganz bemerkenswert ist Antonia Bricos Talent, immer die richtigen Worte für diejenigen Personen zu finden, die über ihr Schicksal entscheiden sollen. „In seinem Buch über Bach schreibt Schweitzer, es sei einer der Charakterzüge schöpferischer Menschen, dass sie auf ihren großen Tag warten würden und dass sie, bis es soweit ist, alles in dieses Warten investieren, bis zur Erschöpfung. Das ist meine

Bewertung vom 13.07.2020
Die Perlenfarm
Marklund, Liza

Die Perlenfarm


weniger gut

Der neue Roman von Liza Marklund kommt in einem farbenfrohen Cover daher. Ein Strand mit Palmen und Blick auf das türkisfarbene Meer. In großer heller Schrift prangt der Titel „Die Perlenfarm“ darüber. Der Umschlagseite eines Reisekatalogs sieht es so ähnlich, dass man nicht umhinkann, als sich dahin zu wünschen – wo auch immer dieser äußerst ansprechend aussehende Ort sein soll. Im Klappentext heißt es, dass „die junge Kiona im Paradies lebt“, auf einer Perlenfarm, an deren Küste eines Tages ein Segelboot mit einem verletzten Mann an Bord strandet. „Kiona pflegt ihn gesund und verliebt sich in ihn“, heißt es weiter, bis Erik eines Tages die Insel fluchtartig verlässt und Kiona sich auf die Suche nach ihm begibt. Klingt spannend, nicht wahr? Und was erwartet man bei diesem Cover, Titel und Klappentext? Genau, einen romantischen Abenteuerroman. Den habe ich jedenfalls erwartet. Es kann wohl niemand leugnen, dass genau diese Erwartungshaltung aufgebaut wird. Aber wozu, frage ich mich. In der Vermarktung dieses Buches einiges falsch gelaufen, würde ich sagen. Ein Abenteuerroman mit Liebesgeschichte und nachfolgendem Roadtrip ist es nämlich keineswegs. Am ehesten würde ich „Die Perlenfarm“ als Politthriller bezeichnen.

Zunächst ist die Insel Manihiki, auf der Kiona lebt, keineswegs als Paradies zu bezeichnen. Recht karge Verhältnisse herrschen auf dieser Insel und Kiona muss auf der Perlenfarm ihrer Familie mithelfen, indem sie mit ihrem Bruder nach Perlenmuscheln taucht, was eine anstrengende und gefährliche Arbeit ist. Wenn sie nicht im Meer taucht, hilft sie ihrer Mutter im Krankenhaus. Klingen die beschriebenen Verhältnisse nach einem Paradies? Ich würde eher nein sagen. Die Beschreibungen des Lebens auf der Insel wirken sehr trostlos, so dass sich der Teil, der auf Manihiki spielt, sehr in die Länge zieht. Dass der geheimnisvolle Schwede Erik dabei auf der Bildfläche erscheint, ändert auch nicht viel daran. Die angebliche große Liebe, die sich zwischen Kiona und Erik entwickelt, ist ebenfalls so fade beschrieben, dass an keiner Stelle ein Funke auf den Leser überspringen kann. Umso mehr überrascht dann der weitere Verlauf des Romans, in dem Kionas entbehrungsvolle Suche nach Erik beginnt. Und hier beginnt wirklich eine Handlung, die sich geradezu überschlägt. Zunächst landet Kiona in Los Angeles, wo sie unbedarft wie sie ist in die Hände von vier Kriminellen gerät. Von ihren physischen und psychischen Schäden erhölt sie sich bei einer buntzusammengewürfelten Wohngemeinschaft, deren Oberhaupt Clay (eine Person, die ihre geschlechtliche Identität mehrmals gewechselt hat) darstellt. Weitere Mitglieder sind ein versehrter Kriegsveteran, ein drogenabhängiges Model, ein homosexuelles aidskrankes Pärchen sowie drei Teenagermädchen aus schwierigen familiären Verhältnissen. Wenn sie nicht gerade Zeitschriftenabonnements verkaufen, diskutieren sie leidenschaftlich über den Glauben und die Evolution. Als es zu einer verhängnisvollen Verwicklung kommt, bricht Kiona mit Clay nach London auf und später nach Daressalam. Und hier verwundert bereits sehr, wie gut Kiona zurechtkommt, immer genau weiß, bei welchem Problem sie sich an welche Institution wenden muss und sich außerdem glaubwürdige Geschichten aus dem Stegreif ausdenkt. Bei jemandem, der sein ganzes Leben auf einer Insel verbracht hat und mit der restlichen Welt keinerlei unmittelbaren Kontakt hatte, ist das ein äußerst ungewöhnliches, ja unglaubwürdiges Verhalten. Insgesamt halten einen die geschilderten Geschehnisse ab Los Angeles bis zum Ende allerdings in Atem und lassen einen auf die Lösung des Rätsels mitfiebern. Auf emotionaler Hinsicht bleibt die Geschichte allerding in höchstem Maße farblos. Und so bleibe ich ziemlich ratlos zurück. Der Roman war zugegebenermaßen streckenweiße interessant und spannend, einige Stellen haben einem auch zu denken gegeben, aber insgesamt, weiß ich wirklich nicht, was ich von Liza Marklunds neuestem Werk halten soll. Eine klare Linie konnte

Bewertung vom 01.07.2020
Die Farben der Schönheit - Sophias Träume / Sophia Bd.2
Bomann, Corina

Die Farben der Schönheit - Sophias Träume / Sophia Bd.2


sehr gut

Nachdem Sophia einen anonymen Brief erhält, in dem geschrieben steht, dass ihr Sohn am Leben ist, bricht Sophia Hals über Kopf nach Paris auf, wo sie jedoch nichts in Erfahrung bringen kann. Ein Detektiv bietet ihr seine Hilfe an, die Sophia nach einigem Zögern annimmt. Doch die Nachforschungen gestalten sich schwieriger als gedacht. Unverrichteter Dinge fährt sie wieder nach New York zurück. Dort angekommen nimmt Sophia ihren ganzen Mut zusammen, Elizabeth Arden um eine Anstellung zu bitten. Diese willigt freudig ein, wobei sie Sophia jedoch nicht als Chemikerin, sondern als Kosmetikerin in einem ihrer Schönheitssalons einsetzt. Sophia findet sich schnell in ihrer neuen Tätigkeit ein und wird bald zu einer beliebten Kosmetikerin. Doch unversehens wird sie von Miss Arden eines schönen Tages zu einer höheren Aufgabe erkoren: Sie soll den Aufbau und die Gestaltung eines Damenclubs auf dem Land leiten. Dabei soll ihr ein erfahrener Werbemann zur Seite stehen. Dieser ist niemand anderes als Darren O‘Connor, der Mann, der Sophia vor vier Jahren das Herz brach und den sie doch nie vergessen konnte. Wie wird sich ihre Zusammenarbeit und – was viel wichtiger ist – ihre Beziehung zueinander gestalten?

Corina Bomann stellt uns mit „Sophias Träume“ einen würdigen Nachfolger des ersten Teils der „Die Farben der Schönheit“-Trilogie dar. Der Ton der Geschichte und die Erzählerstimme ändern sich nicht. Weiterhin verfolgt die Leserin gespannt die Wendungen des Schicksals im Leben der starken und bewundernswerten Protagonistin. Statt im Chemielabor dürfen wir Sophia nun bei ihren Tätigkeiten im Kosmetiksalon und später auf dem Landsitz „Maine Chance“ über die Schulter schauen. Vor dem historischen Hintergrund des Börsencrash und des sich anbahnenden Nationalsozialismus wird das Leben der fiktiven Sophia aufs Detailreichste und Liebevollste herausgearbeitet. Man verfolgt die Handlung gebannt, mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen. Viele der geschilderten Entwicklungen haben mich bewegt, aber auch überzeugt – schließlich ist Corina Bomann stets um Realitätsnähe bemüht. Ich hätte mir nur gewünscht, dass Darren auch über die Zeit, als er von Sophia getrennt war, gesprochen hätte und auf ihre Ausführungen detaillierter eingegangen wäre. Außerdem hat mir ab und zu die von der Autorin gewählte Wortwahl nicht so gut gefallen, so glaube ich beispielsweise nicht, dass das Wort „hinverbrannt“ bereits im Jahr 1930 ein gebräuchliches Adjektiv gewesen ist. Das sind allerdings nur Kleinigkeiten. Im Großen und Ganzen hat mir auch der zweite Band sehr zugesagt und nun warte ich ungeduldig auf den dritten und leider auch den letzten Band der Trilogie um Sophia Krohn.

Bewertung vom 26.06.2020
City of Girls
Gilbert, Elizabeth

City of Girls


gut

Vivian Morris, eine zähe alte Dame, schaut im Alter von knapp 90 Jahren auf ihr bewegtes Leben zurück. Sie erzählt ihr Leben einer Frau mit dem Namen Angela – wer diese Frau ist, erfahren wir erst im letzten Fünftel des Romans. Auslöser für Vivians Brief ist Angelas Frage danach, was jene für ihren Vater war. Um diese Frage beantworten zu können, muss Vivian weit ausholen: Sie beginnt mit ihrer Erzählung im Jahr 1940, als sie als 19-Jährige das Elternhaus verlässt, um bei ihrer Tante Peg im Lily Playhouse ihr neues Dasein zu fristen, nachdem sie vom College fliegt. Und so wissen sich die Eltern nicht anders zu helfen, als die junge ungestüme Tochter nach New York zu schicken. Das Lily Playhouse erweist sich als der passende Ort für die lebenshungrige Vivian, die sich mit dem Revuegirl Celia zusammentut und von nun an die Clubs der Stadt unsicher macht. Ihre Devise lautet, das Leben in vollen Zügen zu genießen, ihre Jugend zu „vergeuden“ und sich „an den Rand des Abgrunds und in Sackgassen zu führen, die sie sich selbst schafften“. Und so kommt es unweigerlich zu einer Katastrophe, die Vivians Leben eine Wende gibt.

Elizabeth Gilbert hat für den Hauptteil ihres Romans ein äußerst glamouröses aber auch sehr schmerzliches Setting gewählt – die 40er Jahre. Wahrlich ein schwieriges Unterfangen, die damalige Zeit mit ihrem Spagat zwischen entrückter Unterhaltungsindustrie und harter Realität authentisch einzufangen. Nach meinem Empfinden ist der Autorin das Romanprojekt nicht gänzlich gelungen. Habe ich am Anfang des Romans noch bei Vivians herrlich selbstironischen Aussagen geschmunzelt, machte die Amüsiertheit doch schnell der Langweile Platz. Ich fand die Beschreibung des Theaters und seiner Angestellten nicht besonders interessant und die Beschreibungen der nächtlichen Eskapaden mit all ihren Ausschweifungen haben mich ebenfalls ermüdet. Als die berühmte Bühnendarstellerin Edna Parker auf der Bildfläche erscheint, blitzte für einen Augenblick mein Interesse wieder auf, um ebenso schnell wieder abzuklingen. Die sehr lange Beschreibung des Musicals, das alle mit vereinten Kräften auf die Bühne bringen und das zum vollen Erfolg wird, hat sich gezogen wie Kaugummi. Als große Anhängerin des Hollywoods der goldenenen Zeitalters habe ich an dem von den Kritikern als Geniearbeit gerühmten Stück kaum etwas Bemerkenswertes ausmachen können. Und so war ich froh, als dieser Teil der Erzählung mit großem Krach ein Ende nahm und einem neuen Erzählstrang Platz machte. Obwohl auch nicht außergewöhnlich, hat mich der weitere Verlauf eher fasziniert, bis mich das letzte Fünftel des Romans, in dem es um die Beziehung zwischen Vivian und Frank geht, sogar sehr berührt hat. Eine allgemeine Bewertung des Romans fällt mir daher schwer. Hätte die Autorin den Romanteil, in dem es um das Theater geht, zugunsten des letzten Teils gekürzt, hätte mir der Roman sicherlich besser gefallen. So bin ich ziemlich gespalten in meinen Gefühlen. Wie ich aus einem Interview mit Elizabeth Gilbert erfahren habe, ist ihre Lebenspartnerin, Rayya Elias, ein Jahr vor Erscheinen des Romans an Krebs gestorben. Obwohl die Autorin noch vor Elias‘ Krankheit mit ihren Recherchen zu dem Roman begonnen hatte, konnte sich Gilbert nach der Krebsdiagnose nicht vorstellen, an der Geschichte weiterzuarbeiten. Nach Elias‘ Tod fühlte sie jedoch einen inneren Zwang, der sie zu dem Roman zurückzog. Höchstwahrscheinlich liegt es an jener Situation der Autorin, dass ich nach wenigen Seiten einen Bruch in dem Ton der Geschichte empfand und der weitere Verlauf so gezwungen auf mich wirkte. Der innere Gram der Autorin hat sich womöglich zwischen den Zeilen festgesetzt. So fällt jedenfalls meine persönliche Einschätzung des Romans aus, was nicht bedeuten muss, dass jede Leserin denselben Eindruck davontragen muss. Wer jedoch ebenso wie ich zwischenzeitlich seine liebe Mühe mit „City of Girls“ hat, dem möchte ich sagen, dass es sich lohnt bis zum Ende durchzuhalten, denn dann wird man mit eine

Bewertung vom 28.05.2020
flüchtig
Achleitner, Hubert

flüchtig


gut

„Alles ist flüchtig, aber nicht alles ist gleich flüchtig. Jedes Ereignis hat seine Halbwertszeit. Ich will dir jetzt meine Geschichte erzählen, bevor sie sich verflüchtigt.“

Mit diesen Worten beginnt Marias Brief an Herwig. Maria und Herwig sind seit dreißig Jahren verheiratet, als Maria plötzlich ohne ein Wort des Abschieds aus Herwigs Leben verschwindet. Sie hat herausgefunden, dass ihr Mann eine Affäre mit einer jüngeren Frau hat, die ein Kind von ihm erwartet. Der Gedanke an das Ungeborene trifft Maria dabei härter als das Wissen um die Liebschaft selbst, denn ihr ist es verwehrt geblieben ein Kind zu bekommen. Daran ist Maria nicht nur innerlich zerbrochen, es hat auch ihre Ehe mit Herwig verändert: Statt miteinander lebten sie nebeneinander. Diesem Zustand möchte Maria nun ein Ende machen: Kurz entschlossen steigt sie in Herwigs Auto und fährt einem neuen Leben entgegen.

Die Geschichte an sich wird uns von der fiktiven Lisa erzählt, die Maria am Anfang ihrer Reise kennenlernt. Dementsprechend sind lediglich ihre eigenen Passagen in der Ich-Form geschrieben, die Perspektiven von Maria und Herwig werden dagegen vom personalen Erzähler wiedergegeben und hier schleicht sich auch schon ein Fehler ein: Mag Lisa auch alles von und über Maria gewusst haben, Herwigs Gedanken und Gefühle über den im Roman beschriebenen Zweitraum müssten zum größten Teil für sie im Dunklen liegen. Und so stellt sich die Frage danach, warum der Autor zu dieser Erzählinstanz gegriffen hat. Lisa hätte uns genauso gut aus der personalen Erzählperspektive entgegen treten können. Eine textimmanent begründete Rechtfertigung für die vom Autor gewählte Herangehensweise findet sich von meiner Seite nicht. Zudem ist Lisa keine kongruente Figur: Ist sie zu Anfang des Romans noch sehr hippiehaft und ihre Ausdrucksweise von Wörtern wie „geil“, „mega“ und „scheiße“ durchsetzt, ist sie später auffallend bedächtig und drückt sich, wie es sich meiner Meinung nach für eine 25-Jährige auch gehört, äußerst gewandt aus.

Gut, Lisa ist im Grunde nur eine Nebenfigur. Doch mit Maria selbst konnte ich auch nicht viel anfangen. Sie bleibt den ganzen Roman über ziemlich blass. Die Passagen, die ihrer Perspektive gewidmet sind, sind blutarm und fahl. Dafür dass Maria daran zerbrochen ist, dass sie keine Kinder haben konnte, wird diese Tatsache ziemlich selten thematisiert - zweimal im gesamten Roman, um genau zu sein. So scheint vielmehr, als hätte der Autor krampfhaft nach einem Grund gesucht, aus dem die Ehe zwischen Maria und Herwig stagnieren sollte, damit sich Maria auf die Flucht begeben konnte. Mit dem Thema selbst konnte oder wollte sich der Autor nicht näher auseinandersetzen.

So gut kann sich Achleitner dann wohl leider doch nicht in eine weibliche Psyche einfühlen. In Herwigs Perspektive kann man dagegen ohne jegliche Vorbehalte selbstvergessen eintauchen. Herwig ist eine äußerst sympathische Figur, deren Gedanken und Gefühlen man mit Anteilnahme verfolgt und deren Reaktionen und Handeln man einfach mit Verständnis und Empathie begegnen muss. Bei Herwig handelt es sich um eine runde Figur mit menschlichen, aber keinen literarischen Schwächen.

Neben Maria, Lisa und Herwig werden noch einige weitere Figuren eingeführt und ihre Lebensgeschichten erzählt, was aus meiner Sicht etwas zu viel des Guten war. Auf diese Weise wurde man immer wieder vom Hauptstrang der Erzählung abgeführt und musste sich den Weg zurück jedes Mal von Neuem suchen. Es hat auch so schon lange genug gedauert, bis die Vorgeschichten von Maria und Herwig erzählt waren und die eigentliche Geschichte beginnen konnte. Doch auch diese eigentliche Geschichte verliert sich immer wieder. Insgesamt beschleicht mich der Verdacht, dass der Autor selbst nicht wusste, wohin die Reise gehen würde und so lässt mich „flüchtig“ etwas ratlos zurück.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.05.2020
Das Buch der Blumen
Rygiert, Beate

Das Buch der Blumen


ausgezeichnet

Als Beate Rygiert im Alter von fünf Jahren ihr erstes Blumenbeet gestaltete, wurde damit der Grundstock für ihre Faszination für die Welt der Pflanzen gelegt. "Und obwohl es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis ich einen eigenen Garten besaß, so hatte ich den Kreislauf von Säen, Pflegen, Bewundern und Ernten und vor allem von Werden und Vergehen ein für allemal verinnerlicht", schreibt die Autorin im Vorwort von "Das Buch der Blumen". Durch seine blumenverzierte Gestaltung springt einem das Buchcover direkt ins Auge und wenn man es in der Hand hält, fühlt es sich sehr natürlich an. Naturhaft ist auch sein Inneres: Beate Rygiert macht uns mit einer großen Vielzahl an Pflanzen vertraut: Da wären zum einen die allseits bewunderten Blumen wie die Rose, die Tulpe, die Kamelie, die Orchidee, die Nelke und das Veilchen zu nennen. Auch die persönlichen Favoriten der Autorin wie die Kuhschelle und in Vergessenheit geratene Blumen wie die Zinnie und die Kapuzinerkresse werden behandelt. Zum anderen finden auch Pflanzen Eingang in das Buch, die nicht nur wegen ihres Äußeren eine Faszination auf die Menschen ausüben, wie der Mohn oder der Kaktus. Last but not least werden in einem Kapitel all diejenigen Pflanzen zusammengefasst, die von uns so leichtfertig als Unkraut bezeichnet werden.

Die Autorin liefert uns in ihrem Blumen-Werk mit dem einnehmenden Schreibstil nicht nur eine anschauliche Kulturgeschichte der obengenannten Blumen und informiert uns über deren Wirkstoffe, sie plädiert auch für einen umweltbewussten Umgang mit den Pflanzen, die wir in unserem Garten anbauen. Bei aller Blumenliebe sollte man sich doch stets vor Augen halten, dass die Blumen ihre ganze Pracht nicht etwa für uns Menschen, sondern für das Insektenreich entfalten und damit auch ihnen den Vorrang lassen.

"Das Buch der Blumen" ist ein schönes, ein informatives und ja vor allem ein wichtiges Buch. Ich kann es jedem nur wärmstens ans Herz legen.

Bewertung vom 12.05.2020
Das Beste von allem
Jaffe, Rona

Das Beste von allem


ausgezeichnet

Caroline Bender verlässt mit zwanzig Jahren Port Blair, um in dem Verlag Fabian Publications ihren ersten Job als Sekretärin anzutreten. Mit ihren dunklen Haaren und hellen Augen und einem Gesicht, das Freundlichkeit und Intelligenz verrät, ist sie „mehr als herkömmlich hübsch“. Was zunächst als Flucht vor der Vergangenheit beginnt – ihr Verlobter und einzige große Liebe Eddie lässt sie sitzen und heiratet eine andere – verwandelt sich bald in eine erfüllende Tätigkeit, so dass sie die Karriereleiter bis zur autonomen Lektorin erklimmt.

April Morrison mit den großen blauen Augen, der zierlichen Nase mit Sommersprossen und dem dichtem, gelocktem Haar ist von geradezu atemberaubender Schönheit. Sie kommt ursprünglich von Colorado nach New York, weil sie von einer Schauspielkarriere träumt. Aber sie braucht Geld und so überbrückt sie die Zeit bis dahin ebenfalls bei Fabian Publications. Als sie ihrem Traummann Dexter begegnet, stellt sie fest, dass ihre eigentliche Bestimmung im Eheleben besteht. Doch Dexter ist nicht bereit und fähig zu einer Liebe, in der man Verantwortung für den anderen übernimmt.

Aus demselben Grund wie April verschlägt es Gregg Adams, ein sehr schlankes Mädchen mit langem blondem Haar, von Dallas nach New York. Auf einer Party lernt sie den berühmten Theaterproduzenten David Wilder Savage kennen. Sie gehen ein Liebesverhältnis ein und er verhilft ihr zu kleinen Theaterrollen. Während er auch Zeit zum Alleinsein beansprucht, verschlossen und unnahbar erscheint, ist ihre von Kontrollsucht geprägte Liebe zu ihm verschlingender, zerstörerischer Natur. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.

Barbara Lemont, ein unauffälliges Mädchen, aber mit ansprechendem Gesicht, hat eine kleine Tochter und ist bereits geschieden. Große Hoffnungen bezüglich der Liebe hat sie nicht mehr, sie wird wohl alleinerziehend bleiben müssen. Als sie Sidney Carter kennenlernt, in dessen Gegenwart sie sich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen und verstanden fühlt, glaubt sie das große Los doch noch gezogen zu haben. Doch Sidney ist leider verheiratet, eine Beziehung scheint nicht möglich.

Im zarten Alter von sechsundzwanzig Jahren veröffentlicht Rona Jaffe ihren Debütroman »Das Beste von allem«. Nach ihrem Abschluss am Radcliffe College hat sie selbst wie ihre Figur Caroline Bender fast vier Jahre lang in einem Verlag gearbeitet: Angefangen hat sie als Schreibkraft und sich dann zur stellvertretenden Redakteurin hochgearbeitet. Um sich ganz dem Schreiben widmen zu können, gab sie ihre Stelle auf und schrieb ihren Debütroman, in dem sie erstmals Tabuthemen wie Abtreibung und sexuelle Belästigung behandelt. „Ich wusste nicht, ob das, was meine Freundinnen und ich erlebten, unnormal war, deshalb führte ich mit fünfzig Frauen Interviews, denn ich wollte herausfinden, ob sie ähnliche Erfahrungen machten – mit Männern, bei der Arbeit und angesichts all der Dinge, über die niemand in der Öffentlichkeit sprach“, schreibt Rona Jaffe in ihrem Nachwort von 2005. „Ich hatte keine Ahnung, dass sich Millionen von Frauen angesprochen fühlen würden.“ Der Roman wird ein riesiger Bestseller und Hollywood kauft direkt die Filmrechte.

Der Roman verblüfft nicht nur durch seine unverhohlene Thematisierung von Tabuthemen, sondern auch durch seine tiefgehende Kenntnis der menschlichen Natur und Psyche. Die Autorin ist mit einem Tiefblick weit über ihr Alter gesegnet. Mit ihrer analytischen und zugleich sehr gefühlvollen Sprache zeichnet Rona Jaffe ein empathisches und verständiges Bild der New Yorker Gesellschaft und trifft den Nerv der Zeit. „Die Ehrlichkeit von »Das Beste von allem« machte den Weg frei für andere Autoren. Und in vielerlei Hinsicht ist das Buch heute so relevant wie damals“, schreibt Rona Jaffe. „»Das Beste von allem« ist ein soziologisches Dokument, aber es handelt auch von Veränderung: wie sich die Träume verändern, wie sich das Leben verändert, wie alles, was einem zustößt, etwas anderes verändert.“

Bewertung vom 11.05.2020
Die Tanzenden
Mas, Victoria

Die Tanzenden


sehr gut

„Ich bezweifle, dass es außerhalb dieser Mauern Freiheit gibt. Ich bin den größten Teil meines Lebens draußen gewesen und habe mich nicht frei gefühlt. Die Sehnsucht muss sich woanders erfüllen. Darauf zu warten, dass man befreit wird, ist ein vergebliches und unerträgliches Gefühl.“

Paris, 1885: Schauplatz des Geschehens ist die Salpêtrière, Europas wohl bekannteste Nervenheilanstalt für geisteskranke Frauen. Für das von Zerstreuung und Sensation übersättigte Pariser Publikum stellt der alljährliche Ball an Mittfasten - von der Pariser Bourgeoisie schlicht „Ball der Verrückten“ genannt - eine willkommene Abwechslung dar, um der eigenen Schaulust zu frönen. Die Insassinnen flößen Angst ein und üben gleichzeitig Faszination aus, sie verursachen Unbehagen und regen gleichzeitig die Phantasie an. Für die Patientinnen selbst stellt der Ball den Höhepunkt des Jahres dar. An diesem Tag weicht jegliches Unwohlsein der allumfassenden Festtagsstimmung. Ein jede darf sich an diesem Tag ihren Träumen und Sehnsüchten hingeben. Für zwei von ihnen, Eugénie und Louise, sollen die Träume von Freiheit und Selbstbestimmung eine konkrete Realisierung finden. Doch damit Eugénie in die Freiheit gehen darf, muss eine andere ihren Platz einnehmen.

Vicoria Mas nimmt sich in ihrem Erstlingswerk einem Thema an, das eher zu den blinden Flecken von Paris zu zählen ist. Dem deutschsprachigen Leser mag die Salpêtrière aus „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ - Rilkes einzigem Roman von 1910, in dem er seine Parisaufenthalte von 1902/03 verarbeitet - ein Begriff sein. Weitere fiktive Werke, die sich diesem Thema widmen, sind rar gesät. Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, ist ein Ort der Weltoffenheit. Es ist die Stadt, die die Moderne erfand. Sie steckt voller Schwung, Eleganz und Zauber. Als kulturelles, wirtschaftliches und politisches Zentrum Europas bietet sie eine unausschöpfliche Quelle an schillernden und funkelnden Geschichten.

Doch Victoria Mas entscheidet sich für die Kehrseite dieser blendenden Fassade. Sie entführt uns mit Entschlossenheit in die dunklen Winkel dieses funkelnden Bauwerks. Sie liefert uns einen historischen Abriss über die Geschichte der Salpêtrière und lässt uns die Zustände in dieser Anstalt um 1885 näher betrachten. „Eine Mülldeponie für all jene, die die öffentliche Ordnung gefährdeten. Eine Anstalt für Frauen, deren Empfindungen nicht den Erwartungen entsprachen. Ein Gefängnis für diejenigen, die sich einer eigenen Meinung schuldig gemacht hatten.“ Drei verschiedene Frauenfiguren projiziert die Autorin vor unser inneres Auge, um uns in eine vom Patriarchat geprägte Gesellschaftsordnung zu entführen. Sie lässt uns an drei Lebensschicksalen teilhaben, die von Tragik gezeichnet sind, die es ohne den männlichen Übergriff so nicht gegeben hätte. Obwohl Victoria Mas dies auf einfühlsame und berührende Weise bewerkstelligt, ist sie gleichzeitig um eine gewisse emotionale Distanz bemüht. Die Leserin soll mit-fühlen, aber dabei das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren: Frauen sind stark, so wie sie sind. Nicht umsonst wurden den Frauen von Männern intellektuelle und körperliche (das Korsett!) Fesseln angelegt: „Dass die Männer ihnen solche Grenzen aufgezwungen hatten, legte den Gedanken nahe, dass sie die Frauen nicht verachteten, sondern vielmehr fürchteten.“ Statt sich gegenseitig zu untergraben, sollten Frauen füreinander einstehen und füreinander kämpfen - so meine Interpretation von Victoria Mas' Roman „Die Tanzenden“.

Bewertung vom 05.05.2020
Wie uns die Liebe fand
Stihlé, Claire

Wie uns die Liebe fand


weniger gut

Elsass 2019: Die 92-jährige Ich-Erzählerin Marie-Anne Nanon möchte uns über das Jahr 1979 erzählen, in dem sich vieles für sie und ihre vier Töchter (allesamt Kopien von Madame Nan) änderte. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie sich mit ihrer Familie mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. Als ihr von Monsieur Boberschram der heruntergekommene Lebensmittelladen geschenkt wird, wendet sich das Blatt schlagartig. Nach einer gelungenen Erneuerung und Verschönerung, wird "Chez Malou" geradezu von Kundschaft überrannt. Das liegt nicht nur an dem einladenden Ambiente des Ladens, der außergewöhnlichen Schönheit der Bedienung und an Madame Nans kleinen Magenfüllern, die sich äußerster Beliebtheit erfreuen, sondern an einer Erfindung Maries (Madame Nans ältester Tochter) und ihres Freundes Malou: den sogenannten Liebesbomben, die nicht nur das Geschäft florieren lassen, sondern auch das ganze Dorf in einen sinnenfreudigen Liebestaumel versetzen. Alle, bis auf Madame Nanon selbst, die ihre plötzliche Liebe für Monsieur Boberschram entdeckt, der sich ihr gegenüber seltsam verhält. Während Madame Nan immer wieder Ereignisse aus dem Jahr 1940 Revue passieren lässt, nähern wir uns gemeinsam dem Geheimnis, der hinter Monsieur Boberschrams seltsamen Verhalten steckt.

In das Cover von "Wie uns die Liebe fand" habe ich mich direkt verguckt. Bevor ich mit dem Lesen begonnen habe, bin ich erstmal lange mit den Fingern über den Buchdeckel gefahren: Nicht nur die Schrift ist geprägt, sondern auch die farbigen Blütenblätter, sodass sie sich im Gegensatz zu den graugefärbten Blättern "frisch" anfühlen. So wie einige unserer Erinnerungen frisch und andere verblasst sind. Eine schöne Idee.

So sehr mir das Äußere des Romans gefallen hat, so sehr habe ich mir gewünscht, dass der Inhalt mich ebenfalls für sich einnehmen würde. Leider war dem nicht so. Das gesamte Buch über habe ich auf die "Geschichte" gewartet, die uns Madame Nan unbedingt erzählen wollte. Dass die Familie Nan einen Laden betreibt und dort Liebesbomben anbietet, die ganz Bois-de-Val in ein "Freudendorf" verwandelt, ist für mich noch keine Handlung. Gut, es gibt da noch den Witwer Boberschram, für den Madame Nan plötzlich Liebe entwickelt, der eine Zeitlang zum Essen kommt, dann nicht mehr und irgendwann wieder auftaucht, um etwas zu beichten, das 1940 passierte. Und natürlich werden sie am Ende doch noch ein Paar. Diese "Geschichte" wird allerdings in ellenlangen Beschreibungen von Banalitäten ertränkt, sodass man am Ende erschlagen nur noch kapitulieren kann. Allein die Verbindung der beiden Zeitebenen und Handlungsstränge von 1940 und 1979 beißt sich: der Ton passt oft zum Erzählten nicht und das Geschehen wirkt nicht authentisch. Reaktionen und Gefühle werden theatralisch und übertrieben dargestellt, die Figuren sind eindimensional und überzeichnet - das alles umrankt von ausschweifendem, blumigem Schreibstil. Es tut mir leid, aber dieses literarische Debüt ist reinster Kitsch.

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Bewertung vom 20.04.2020
Wenn der Winter vorbei ist
Verbogt, Thomas

Wenn der Winter vorbei ist


sehr gut

„Es geht nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Wahrheit.“

Thomas zieht mit seiner Frau Aimee um. Möglicherweise das letzte Mal in seinem Leben, das in den Fünfziger Jahren begann. Der Umzug und das Leben in der neuen Wohnung lösen Erinnerungen an Personen und Ereignisse aus, die der Autor auf literarische Weise aufarbeitet. Das gegenwärtige Leben mit Aimee bildet quasi den Erzählrahmen, in den die einzelnen Momentaufnahmen eingebettet werden. „Das ist der Mittelpunkt des eigenen Lebens: dieses brüchige, brillante Bollwerk, das Erinnerungen beherbergt. Man hat dort rund um die Uhr Zutritt, es ist nie zu weit weg, niemand kommt einem dort in die Quere, und man hat alle Zeit der Welt. Es herrscht dort ein strahlendes Licht und Vieles wird klarer, auch wenn sich nicht alles enthüllen lässt. Letztendlich geht es nur darum im Leben: in diesem brüchigen, brillanten Bollwerk heimisch zu werden.“

„Wenn der Winter vorbei ist“ ist eindeutig als Autofiktion zu verstehen (nicht umsonst trägt der Ich-Erzähler denselben Namen wie der Autor). Thomas Verbogt lässt uns in sein Innerstes blicken, er lässt uns an seinen Ängsten, Unzulänglichkeiten und Fehlern teilhaben, ohne etwas zu verschleiern. Mit Mut und Vertrauen legt er alles dar. Er schreibt darüber, wie ihn seine Erinnerungen prägen und immer wieder heimsuchen („Nichts geht vorbei. Vergangenheit ist meist nur ein Wort.“) Über allem schwebt eine gewisse Melancholie, die aber nicht runterzieht, sondern berührt und zu eigenen Reflexionen anregt. Obwohl „Wenn der Winter vorbei ist“ kein dickes Buch ist, handelt es sich trotzdem nicht um Prosa, die man in einem Atemzug durchliest. Man muss immer wieder an bestimmten Stellen verweilen und die Worte des Autors auf sich wirken lassen. Man wird dazu angeregt, nach ähnlichen Gefühlen und Erkenntnissen in seinem eigenen Leben zu suchen, um das Geschriebene zu verinnerlichen. Wer nach einer Geschichte, die von Kontinuität und Spannung geprägt ist, sucht, ist mit „Wenn der Winter vorbei ist“ nicht gut beraten, der sollte nicht zu diesem Buch greifen. Es ist kein Buch, bei dem es darauf ankommt, „worauf die Handlung hinausläuft, sondern auf das, was ist - irgendwo am Rande unseres Denkens.“

„Wenn der Winter vorbei ist“ ist ein stilles, ein ruhiges Buch. Gleichzeitig ist es aber auch dynamisch, es reißt einen mit, wenn man es am wenigsten erwartet. Es ist ein Buch mit leisem Ernst. „Diesen Ernst saugt man förmlich auf, es ist ein Ernst, der einen aufwertet, einem wirklich etwas gibt.“