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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 186 Bewertungen
Bewertung vom 04.04.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Der Plot ist schnell erzählt: der Vater stirbt, die Familie streitet sich ums Erbe, und alte Konflikte und Verletzungen werden wieder lebendig. Eine bekannte Situation.

Der Roman besteht aus einem einzigen Gedankenstrom, der verschiedene Zeitebenen und Lebensphasen in den Blick nimmt und der gelegentlich mit Reflexionen von psychologischer Fachliteratur unterfüttert wird. Als Leser sitzt man quasi im Kopf der Protagonistin und muss ihre ewig kreiselnden Gedanken aushalten, so wie sie selbst eben auch und auch ihre Kinder, ihre Freunde und Lebenspartner. Dieser Gedankenstrom wirkt auf den ersten Blick unstrukturiert, ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil: sehr kunstvoll kreiselt sich die Erzählerin zu dem eigentlichen Thema hin, sie verdichtet die Anzeichen und stellt das üble Geschehen in der Mitte des Romans wie in einem Showdown vor.

Dieser Blick in einer verstörte (gestörte?) Seele ist nicht leicht auszuhalten, und die Erzählerin erschwert ihn zusätzlich durch ständige, teilweise wortwörtliche Wiederholungen, durch ständigen Aufgriff bereits gesagter Inhalte, durch identische Motive und durch Rückgriffe auf Bekanntes. Diese Art zu erzählen macht das Lesen schwer; eine straffere und weniger wortreiche Erzählweise hätte der Aussage des Buches gutgetan.

Die Erzählerin nimmt auch in immer kleinen Facetten die anderen Familienmitglieder in den Blick und zeigt auf, was ihr Vorwurf mit ihnen macht. Hier zeichnet sie sehr subtil die Zerstörung einer Familie nach. Im Fadenkreuz steht insbesondere die Mutter. Die Mutter ist wirtschaftlich vom Vater abhängig, und ihren Sozialstatus leitet sie ebenfalls von ihrem Mann ab. Sie stellt aus eigener Kraft nichts dar. Daher kämpft sie mit teilweise merkwürdigen Mitteln um Geltung. Sehr schön stellt die Autorin heraus, wie die Mutter ihre Schwäche zur Waffe macht und sich damit immer wieder in den Mittelpunkt schiebt. Zugleich ist die Mutter bestrebt, das öffentliche Ansehen der Familie zu wahren. Der äußere Schein ist ihr jede Lebenslüge wert und erklärt den Verrat an der Tochter. Auch die Geschwister werden in diese Lebenslüge verstrickt und werden zur Parteinahme gezwungen.

Das grundlegende Problem besteht darin, dass das gesamte Geschehen aus Bergljots Sicht erzählt wird und der Leser den Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann. Was stimmt? Was wird imaginiert, ohne deswegen weniger leidvoll zu sein? Bergljot ist, bei allem Mitleid für ihr Leiden, keine sympathische Protagonistin. Es gelingt ihr im Laufe eines langen Familien- und Berufslebens nicht, ihre Verletzungen zu heilen. Immer wieder heizt sie den Konflikt mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter aufs Neue an, ohne ihn einer Lösung zuführen zu wollen. Der Eindruck entsteht, dass sie in ihrem Leid verharren will.

Und so entsteht Seite für Seite das Bild einer Familie, in der das öffentliche Ansehen und die harmonische Fassade wichtiger sind als die Probleme einzelner Familienmitglieder, die als Störfaktoren kurzerhand und dauerhaft unter den Teppich gekehrt werden.

Eine nicht einfache, aber lohnende Lektüre!

Bewertung vom 29.03.2024
Wir sehen uns im August
García Márquez, Gabriel

Wir sehen uns im August


ausgezeichnet

Eigentlich stellt die Veröffentlichung dieses kurzen Romans einen Verrat dar. Der Autor selber war der Meinung: „Dieses Buch taugt nichts“, und das Buch blieb daher als unveröffentlichtes Fragment im Nachlass. Die beiden Söhne entschieden sich dennoch für eine Veröffentlichung und ließen das Fragment aus mehreren verschiedenen Textfassungen von Cristobal Pera rekonstruieren, der im Nachwort einen interessanten Einblick in seine Arbeit gibt.

Ob es sich gelohnt hat, muss nun der Leser entscheiden! Ich finde: UNBEDINGT!

An jedem 16. August, dem Todestag ihrer Mutter, fährt Ana Magdalena Bach – auch sie ist Ehefrau eines Musikers - zum Grab ihrer Mutter auf einer kleinen Karibikinsel. Sie ist 46 Jahre alt und glücklich mit einem attraktiven und erfolgreichen Mann verheiratet. Die Blumenfrau bindet ihr schon vorausschauend den alljährlichen Gladiolenstrauß, den sie zum Grab der Mutter bringt und dort ihrer Mutter die familiären Neuigkeiten mitteilt, um dann wieder mit der Fähre nach Hause zu fahren.

Bis sie in einem August den Einfall hat, aus dem alljährlichen Ritual auszubrechen. Mit einer Zufallsbekanntschaft verbringt sie die Nacht, und sie findet diese Änderung so erfrischend, dass sie diesen alljährlichen Ehebruch als neues Ritual etabliert. Sie verändert sich, genießt die Nächte mit ihrer exzessiven Lust und bekommt einen neuen Blick auf ihre Ehe und die damit verbundenen Konventionen.

Man merkt dem Text an, dass er nicht ausgefeilt ist und Lücken aufweist, wenn z. B. gegen Ende eine Person unmotiviert auftaucht. Aber Marquez erzählt einfach wunderbar. Mit einigen wenigen Strichen lässt er die Schauplätze vor dem inneren Auge seiner Leser sichtbar werden, und genauso leichthändig verleiht er seinen Figuren Konturen und Leben.
Das überraschende und zugleich so vielschichtige Ende der Geschichte macht den Leser sprachlos. Trotz seiner fortschreitenden Demenz erkennt man ihn hier wieder: den begnadeten Erzähler Marquez und seine unglaubliche Freude am Fabulieren.

Lesenswert!

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Bewertung vom 28.03.2024
Black Romeo
Gouneo, Osiel

Black Romeo


ausgezeichnet

Osiel Gueneo ist Erster Tänzer im Bayerischen Staatsballett, und ihn tanzen zu sehen ist ein Erlebnis. Die Schönheit seiner Sprünge, seine Ausdruckskraft, die Ästhetik seiner Bewegungen – man sitzt fasziniert und dankbar im Publikum. Für mich war klar: ich MUSS seine Biografie lesen, auch wenn Osiel Gueneo mit Mitte 30 noch zu jung für eine Biografie ist.

Das Buch ist eher ein Rückblick auf seine Kindheit auf Kuba, auf seine Familie, die vor einigen Generationen noch versklavt war, auf das Zusammenleben mit seinen geliebten Großeltern, die Zeit im Ballett-Internat und das stundenlange harte Training. Schon als Junge ist er, nach anfänglichem Missmut, dazu entschlossen, als Tänzer Karriere zu machen, was ihm dann auch gelingt. Osiel Gueneo ist heute einer der herausragendsten Ballerinos und, wie er selber sagt, als schwarzer Punkt in der weißen Welt des Balletts einer der wenigen Principal Dancer.

Damit klingt schon ein weiterer Themenbereich an, dem sich Gueneo als Afrokubaner widmet: dem Rassismus in der Welt des Balletts. Er erzählt von eigenen Erlebnissen und von Rollen, die ihm verweigert wurden; inwieweit das rassistische oder einfach nur Compagnie-interne Gründe hatte, kann man als Außenstehender nicht beurteilen. Aber dem Leser wird klar, dass Ballett kein isolierter Kunst-Raum ist, sondern dass es auch um gesellschaftliche Fragen geht. An mehreren Beispielen des klassischen Balletts zeigt Gueneo die Relevanz dieser Fragestellungen auf und fordert eine Neu-Interpretation, die sich befreit von kolonialen und imperialen Traditionen, um stattdessen die zeitlosen Inhalte deutlicher herauszustellen. Generell sollte für die Besetzung nicht das Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien entscheidend sein, sondern allein die Qualität des Tänzers.

Ist ein schwarzer Schwanensee-Prinz vorstellbar? Aus eigenem Erleben weiß ich, dass man nur noch den Tänzer sieht und nicht die Hautfarbe. Warum also kein schwarzer Prinz Siegfried oder eine schwarze Giselle!

Gueneo wurde für seine Rolle in „Spartacus“ zum Tänzer des Jahres gekürt, zu Recht. Nach der Lektüre allerdings fragt man sich, ob Gueneo für diese Rolle eines Sklaven wegen seiner Hautfarbe ausgewählt wurde? Auch wenn der historische Spartakus kein Schwarzer war, sondern vermutlich aus Thrakien stammte, also weiß war? Wir aber mit dem Wort „Sklave“ einen Schwarzen verbinden? Welche schablonierten Denkweisen verstellen unseren Blick?

Nicht alle Aus- und Einlassungen Gueneos sind nachvollziehbar, v. a. was das Verhältnis von Kunst und Politik betrifft, aber bedenkenswert sie sie allemal.

Bewertung vom 18.03.2024
Der Retter / Liewe Cupido ermittelt Bd.3
Deen, Mathijs

Der Retter / Liewe Cupido ermittelt Bd.3


sehr gut

„Was an Bord passiert, bleibt an Bord.“

Schiffsnamen, ungewohnte friesische und niederländische Orts- und Personennamen, Ortswechsel und Perspektivenwechsel, verschiedene Polizei-Dienststellen, dazu ein Rückblick auf eine Havarie von 20 Jahren und ein mysteriöser Leichenfund im Norden Englands – das Lese-Wasser, um im Bild zu bleiben, ist für einen Landbewohner zunächst recht kabbelig. Aber die Dinge klären sich, als Leser gerät man in ein ruhigeres Fahrwasser und verfolgt gespannt den Gang der Ermittlungen.

Im Zentrum steht der Kommissar Liewe Cupido, ein gebürtiger Holländer. Er ist ein eigensinniger und schweigsamer Mensch, der seine Landsleute kennt, und er kann Erfolge aufweisen. Aber er leidet unter dem frühen und ungeklärten Tod seines Vaters auf See, und er setzt alle Hebel in Bewegung, um Genaueres zu erfahren und den Schuldigen benennen zu können. Seine Traumatisierung weckt Mitleid beim Leser, das schon, aber ansonsten blieb er mir unsympathisch. Er wird in den Roman eingeführt, indem er zu einer angekündigten Sitzung mit großer Verspätung kommt, ohne Entschuldigung, ohne Kommentar. Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige, lieber Liewe! Auch ansonsten geriert er sich als genialischer Einzelgänger. Teamarbeit ist ein Fremdwort für ihn, und während seiner Dienstzeiten macht er, was er will. Kein Wunder, dass sein Vorgesetzter mit ihm Probleme hat.

Die Ermittlungen werden erschwert weniger durch länderübergreifendes Kompetenzgerangel als durch die Schweigsamkeit der Beteiligten. Dennoch erhält der Leser interessante Einblicke in die Arbeit der Seenotretter, die alle ehrenamtlich arbeiten und jeden retten, der in Seenot gerät, ohne Ansehen der Person und vor allem ohne Ansehen der Ursache. Sehr lebendig entsteht vor dem Auge des Lesers die aufwändige Rettungsaktion, als nachts bei Wind und Wetter zwei Seenotrettungsschiffe auslaufen, um die Besatzung eines havarierten Seeschleppers zu bergen.
Am Schluss werden die zunächst locker geführten Handlungsstränge zusammengezurrt. Ein viele Jahre zurückliegendes Verbrechen wird geklärt, und die schuldhaften Verstrickungen einiger Beteiligter kommen Schritt für Schritt ans Tageslicht.

Der Roman ist der 3. Band einer Serie, die durch den Ermittler und seine traumatische Vergangenheit zusammengehalten wird, aber er lässt sich problemlos isoliert lesen.

Bewertung vom 17.03.2024
Als ich noch unsterblich war (eBook, ePUB)
Ransmayr, Christoph

Als ich noch unsterblich war (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ransmayr bündelt in diesem Erzählband 13 unterschiedliche Geschichten, die, wie es der Klappentext schon sagt, in die Welt hinausführen, aber auch wieder zurückführen in Ransmayrs Heimat.

Alles an Ransmayrs Romanen und seiner Sprache ist kunstvoll. Jedes Wort, jeder Satz zeigt seinen kunstvollen und souveränen Umgang mit der Sprache. In diesem Band ist es zusätzlich noch die Anordnung der einzelnen Geschichten. Das Arrangement wirkt leichthändig, aber ist doch genau durchdacht.

Die erste Geschichte „Als ich noch unsterblich war“ zeigt das Kind, für das das Sterben nur eine Eventualität ist, noch lange keine Realität. Das Kind legt aus den Buchstaben seiner geliebten Nudelsuppe auf dem Tellerrand das Wort MEER aus und ist fasziniert von der Vorstellung, dass in diesen wenigen Buchstaben, in diesem kleinen Wort eine ganze Welt von Vorstellungen eingefangen ist und dass er, der kleine Junge, diese Welt in der Hand hat. Die letzte Geschichte “Damen & Herren unter Wasser“ nimmt diese Anfangsmotive wieder auf und schließt den Reigen: hier geht es jetzt um die Realität des Todes und das Leben nach dem Tod, aber nicht im Himmel, sondern ganz konkret in den tiefsten Tiefen des Meeres. Und auch hier geht es das Wort und um Verständigung; ein zentrales Motiv der Geschichten. Im Erzählen wird die Sterblichkeit der Menschen aufgehoben, im Klang der Worte überdauert das Erzählte die Jahrhunderte, so wie die Zeichnungen der Steinzeitmenschen ihre Wirklichkeit an unsere heutige Wirklichkeit ankoppeln und so wie der irische Sänger in seinen Liedern die Geschichte von unzähligen Havarien lebendig erhält.

Zwischen diesen beiden Geschichten spannt sich ein großer Bogen an Erzählungen. Der Erzähler nimmt seinen Leser mit um die halbe Welt. Immer aber zeigt sich Ransmayrs großes Verantwortungsgefühl der Schöpfung gegenüber, die Menschen eingeschlossen. Sehr bitter mutet einen daher ein Satz aus „Mädchen im gelben Kleid“ an: „Wer die Weißen nicht fürchtet, der kennt sie nicht.“ Sehr berührend ist auch die Geschichte „An der Bahre eines freien Mannes“, in der er seinem Vater ein Denkmal setzt: ein aufrechter Mann, der Gerechtigkeit verlangte und dafür auf öffentliches Ansehen und Status verzichtete.

Mir persönlich hat die Geschichte „Floßfahrt“ sehr gut gefallen, in der der Autor von seinen Überlegungen zu seinem Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ erzählt. Und überlegt, ob die Unwirtlichkeit des Franz-Josefs-Landes, die Schrecken des Eises und die Finsternis der Polarnacht nicht doch erstrebenswerter seien als der Kriegslärm. „Wie still, wie sanft und lichtdurchflutet musste in diesem Sommer 1915 die Abgeschiedenheit des Franz-Joseph-Landes wohl gewesen sein?“

Fazit: Ein inhaltlich abwechslungsreicher Erzählband, jede Geschichte ein sprachlicher und gedanklicher Genuss!

Bewertung vom 16.03.2024
Das Schweigen des Wassers
Tägder, Susanne

Das Schweigen des Wassers


ausgezeichnet

Susanne Tägder hat sich für ihren ersten Kriminalroman von einem Artikel von Renate Meinhof in der Süddeutschen Zeitung anregen lassen. Renate Meinhof schildert einen Fall, der sich in ihrer Heimat Mecklenburg zugetragen hatte. Ein junges Mädchen, die Tochter eines Volkspolizisten, wird in einem Dorf nach einer Tanzveranstaltung ermordet. Die Ermittlungen werden von der StaSi übernommen, und da schon bald feststeht, dass der Täter in den eigenen Reihen zu finden ist, wird ein Sündenbock gesucht und auch gefunden.

Der Roman spielt kurz nach der Wende. Der Hamburger Kommissar Groth wird in seine mecklenburgische Heimatstadt versetzt, um als Aufbauhelfer Ost seine ostdeutschen Kollegen in das neue Rechtssystem einzuführen. Er trifft auf Misstrauen und Ablehnung. Die Kollegen – und nicht nur die Kollegen – erleben die Wende als eine Zeit der Verunsicherung, weil altbekannte und vertraute Systeme weggebrochen sind. Sie fühlen sich entwurzelt, wie Susanne Tägder im vorangestellten Interview ausführt, und müssen sich notgedrungen neu orientieren, wenn sie überleben wollen.

Groth ist ein Ermittler der leisen Art. Er liest gerne, er geht ins Theater, er liebt Gedichte und Kafka, hier vor allem „Der Hungerkünstler“. In der Figur des Hungerkünstlers erkennt er beklemmende Parallelen zu dem Mordfall, in den er hineingeworfen wird. Beklemmungen überkommen ihn auch, als er die Macht alter Seilschaften und Ungerechtigkeiten im nächsten Umkreis erkennt. Und so setzt er sich mit einem altgedienten Volkspolizisten über die Weisung hinweg, keine Altfälle, und erst recht nicht diesen, aufklären zu wollen. DDR-Akten auf dem Schreibtisch? Nicht erwünscht.

Wie Groth ist auch der Roman einer der leisen Art. Natürlich geht es um die Aufdeckung eines Mordfalls, aber wer hier einen genialischen Ermittler, ein großes Showdown, gefährliche Situationen und jede Menge Aktion erwartet, wird enttäuscht werden. Stattdessen erfährt der Leser einiges über die Strafverfolgung in der DDR. Und er erfährt viel über das, was falsche Anschuldigungen im Leben eines Menschen und seiner Familie anrichten können und wie die Familie des Opfers jahrelang mit der Last leben muss, dass der Täter bewusst nicht zur Rechenschaft gezogen wird.

Das alles erzählt die Autorin in einem immer ruhigen Ton, der durch die eingestreuten Kafka-Zitate sehr nachdenklich wirkt. Diese ruhige und sehr subtile Art des Erzählens hat mir hervorragend gefallen.

Lese-Empfehlung!

Bewertung vom 13.03.2024
Notizen zu einer Hinrichtung
Kukafka, Danya

Notizen zu einer Hinrichtung


sehr gut

„Es ist nicht so schwierig, Böses zu tun.“

Die Autorin wählt ungewöhnliche Perspektiven und mutet ihren Lesern damit eine nicht leichte Kost zu. Anselm Packer ist des vierfachen Mordes schuldig und soll in 12 Stunden hingerichtet werden, der Countdown läuft. Jedes Kapitel bringt den Mörder näher an seine Hinrichtung heran. Zugleich rückt jedes Kapitel wie in einem Figurenreigen andere Personen in den Fokus. Da ist Anselms Mutter, die vor der Gewalt des Ehemannes flieht und ihre Kinder der staatlichen Fürsorge überlässt Schon hier fragt sich der Leser, inwieweit die erlebte Gewalt auch den Mörder geprägt hatte. Seine Schwägerinnen treten auf, seine Nichte, zu der er eine emotionale Bindung entwickeln kann, und seine Kindheitsgefährtin aus dem Kinderheim, die ihm seine Morde nachweist.

Die übliche Frage eines Kriminalromans nach dem Täter wird hier verdreht. Die Autorin wendet sich anderen Fragen zu. Die Morde haben nicht nur ein junges Leben ausgelöscht, sondern auch eine Zukunft. Welches Leben hätte auf die jungen Frauen gewartet? Welche Auswirkungen hat der Mord auf die Familie? Und was bedeutet seine Hinrichtung für sie? Die Angehörigen der ermordeten jungen Frauen treffen sich zum Zeitpunkt der Hinrichtung zu einer Gedenkfeier. Der Leser beobachtet die Szene und muss sich fragen, was vermutlich in diesen Menschen vorgeht und wie er sich selber verhalten würde. Und vor allem einer Frage geht die Autorin nach: Was geht in einem Menschen vor, dessen Lebenszeit abläuft? In diesen Passagen wählt sie die Du-Perspektive und rückt den Leser damit beklemmend nahe, fast verstörend nahe an den Mörder heran. Trotz dieser Nähe wird der Leser aber nicht zum Komplizen des Mörders; er begleitet ihn, das ja, aber er solidarisiert sich nicht mit ihm.

Das hängt auch damit zusammen, dass die Autorin keine Ursachen für Anselms Taten anführt. Was macht Anselm zum Mörder? Das bleibt offen. Die Autorin verschont ihren Leser mit leichtfertigen Antworten auf diese Frage, so wie sie ihn auch mit der Schilderung der Morde verschont, weit entfernt von jeder Sensationsgier.

Ähnlich zurückhaltend betrachtet sie die Todesstrafe. Sie hat einen durchaus kritischen Blick auf das amerikanische Justizsystem und seine rassistischen Auswüchse, und die detaillierte Schilderung der letzten Minuten lässt ihre Ablehnung der Todesstrafe deutlich werden.

Ein beeindruckender Roman! Sehr störend sind die vielen Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit, die den Lesefluss immer wieder unterbrechen und zur Abwertung führen.

Bewertung vom 12.03.2024
Der Letzte seiner Art
Grimbert, Sibylle

Der Letzte seiner Art


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit einem grausamen Paukenschlag: dem historisch verbürgten Massaker in einer Riesenalken-Kolonie auf Eldey, einer schroff aufragenden Felswand vor Island, dem alle dort lebenden Tiere zum Opfer fielen. Riesenalke waren begehrte Jagdobjekte. Ihr Fleisch galt als Delikatesse, Federn, Fett und auch die Bälge waren begehrt, und je seltener die Tiere wurden, umso mehr wurden sie bejagt, weil auch die Museen zu Dokumentationszwecken an den Tieren interessiert waren.

Auguste, ein junger Zoologe vom Naturhistorischen Museum in Lille, reist ca. 1830 in den Norden Europas, um die dortige Flora und Fauna zu erforschen: ein Forschungsgebiet, das damals jn Mode kam. Er wird Augenzeuge des Massakers auf Eldey und rettet durch Zufall einer der Riesenalke.

Der Riesenalk wird nun sein Haustier. Weil er so gut genährt ist, nennt er ihn Prosperity, abgekürzt Prosp. Er studiert ihn, er zeichnet ihn, er sorgt für ihn, er lässt ihn angebunden im kalten Meer schwimmen. Als er fürchten muss, dass seine isländischen Nachbarn auch Prosp töten und verkaufen wollen, wechselt er auf die Färöer Inseln, wo er in rauer und einsamer Umgebung mit Prosp lebt. Heirat und Elternschaft ändern nichts an seiner Fürsorge für das Tier, was nicht immer konfliktfrei abläuft.

Die Autorin schildert sehr schön das Zusammenleben und vor allem das Zusammenwachsen von Mensch und Tier. Ist Prosp für den jungen Wissenschaftler zunächst nur ein Forschungsobjekt, dem er sich begeistert widmet, wird er im Lauf der Zeit zu einem vertrauten Hausgenossen. Die Autorin selber ist sichtlich fasziniert von der gegenseitigen Verständigung, und hier gelingen ihr sehr eindrückliche und schöne Szenen, in denen sie die Verbundenheit von Mensch und Tier beschreibt und ihren Protagonisten tierphilosophische Überlegungen anstellen lässt. Immer aber bleibt Gus die Erzählinstanz, sodass die Autorin keinerlei Anthropomorphisierung betreibt, sondern ihren wohltuend nüchternen und unaufgeregten Ton wahren kann.

Gus aber erkennt immer mehr, dass seine grundlegende Ansicht nicht stimmt, nämlich dass die Harmonie der Welt es nicht zulasse, dass etwas Lebendiges ausgelöscht würde. Sehr geschmeidig und niemals belehrend bringt hier die Autorin den damals aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über das Verschwinden von Arten unter, wenn sie die wachsende Schwermut ihres Helden erzählt.

Wir wissen heute, dass die Riesenalke nicht aufgrund von Umweltveränderungen, sondern dass der Mensch die Ursache seiner Ausrottung ist. Insofern kann dieses kluge und unaufgeregte Buch durchaus als Plädoyer und Mahnmal aufgefasst werden.

4,5/5*

Bewertung vom 08.03.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:

In seinem Roman „David Copperfield“ literarisiert Charles Dickens seine eigene Geschichte: die Geschichte eines sozial benachteiligten Kindes, das trotz aller Widrigkeiten schließlich seinen Platz im Leben finden konnte. Als Leser hofft man, dass die Autorin bei ihrer Adaption auch das gute Ende dieses Romans übernimmt. Wüsste man nämlich nicht um den guten Ausgang der Geschichte, wären die nicht endenden Schilderungen von Armut, Gewalt, Hunger, Ausbeutung, Einsamkeit, Schmutz, Kinderarbeit, Rechtlosigkeit und Elend allüberall schwer zu ertragen.

Kingsolvers sozialkritischer Ansatz ist unüberhörbar, und man fragt sich betreten, wieso sich die Verhältnisse seit Dickens Zeiten nicht grundlegend geändert haben.

Die Autorin versetzt die Handlung in den Süden der USA, ins ländliche Virginia, in die Appalachen. Wie bei Dickens erzählt der Held aus der Rückschau seine eigene Geschichte. Damit hat er die Möglichkeit zu straffen und einen roten Faden herauszuarbeiten, indem er die Erzählung auf wesentliche Ereignisse reduziert. Diese Chance hätte Kingsolver deutlicher nutzen können, um den Roman zu kürzen. Seine Wucht hätte er dabei nicht verloren.
Ansonsten ist Kingsolvers Adaption sehr gut durchdacht. Das meiste Personal aus Dickens‘ Roman wird übernommen, die Handlung wird jedoch in wesentlichen Teilen der Zeit angepasst. So gerät Demon nach einer Fußballverletzung an einen Arzt, der wie so viele andere leichtfertig das Opioid Oxycontin verschreibt: ein Schmerzmittel, das sehr aggressiv und sehr erfolgreich beworben wurde und das zur sog. Opioid-Krise in den USA führte mit Hunderttausenden von Toten. Viele Abhängige konnten aufgrund der fehlenden Krankenversicherung keine Therapie beginnen. Demon aber hat Glück: sein Entzug wird finanziert, und er ist mit Lebenswillen gesegnet und lässt sich nicht unterkriegen.

Der Roman ist also nicht nur eine Adaption eines Klassikers und nicht nur der Roman eines Jungen mit großer Klappe. Mit der Geschichte Demons legt die Autorin den Finger auf das marode Sozialversicherungssystem der USA, auf die Falle der Armut v. a. in den ländlichen Gegenden und auf die mangelnde Fürsorge des Staates für seine schwächsten Mitglieder.

Der Roman wird eingelesen von Fabian Busch. Stimme, Modulation, Intonation – perfekt!
4,5/5*

Bewertung vom 02.03.2024
Fall, Bombe, fall
Kouwenaar, Gerrit

Fall, Bombe, fall


ausgezeichnet

„Fall, Bombe, fall!“ ist der Herzenswunsch des 17jährigen Karel, der sich in seinem behüteten Leben langweilt und sich nach aufregenden Veränderungen sehnt. „Eine Bombe in dies lahme Straße wäre doch wirklich fantastisch“ (S. 5 ff.).

Noch lässt sich Karel von seiner Mutter dirigieren, aber die Brüchigkeit seiner Familie und seiner Welt wird ihm immer deutlicher. Und dann fällt die Bombe, auf die Stadt und im übertragenen Sinn auch in Karels Leben. Karel wehrt sich nämlich gegen die Bevormundung durch seine Eltern und erlebt den Kriegsbeginn als die große Wende in seinem Leben.
Und das ist der Krieg tatsächlich. Karel verlässt die schützende Hülle seines Elternhauses und wird zum Flüchtigen, zum Heimatlosen, zum Unbehausten. Jetzt erhebt er schwere Anklagen. Er sei unvorbereitet in diesen Weltuntergang gegangen: „Warum haben sie mir keinen Gott gegeben, keinen Glauben, kein Ideal?“ (S. 73). Karel hat nichts mehr, was ihn stützt.

Ein ausführliches Nachwort von Will Kusters verweist u. a. auf die autobiografischen Elemente der Erzählung, die jedoch zum Verständnis nicht notwendig sind.

Nach wie vor eine beeindruckende und ernüchternde Erzählung!