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Readaholic

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Insgesamt 372 Bewertungen
Bewertung vom 23.09.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


weniger gut

Familie kann man sich nicht aussuchen
Früher ging Max mit seinen Großeltern Ludwig und Lore auf Sylt campen. Heute sind die beiden zu alt dafür und mieten sich lieber in einer Ferienwohnung in der „Sylter Welle“ in Westerland ein. Max ahnt, dass es nicht mehr viele Urlaube mit den beiden geben wird und fährt sie besuchen.
Da ich jedes Jahr Sylt besuche, hatte ich mich auf etwas Sylter Lokalkolorit und Meeresbrise gefreut, doch dieser Roman besteht hauptsächlich aus Reminiszenzen an Kindheit und Jugend, die allerdings größtenteils alles andere als positiv sind. Es geht um miefige Küchen, Margarine mit allen möglichen Speiseresten, Dachse in der Tiefkühltruhe und andere unappetitliche Themen. Oma Lore benimmt sich wie ein General, jeder hat nach ihrer Pfeife zu tanzen. Der Opa schreibt derweil Tagebuch und lässt seine Lore machen. Max selbst ist kein angenehmer Zeitgenosse, der schon als Kind einer alten Dame androht, sie aus dem Fenster zu werfen, als sie das schlechtgelaunte Bürschchen anspricht. Auf seine Ausraster scheint er jedoch stolz zu sein, so wie er davon berichtet.
Es gibt keine fortlaufende Geschichte, sondern eine Aneinanderreihung von Anekdoten, die teilweise doch ziemlich seltsam anmuten. Mit dem flapsigen Schreibstil und dem Humor des Autors kann ich leider überhaupt nichts anfangen. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht in der richtigen Zielgruppe für diese Lektüre. Die vielen Zeitsprünge haben das Lesen erschwert und ich habe mich zumindest bei Tag 1, der den größten Teil des Buchs einnimmt, durch die Seiten gequält. Von mir leider keine Leseempfehlung.

Bewertung vom 21.09.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


ausgezeichnet

Die verdammte Generation
Reinhold Beckmann beschreibt in diesem Buch die Geschichte seiner Familie vor dem Hintergrund des Dritten Reichs. Sein Großvater kämpfte im 1. Weltkrieg und kehrte gesundheitlich schwer angeschlagen zurück. Dessen Frau starb nicht lange nach Aennes Geburt, sodass der Schustermachermeister nun allein mit fünf Kindern zurückblieb und bald eine Stiefmutter ins Haus kam. Doch auch Aennes Vater lebte nicht mehr lang und die Kinder wuchsen bei Stiefeltern auf, bei denen es nicht sehr liebevoll zuging.
Am Beispiel des kleinen Dorfes Wellingholzhausen wird beschrieben, wie sich das politische Klima in Deutschland verändert und die Nationalsozialisten von einer kleinen unbedeutenden Minderheit zur herrschenden Partei werden. Öffentliche Ämter wie die des Schulleiters werden durch Parteitreue besetzt. Besonders schockierend finde ich die Rolle der Kirche während der Hitlerzeit. Im Brief eines Erzbischofs wird beispielsweise von „göttlicher Vorsehung“ gesprochen, als der Führer „einem verbrecherischen Attentat glücklich entronnen“ ist. Auch dass Hitlers Euthanasieprogramm in Kirchenkreisen durchaus bekannt war und sogar Unterstützung fand, hat mich entsetzt. Über viele Kapitel hinweg ähnelt das Buch eher einem Geschichtsbuch als einem Roman, was hochinteressant, aber keine einfache Lektüre ist. Die Familiengeschichte spielt im ersten Drittel des Buchs nur eine untergeordnete Rolle. Es ist herzzerreißend zu lesen, wie Aennes Brüder allesamt einberufen werden und keiner von ihnen den Krieg überlebt. Sie vergeuden ihre Jugend, feiern ein Weihnachten nach dem anderen an der Front und träumen von einem Leben mit Frau und Kindern, nachdem der ganze „Schwindel“ vorbei ist. Die Briefe nach Hause werden spärlicher, der Inhalt immer deprimierter. Das Schicksal eines Bruders bleibt über Jahre ungeklärt.
Wahrscheinlich hätte ich mich nicht für dieses Buch entschieden, wenn ich gewusst hätte, welch großen Stellenwert die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs darin einnehmen, aber ich bin froh, es gelesen zu haben. Die Geschichte meiner eigenen Familie stand mir dabei schmerzhaft vor Augen, denn auch drei meiner Onkel sind nicht aus dem Krieg nach Hause gekommen. Noch ein Tipp: unbedingt auch das Lied „Vier Brüder“ von Reinhold Beckmann anhören, der QR Code ist im Anhang enthalten.
Fazit: Ein äußerst lesenswertes Buch über das wohl dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.

Bewertung vom 15.09.2023
Die Formel der Hoffnung
Cullen, Lynn

Die Formel der Hoffnung


sehr gut

Wer hat die Nase vorn?
Dorothy Horstmann stammt aus kleinen Verhältnissen. Trotzdem schafft sie es, im Amerika der 1930er Jahre Medizin zu studieren. Ihre erste Anstellung erhält sie allerdings nur, weil die Verantwortlichen der Meinung waren, einen Mann einzustellen. Dorothy möchte nichts lieber, als die Volksseuche Kinderlähmung zu besiegen. Schon bald stellt sie Versuchsreihen an, um das Virus im Blut infizierter Patienten nachzuweisen, eine von den männlichen Kollegen belächelte Vorgehensweise. Dass sie damit richtig liegt, zeigt sich erst Jahre später.
Es war interessant, über die Poliopandemie des letzten Jahrhunderts zu lesen. Mir waren die Auswirkungen und die mangels Alternativen aus heutiger Sicht vorsintflutlichen Behandlungsmethoden nicht bekannt. Ebenfalls schockierend fand ich die sexistische Einstellung allerorten. Während die männlichen Wissenschaftler selbstverständlich Dr. Salk und Dr. Sabin genannt werden, wird Dr. Dorothy Horstmann zu „Dottie“, die Epidemiologin Isabel Morgan zu „Ibby“. Gebärend Frauen werden nicht mit Namen angeredet, sondern als „Mommy“, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Als Leser erlebt man den Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Einrichtungen. Jeder möchte der Erste sein, der einen Impfstoff gegen das tödliche Virus entwickelt. Gleichzeitig erlebt man, wie lange sich alles hinzieht, nicht zuletzt, weil nicht alle an einem Strang ziehen und persönliches Machtdenken und Skrupellosigkeit oft an erster Stelle stehen.
Das Buch beginnt ausgesprochen spannend, doch diese Spannung konnte nicht durchgehend aufrechterhalten werden. In der Mitte des Buchs weist die Geschichte doch einige Längen auf. Die Übersetzung war stellenweise holprig oder fehlerhaft. So wurde das englische „school of fish“, was nichts anderes als ein Fischschwarm ist, mit Fischschule übersetzt. Wissenschaftler „kauern“ in ihren Sesseln, die männlichen Besucher einer Party werden als „Böcke“ bezeichnet. Das hat meinen Lesegenuss etwas geschmälert. Trotzdem ist es ein lesenswertes Buch, aus dem ich einiges gelernt habe, beispielsweise, dass die Polioimpfung an siebenundsiebzig Millionen Kindern in der UdSSR getestet wurde. Ein Buch über eine starke Frau und Wissenschaftlerin und ein wichtiges Kapitel der Medizingeschichte.

Bewertung vom 06.09.2023
Schwarzvogel / Fredrika Storm Bd.1
Skybäck, Frida

Schwarzvogel / Fredrika Storm Bd.1


gut

Mehr Familiengeschichte als Krimi
Fredrika Storm kehrt nach Jahren bei der Polizei in Stockholm ins südschwedische Schonen zurück. Sie arbeitet bei der Kriminalpolizei in Lund, nicht weit von ihrem Heimatort Harlösa entfernt. Kaum ist sie dort angekommen, bricht eine junge Frau auf einem zugefrorenen See im Eis ein und ertrinkt. Fredrikas Großmutter ist Zeugin des Vorfalls. Sie hat den Eindruck, dass jemand hinter der jungen Frau her war und diese deshalb panisch auf den nur mit einer dünnen Eisschicht bedeckten See lief.
Fredrika und ihr Ermittlungspartner Henry Calment werden auf den Fall angesetzt. Dabei muss Fredrika auch Angehörige ihrer eigenen Familie verhören, was diese ihr übelnehmen. In der Familie schwelt so mancher Konflikt und Fredrika steht zwischen den Fronten.
Sie findet heraus, dass die Tote Recherchen zu einem vor langer Zeit verschwundenen Mann aus der Gegend angestellt hat. Woher kannte sie ihn und was verbindet die beiden? Etwa zur selben Zeit wie Tobias Falk verschwand auch Fredrikas Mutter Annika. Gibt es auch hier einen Zusammenhang oder ist dies reiner Zufall? Weder Fredrikas Vater noch sonst irgendjemand aus der Familie ist bereit, ihr über das plötzliche Verschwinden der Mutter Auskunft zu geben.
Mir waren die Beschreibungen von Fredrikas weitläufiger Familie zu viel. Von den Urgroßeltern bis zu sämtlichen Onkels und Tanten und deren Kinder, zu jedem wurde etwas erzählt. Darunter litt leider die Spannung. Ich empfand diesen Roman eher als Familiengeschichte und nur am Rande als Krimi. Die Leser werden ewig lange hingehalten und mit kleinen Informationsbröckchen abgespeist, bis man dann endlich erfährt, was eigentlich passiert ist. Vieles, was zur Aufklärung der Todesfälle beiträgt, ist ziemlich weit hergeholt und Fredrikas Alleingänge haarsträubend. Das Schicksal von Fredrikas Mutter bleibt offen. Ein Cliffhanger für die Folgebände, die ich aber voraussichtlich nicht lesen werde. Von einem Nr. 1 Bestseller aus Schweden hätte ich mehr erwartet.

Bewertung vom 02.09.2023
Gewässer im Ziplock
Vowinckel, Dana

Gewässer im Ziplock


ausgezeichnet

Die 15-jährige Margarita lebt mit ihrem alleinerziehenden Vater Avi in Berlin, die Mutter hat sie verlassen, als Margarita noch ganz klein war. Avi ist strenggläubiger Jude und Kantor in einer jüdischen Gemeinde. Wie jedes Jahr verbringt Margarita den Sommer bei ihren Großeltern mütterlicherseits in Chicago. Früher hat ihr das gefallen, heute langweilt sie sich. Als ihre Großmutter den Vorschlag macht, Margarita könnte ihre Mutter Marsha in Jerusalem besuchen, wo diese einen Lehrauftrag angenommen hat, weigert sich Margarita zunächst. Schließlich hat sie ihre Mutter seit 13 Jahren nicht mehr gesehen und auch sonst keinen Kontakt zu ihr gehabt.
Trotz großer Bedenken fliegt sie. Nach anfänglichen Problemen und Missverständnissen, bei denen Marsha gleich ihre Unzuverlässigkeit beweist, reisen die beiden durch Israel, mal keimt so etwas wie Zuneigung auf, dann streiten sie sich wieder, dass die Fetzen fliegen. Das Ganze kulminiert darin, dass Margarita abhaut und damit Mutter, Vater und Großeltern in Panik versetzt und Avi ebenfalls nach Israel fliegt.
Ich wollte dieses Buch gern lesen, um etwas über den jüdischen Glauben zu erfahren. In der Tat nimmt die Beschreibung der vielfältigen Rituale einen großen Platz in diesem Roman ein. Das lückenhafte Glossar hebräischer Begriffe war zum Verständnis nur bedingt hilfreich. Die Vielzahl an nicht erklärten und oft auch aus dem Zusammenhang nicht hervorgehenden Begriffe ist meine größte Kritik an diesem Roman.
Den Deutschenhass, dem Margarita in Israel ausgesetzt ist, fand ich schlimm. Was kann eine Fünfzehnjährige für den Holocaust? Auch Avi, der sich bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden hat, steht Deutschland sehr kritisch gegenüber. Deutsch bezeichnet er als Nazi-Sprache, seine Überlegung, ob es in Auschwitz wohl Handcreme gebe „mit Tote-Juden-Asche“, die wahrscheinlich sarkastisch sein sollte, finde ich in höchstem Maße geschmacklos.
Wir erleben Margarita als verunsicherten Teenager, der seinen Platz in der Welt sucht und einfach nur gesehen werden möchte. Die sich ständig streitenden Eltern machen es ihr nicht leicht. Am Schluss muss sie eine große Entscheidung treffen, jedoch ist nicht ganz klar, wie sie sich auf Dauer entscheidet. Ein durchaus empfehlenswertes, aber nicht einfach zu lesendes Buch über die Sorgen und Nöte eines Teenagers in der Findungsphase, eine schwierige Familienkonstellation und jüdisches Leben in Deutschland, den USA und Israel.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.08.2023
Elternhaus
Mank, Ute

Elternhaus


sehr gut

Wie lange braucht man ein Elternhaus?
Die drei Schwestern Sanne, Petra und Gitti wachsen in einer Kleinstadt im sogenannten schmalen Haus auf. Alle drei sind längst aus dem Haus, die Eltern werden alt und schaffen es nicht mehr, sich wie früher um Haus und Garten zu kümmern. Also beschließt Sanne, die älteste und einzige der Schwestern, die im Ort geblieben ist, dass es Zeit für die Eltern wird, in eine altersgerechte Wohnung umzuziehen. Ihre Schwestern fragt sie dabei nicht nach deren Meinung, schließlich ist sie diejenige, die sich um die Eltern kümmert. Die Entscheidung fällt sie auch über die Köpfe der Eltern hinweg.
Petra wohnt weit weg in einer Großstadt, ist Single und karriereorientiert. Die alleinerziehende jüngste Schwester Gitti wird von Sanne gebeten, ihr beim Ausräumen des schmalen Hauses zu helfen. Sanne selbst ist seit langem verheiratet und lebt mit ihrem Mann im eigenen Häuschen. Die beiden Kinder sind vor kurzem ausgezogen, was Sanne zu schaffen macht. In ihrer Ehe läuft nicht alles rund, alles wächst ihr über den Kopf. Sowohl Gitti als auch Sannes Tochter Lisa halten den Umzug der Eltern für einen Fehler, was Sanne nicht hören will.
Als Petra eines Tages unangekündigt in ihren Heimatort zurückkommt, ist sie hell entsetzt, dass das Elternhaus verkauft werden soll. Besonders empört sie die Tatsache, dass Sanne sie in diese schwerwiegende Entscheidung nicht mit einbezogen hat. Es ist schließlich auch ihr Elternhaus!
Ute Mank erzählt in diesem Roman eine Geschichte, wie sie jeden Tag irgendwo stattfindet. Wer kümmert sich um die Eltern, wenn sie alt werden? Können sie überhaupt noch allein wohnen und wie lange noch? Wäre es nicht besser, rechtzeitig nach etwas Altersgerechtem zu suchen? Wieviel Wahrheit steckt in dem Sprichwort, dass man einen alten Baum nicht verpflanzen soll?
„Elternhaus“ ist ein unaufgeregter Roman, in dem Alltägliches passiert. Die im Heimatort zurückgebliebene Schwester fühlt sich benachteiligt, hat das Gefühl, alles hängt an ihr und beneidet die beiden anderen um ihre vermeintliche Freiheit. Dass sich Schwestern mit der Zeit entfremden, kommt sicher häufig vor. Dass sie jedoch gar nicht miteinander kommunizieren und auch die Eltern Petra nicht über ihren Umzug informieren, empfinde ich doch als reichlich seltsam. Ich fand es interessant, die Entwicklung der Schwestern mitzuerleben und das Buch hat bei mir viele Erinnerungen wachgerufen. Kein absolutes Lesehighlight, aber gut zu lesen und unterhaltsam.

Bewertung vom 19.08.2023
Skorpion / David Keller Bd.1
Basanisi, Matt;Schneider, Gerd

Skorpion / David Keller Bd.1


gut

Eine wilde Jagd
Der Schweizer Ermittler David Keller und sein italienischer Kollege Monti treffen sich in Palermo, um von einem Informanten Hinweise zur Mafia zu erhalten. Kaum hat das Treffen stattgefunden, wird der Informant erschossen. Rache der piovra, der Krake, wie die Mafia in Italien auch genannt wird, da es nichts nützt, einer Krake ein Tentakel abzuschlagen, es wächst einfach wieder nach. So scheint auch die Mafia unschlagbar, doch Keller und Monti wollen sich nicht geschlagen geben.
„Skorpion“ nimmt seine Leser mit auf eine wilde Jagd, von Sizilien nach Antwerpen, von der Schweiz nach Liechtenstein, Miami und den Libanon, um nur ein paar der zahlreichen Schauplätze zu nennen. Genauso schnell wie der Wechsel zwischen den Schauplätzen, springen die Autoren von einer Zeitebene zur anderen und es ist nicht ganz einfach, den Überblick zu behalten, was wann stattgefunden hat. Es geht um die Mafia, al Khaida, den Krieg im Kosovo, südamerikanische Drogenkartelle, chinesische Verbrecherorganisationen, CIA und FBI, um Liebe, Verrat und Korruption. Ganz schön viel, was sich die beiden Autoren hier vorgenommen haben, der eine ein Ex-Mafiaermittler, der andere ein Regisseur. Zu viel für meinen Geschmack. Mir war regelrecht schwindlig von den vielen internationalen Verstrickungen und dem ständigen Hin und Her. Mir schien es beim Lesen, als hätte der Regisseur Gerd Schneider beim Schreiben bereits die Vorlage für einen neuen Film im Kopf gehabt: Palermo, Mord – cut – Antwerpen, Drogenfund – cut, usw. Leider hat dies bei mir keine Spannung erzeugt, im Gegenteil. Ich war froh, als ich diesen dicken Schmöker, der für meine Begriffe mit Fakten und Handlungssträngen überfrachtet ist, zu Ende gelesen hatte.

Bewertung vom 09.08.2023
Refugium / Stormland Bd.1
Lindqvist, John Ajvide

Refugium / Stormland Bd.1


ausgezeichnet

Millennium 2.0
Die frühere Polizistin Julia Malmros, die sich inzwischen als Krimiautorin einen Namen gemacht hat, bekommt von ihrem Verlag das Angebot, die beliebte „Millenium“ Reihe des verstorbenen Kultautors Stieg Larsson weiterzuschreiben. Voller Elan stürzt sie sich auf das Projekt, braucht jedoch Nachhilfe, was das Thema Hacking anbelangt. So lernt sie den Endzwanziger Kim Ribbing kennen, vor dem wohl kein Computersystem sicher ist. Kim ist eine auffallende Erscheinung, groß, hellhäutig, mit langem schwarzem Haar. Die 20 Jahre ältere attraktive Julia Malmros und Kim fühlen sich schnell zueinander hingezogen.
Als die beiden sich an Mittsommer in Julias Ferienhäuschen auf einer Schäreninsel aufhalten, kommt es auf der Nachbarinsel zu einer Schießerei, bei der sechs Menschen getötet werden. Einer der Toten ist der wohlhabende Unternehmer Olaf Helander, ein Jugendfreund Julias, die anderen Opfer Helanders Frau sowie Geschäftspartner. Die einzige Überlebende des Massakers ist die vierzehnjährige Tochter Astrid, die jedoch so schwer traumatisiert ist, dass sie zunächst keine Aussage zum Hergang des Verbrechens machen kann.
Julia und Kim beginnen parallel zu den polizeilichen Ermittlungen Nachforschungen anzustellen. Bald erhärtet sich der Verdacht, dass der Mord in Zusammenhang mit Helanders Geschäften steht.
Ich fand diesen ersten Band einer geplanten Trilogie ausgesprochen spannend. Das ungleiche Ermittlerpaar Malmros/Ribbing erinnert zwar stark an Mikael Blomqvist und Lisbeth Salander, doch hat mich das nicht gestört. Die Erklärung ist angeblich, dass es Lindqvist war, dem angeboten wurde, Millenium weiterzuschreiben, dem Verlag sein Entwurf dann jedoch nicht gefiel, weshalb der Autor einfach die Namen der Protagonisten änderte und den Beginn seiner eigenen Trilogie daraus machte. Falls dies stimmt, war es wirklich ein genialer Schachzug, zumal „Refugium“ wahrscheinlich weitaus erfolgreicher sein wird als es eine künstlich am Leben gehaltene Millenium-Reihe je sein wird! Ich bin auf die nächsten beiden Bände gespannt, denn was Ribbing anbelangt, bleiben in diesem Band noch viele Fragen offen.
Mir hat das Buch spannende Lesestunden in einem verregneten Urlaub geschenkt.

Bewertung vom 19.07.2023
Hotel Silence
Ólafsdóttir, Auður Ava

Hotel Silence


sehr gut

Alles kann passieren. Es kann auch anders werden.
Der Isländer Jonas sieht in seinem Leben keinen Sinn mehr. Die Ehe ist zu Ende, er hat das Gefühl, alles im Leben, positiv wie negativ, bereits erlebt zu haben und beschließt deshalb zu sterben. Seinen ursprünglichen Plan sich zu erschießen, verwirft er, er möchte es niemandem und schon gar nicht seiner Tochter zumuten, seine Leiche zu finden. Deshalb bucht er ein One-Way Ticket in ein Land, in dem noch vor kurzem Bürgerkrieg herrschte. Sein einziges Gepäckstück ist ein Werkzeugkasten, für den Fall, dass er sich erhängen möchte und einen Haken anbringen muss.
Es wird nicht gesagt, um welches Land es sich handelt, und für die Geschichte ist dies auch unerheblich. Viel wichtiger ist es, dass dieser ungewöhnliche Schauplatz ihm die Augen öffnet, welch vielfaltige Arten von Leid es gibt. Seine eigene Depression tritt angesichts von Menschen mit fehlenden Gliedmaßen, die durch die Hölle gegangen sind, in den Hintergrund. Zunächst wird Jonas misstrauisch beäugt. Keiner glaubt ihm, dass er in diesem noch von Minen übersäten Land Urlaub machen will. Vielmehr könnte er zu denjenigen gehören, die versuchen, Geschäfte in dem zerstörten Land machen.
Als Jonas den Bitten des Geschwisterpaars, das das Hotel Silence führt, in dem er abgestiegen ist, nachkommt, ein paar Reparaturen durchzuführen, spricht sich dies in dem kleinen Ort herum und bald werden seine Dienste von allen Seiten nachgefragt. Jonas ist ein Autodidakt, er repariert provisorisch mit dem wenigen Werkzeug, das ihm zur Verfügung steht, doch anscheinend ist er der Einzige weit und breit, der handwerklich begabt ist. Dieser Teil der Geschichte erscheint mir nicht sehr realistisch, doch tut es dem Ganzen keinen Abbruch. Herrscht am Anfang des Romans noch Jonas‘ niedergedrückte Stimmung vor, spürt man nun etwas von Aufbruchstimmung und Hoffnung. Allerdings erfährt man auch von den traumatischen Erfahrungen der Einheimischen, die jedoch versuchen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Nicht fragen, was jemandem Schlimmes zugestoßen ist (oder was eine Person Schlimmes getan hat), sondern nach vorne schauen, ist die Devise.
Der Schauplatz dieses Romans ist sehr ungewöhnlich. Ich habe zwar schon Romane gelesen, die beispielsweise in Afghanistan spielen und aus Sicht der Soldaten erzählt werden, aber über ein Land, in dem gerade erst ein Bürgerkrieg zu Ende gegangen ist und die Leute versuchen, wieder eine Zukunft aufzubauen, hatte ich noch nie gelesen.
Im Übrigen befasst sich das Buch zwar mit ernsten Themen wie Krieg, Vergewaltigung, Depression usw., doch gibt es auch jede Menge lustige und skurrile Szenen. Auch der besondere Schreibstil und die vielen bemerkenswerten Zitate machen das Buch wirklich lesenswert. Hervorheben möchte ich noch das wunderschön gestaltete Cover, eine weiße Wasserlilie auf schwarzem Grund. Es gibt so viele Bücher, bei denen die Covergestaltung vollkommen willkürlich erscheint. Ich freue mich deshalb immer, wenn ein Bezug zum Buch besteht, was hier der Fall ist.

Bewertung vom 15.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns muss die 81jährige pflegebedürftige Frieda in ein Seniorenheim ziehen. Ihr gesamtes Leben gerät aus den Fugen. Ein wohlmeinender Pfleger löst durch eine unbedachte Aktion traumatische Erinnerungen bei ihr aus, die sie ihr ganzes Leben verdrängt hatte.
Als junge Frau hatte sich Frieda in den verheirateten Otto verliebt und war von ihm schwanger geworden. Otto will von dem Kind nichts wissen und seine Ehe nicht gefährden. Halbherzig versucht er, Frieda zu helfen, als diese von den Eltern vor die Tür gesetzt wird. Als „gefallenes Mädchen“ ist es in der holländischen Provinz in den 1960er Jahren jedoch unmöglich, eine halbwegs akzeptable Bleibe zu finden. Es ist herzzerreißend zu lesen, wie herablassend Frieda behandelt wird und sich alle, Freunde, Familie, Arbeitgeber, von ihr abwenden. Unter menschenunwürdigen Bedingungen bringt sie ihr Kind zur Welt.
Wie zu erwarten, ist Frieda keine glückliche Mutterschaft gegönnt. Zu Otto hat sie keinen Kontakt mehr. Sie heiratet, bekommt ein zweites Kind und verdrängt die schrecklichen Ereignisse für viele Jahrzehnte.
Die Geschichte wird abwechselnd in der Jetztzeit und der Vergangenheit erzählt, wir erleben Frieda also als alte, entwurzelte Frau, die ins Heim abgeschoben wurde, und als junge hoffnungsvolle Frau, die das ganze Leben noch vor sich hat. Die eigenwillige Frieda war mir ausgesprochen sympathisch, ich habe sehr viel Empathie für sie empfunden. Ich fand es im Übrigen ganz erstaunlich, wie gut es einem männlichen Autor gelungen ist, Empfindungen einer Frau, beispielsweise während der Geburt, zu schildern. Die einzelnen Charaktere sind sehr gut herausgearbeitet und die Schilderungen so lebendig, dass man meint, dabei zu sein, beziehungsweise die Situation selbst zu erleben. Auf mich hat dieses Buch eine Sogwirkung ausgeübt. Der Autor setzt mit diesem Buch allen Frauen dieser Generation ein Denkmal, die in einer ähnlichen Situation waren und diese Art der Ausgrenzung erleben mussten. Ein außergewöhnliches Buch mit wunderschön gestaltetem Cover (und Lesebändchen, was ich sehr schätze). Absolute Leseempfehlung!