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Bücherbummler

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Insgesamt 104 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2022
Legende vom Glück ohne Ende
Plenzdorf, Ulrich

Legende vom Glück ohne Ende


ausgezeichnet

Als Paul und Paula sich kennenlernen und verlieben, sind die Bedingungen alles andere, als ideal. Paul ist mit einer zwar wunderschönen, aber nicht sehr intelligenten Frau verheiratet, und hat ein Kind. Paula hat sogar zwei. Von zwei Männern. Und überlegt gerade, dem Werben eines Verehrers nachzugeben, um endlich ein bequemeres und geregeltes Leben führen zu können. Trotzdem kommt es zu einer geradezu unvermeidlichen Annäherung zwischen den beiden, die aber abrupt endet, als eine Tragödie über Paula hereinbricht. Sie sperrt Paul vollständig aus ihrem Leben aus, aber der bleibt hartnäckig, bis er schließlich Paulas Mauer durchbrechen kann. Einem Happy End scheint nichts im Wege zu stehen, bis Paula schwanger wird und bei der Geburt des Kindes stirbt.

So weit ist die Geschichte allen bekannt, die den Film „Die Legende von Paul und Paula“ gesehen haben, aber im Buch geht es noch weiter. Hier lernt Paul Laura kennen, ein Ebenbild von Paula, und beschließt, zu glauben, dass Paula in Laura zu ihm zurückgekehrt ist. Für eine Weile scheint es eine Möglichkeit für einen guten Ausgang der Geschichte zu geben. Doch dann erfährt Paul etwas, das alles ändert. (Und nein, ich spoilere nicht wie besessen, das alles ist auch auf dem Cover zu lesen).

Von Ulrich Plenzdorf habe ich bisher nur vor vielen Jahren mit Begeisterung „Die neuen Leiden des jungen W.“ gelesen, vermutlich sein bekanntestes Buch. Von seinen Filmen kenne ich gar keinen und nachdem ich „Legende vom Glück ohne Ende“ gehört habe, habe ich das Gefühl, dass da noch eine große kulturelle Lücke ist, die geschlossen werden will.

Vorneweg sei gesagt, dass mir das Hörbuch hervorragend gefallen hat. Was mich aber verwirrt, ist, dass ich immer wieder lese, was für eine wunderschöne Liebesgeschichte das sei. Ich fände das Wort „besondere“ angemessener. Alleine was Paul teilweise aufführt, um Paula für sich zu gewinnen, ist eigentlich nichts anderes, als grenzübergreifendes Stalking. Durch den lockeren und faktischen Ton der Erzählung fällt es vielleicht nicht so ins Gewicht, aber ich persönlich würde über einen Mann und den Umgang mit ihm sehr genau nachdenken, wenn er ein solches Verhalten an den Tag legen würde. Und ich fand es erstaunlich, wie wenig dieser Aspekt thematisiert wurde. Vielleicht eine Frage der Entstehungszeit. Ich bin auch nicht der Ansicht, dass Plenzdorf im Sinn hatte, einen Roman über Belästigung zu verfassen, aber auf eine einfache Liebesgeschichte kann man ihn nicht reduzieren, dafür sind die Charaktere viel zu komplex und grenzwertig in ihrem Handeln und Denken.

So oder so fand ich es ausgesprochen intelligent, als Erzähler einen Bekannten/eine Bekannte einzusetzen, die nah an dem Paar dran ist, aber auch die ganzen Gerüchte über die beiden mitbekommt. Wunderbar, wie sich durch Gerede die namengebenden Legenden wild um Paul und Paula ranken, während man gleichzeitig als Leser befriedigender Weise erfährt, wie es wirklich war.
Diese Bekannte wird im Hörbuch perfekt von Cornelia Heyse gesprochen. Es ist so ein Vergnügen, ihr zuzuhören. Wie sie immer den richtigen Ton trifft, die Figuren charakterlich genau erfasst und zum Leben erweckt… Ich könnte es mir nicht besser vorstellen.

Die „Legende vom Glück ohne Ende“ ist ein Hörerlebnis, das Spaß macht, aber auch nachdenklich, das einen amüsiert und weinen lässt. Und einen Hauch von DDR-Nostalgie mit sich bringt. Eine klare Hörempfehlung.

Bewertung vom 06.07.2022
Das kleine Gespenst
Preußler, Otfried

Das kleine Gespenst


ausgezeichnet

Schon seit vielen hunderten von Jahren lebt das kleine Gespenst auf Burg Eulenstein. In der Geisterstunde, zwischen Mitternacht und ein Uhr, sieht es in der Burg nach dem Rechten, erzählt den Porträts der einstigen Burgherren von alten Zeiten und plaudert mit seinem guten, vornehmen Freund, dem Uhu Schuhu. Eigentlich liebt das kleine Gespenst sein Leben so wie es ist, aber einen Wunsch hat es doch: Es möchte einmal die Welt bei Tageslicht sehen. Doch alle Versuche, jenseits der Geisterstunde wach zu bleiben, misslingen, Punkt ein Uhr fällt das kleine Gespenst in einen tiefen Schlaf.
Doch dann passiert eines Tages das Wunder. Das kleine Gespenst wacht tatsächlich anstatt um Mitternacht zur Mittagsstunde auf. Aber das ist noch nicht alles. Als es in einen Sonnenstrahl gerät, wird es komplett schwarz. Auch die Erkundung des Städtchens Eulenberg, das am Fuße der Burg liegt, läuft nicht, wie erträumt. Die Bewohner haben Angst vor ihm und nennen es nur den „Schwarzen Unbekannten“. Schnell sehnt sich das kleine Gespenst nach seinem alten Leben zurück. Aber dafür braucht es Hilfe. Hilfe von neuen Freunden und von dem weisen Uhu Schuhu.

Als Kind hatte ich ein paar Bücher von Otfried Preußler in meinem Bücherregal. „Der kleine Wassermann“, „Die kleine Hexe“, die drei Bände über den „Räuber Hotzenplotz“ und „Hörbe mit dem großen Hut“. Aber an „Das kleine Gespenst“ kann ich mich nicht wirklich erinnern, und so wurde es höchste Zeit, diese Lücke zu schließen.

Ich bin mir sicher, dass das Buch ein großer Spaß für kleine Leser ist, aber für mich hat es nicht zu denen gehört, die auch für Erwachsene noch wunderbar sind. Es hatte relevante Themen, die ich in einem Kinderbuch erwarte, wie Freundschaft, das Erfüllen von Träumen, sein wahres Selbst erkennen etc., aber ich in der Umsetzung kam es mir schwächer vor, als Preußlers andere bekannte Werke, hat ein wenig an Originalität und Pfiff fehlen lassen. Außerdem kam es mir auch weniger zeitlos vor, als Werke zeitgenössischer Autoren von Preußler.

Was für mich das Hörerlebnis dann aber doch noch zu einem solchen gemacht hat, war der Sprecher. Gelesen wird die neue Hörbuchversion nämlich von Jens Wawrczeck. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Die Stimmen, die er den verschiedenen Figuren gibt, Tempo, Betonung… Es stimmt einfach alles. Und hier können sich dann auch wirklich Groß und Klein amüsieren.

Natürlich kann ich jetzt nicht mehr beurteilen, wie sich mir „Das kleine Gespenst“ eingeprägt hätte, wenn ich es mit sechs Jahren gelesen hätte. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht den gleichen Eindruck hinterlassen hätte, wie „Räuber Hotzenplotz“ oder „Der kleine Wassermann“. Trotzdem ein Klassiker, den jedes Kind kennen sollte.

Bewertung vom 03.07.2022
Menschen im Hotel
Baum, Vicki

Menschen im Hotel


sehr gut

„Ich habe immer den Verdacht, das richtige, das wirkliche, das eigentliche Leben spielt sich ganz woanders ab, das sieht ganz anders aus. Wenn man nicht dazu gehört, dann ist es gar nicht so leicht, hineinzukommen, verstehen Sie?“
(Menschen im Hotel, 2. Kapitel)

Berlin in den 1920ern. Wir befinden uns in einem Hotel der gehobenen Klasse, in dem sich, wie es in Hotels aller Klassen üblich ist, die Wege der unterschiedlichsten Individuen kreuzen. Da wäre Dr. Otternschlag, der als Dauergast stets auf gepackten Koffern sitzt, dann aber doch die Tage, anstatt weiterzureisen, in der Lobby des Hotels verbringt und die anderen Gäste im Blick behält. Der Aufenthalt der berühmten Balletttänzerin Grusinskaya hingegen ist klar abgesteckt, ihr sich im Sinken befindender Stern wird schon bald in einem anderen Theater erwartet. Weitestgehend unbemerkt ständig in ihrer Nähe finden wir Baron von Gaigern, einen Hoteldieb, der es auf die Perlen der Grusinskaya abgesehen hat.
Außerdem befindet sich Direktor Preysing im Haus, der auf Geschäftsreisen nach Berlin immer hier absteigt, sich dieses Mal aber in der schwierigen Situation befindet, seine Firma vor dem Bankrott retten zu müssen. Fast unmöglich wird es für Otto Kringelein, einen Angestellten des Preysingschen Unternehmens, ein Zimmer zu bekommen. Er ist ohne das Wissen seines Chefs in der Stadt und will nicht in das Bild des Empfangspersonals, wie ein Gast des noblen Etablissements auszusehen hat, passen. Aber Kringelein ist unheilbar krank und wild entschlossen, seine letzten Tage mit seinem Ersparten ein Leben zu führen, von dem er bisher nur träumen konnte.
Alle diese Gäste sind auf ihre Weise auf der Suche nach etwas, aber können nicht ahnen, dass die Begegnungen untereinander vieles ändern werden.

Vicki Baum gehört zu jenen Autoren, an denen sich die Geister, besonders der Fachwelt, scheiden. Die einen zählen sie zur gehobenen Unterhaltungsliteratur, andere würden um keinen Preis der Welt ihre Bücher auch nur anfassen. Sie selbst soll sich als „erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte“, bezeichnet haben, die sich nie eingebildet hat, dass „meine Bücher mich überleben werden“ (Quelle: Wikipedia). Zumindest mit letzterer Aussage lag sie eindeutig falsch.

Ich bin keine Literaturwissenschaftlerin, doch ich muss sagen, dass mich Baums Stil in „Menschen im Hotel“ öfters an Mario Simmel erinnert hat, von dem ich zugegebenermaßen nur ein Buch gelesen habe, welches ich aber ziemlich schrecklich fand. Simmel hatte für mich etwas angestaubtes und stereotypes, das mich über sehr, sehr lange Strecken gelangweilt hat. Und hier kann und möchte ich für Vicki Baum eine Lanze brechen. Ich kann nicht behaupten, dass ihre Figuren nicht stereotyp sind, aber sie sind es mit Tiefe und Hintergrund, und das macht sie interessant und menschlich individuell, während sie gleichzeitig eine große Fläche zur Identifikation bieten. Mir hat jeder ihrer Charaktere bis hinunter zum Liftboy Freude gemacht. Längen hatte ihr Roman bei ein oder zwei Gelegenheiten allerdings auch, aber in einem gut erträglichen Maß. Es sei ihr verziehen, zumal mich im Gegenzug ein oder zwei Wendungen der Geschichte tatsächlich überrascht haben.

Ausgesprochen charmant ist auch Baums subtiler Humor, der unter dem gesamten Roman, wie tragisch es auch wird, liegt. Mir kam es wie ein Sinnbild dafür vor, wie wichtig wir uns selbst immer wieder nehmen, obwohl wir für das große Weltgeschehen kaum eine Rolle spielen.

Bin ich nach der Lektüre von „Menschen im Hotel“ ein großer Vicki Baum Fan geworden, der sofort und auf der Stelle alle ihre Bücher lesen möchte? Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber ich werde mich auf jeden Fall auf die Seite derer schlagen, die ihr Werk als gehobene Unterhaltung betrachten, und mich nicht schämen, auch in der Öffentlichkeit mit einem ihrer Romane in der Hand gesehen zu werden.

Bewertung vom 01.07.2022
Tranquilla Trampeltreu und weitere Fabeln von Michael Ende
Ende, Michael

Tranquilla Trampeltreu und weitere Fabeln von Michael Ende


ausgezeichnet

Kaum dass die Schildkröte Tranquilla Trampeltreu hört, dass Sultan Leo alle Tiere zu seiner Hochzeit einlädt, steht für sie fest: Sie will an diesem Fest teilnehmen. Keines der Tiere, denen sie unterwegs begegnet, glaubt, dass sie es rechtzeitig schaffen kann bei ihrem Tempo. Doch Tranquilla Trampeltreu lässt sich nicht entmutigen und hält an der Verwirklichung ihres Traumes fest, Schritt für Schritt.
Der Lindwurm hingegen hat ein ganz anderes Problem: seinen Namen. Denn wenn er irgendwas nicht ist, dann ist das lind. Zum Glück begegnet er dem Schmetterling, der dieses belastende Problem lösen kann.
Schlechter ergeht es dem Nashorn Norbert Nackendick. Er ist zwar unglaublich gut im Einschüchtern, Vergraulen und dem Feiern seiner eigenen Großartigkeit, aber wohin ihn diese Verhalten letztendlich fühlt, das hat er nicht vorausgesehen.

Michael Ende hat wohl unzählige Kinder auf der ganzen Welt durch ihre Kindheit begleitet. Auch ich habe seine Geschichten geliebt, vor allem „Die unendliche Geschichte“, die beiden Bücher über Jim Knopf und den satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch. Heute, Jahrzehnte später, nach meiner ersten Begegnung mit „Tranquilla Trampeltreu und weitere Fabeln“ muss ich sagen, dass Ende auch für mich als Erwachsene ein ausgesprochenes Vergnügen war. Vielleicht in gewisser Weise noch mehr, als damals als Kind, weil ich seinen wunderbaren Sprachgebrauch, der sich alleine schon in der fantasievollen Namensgebung seiner Charaktere zeigt, viel mehr zu schätzen weiß. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich die Tiefe seiner Erzählungen als Kind schon begreifen konnte, aber ich glaube, dass Endes Botschaften Samen sähen, die man mit in sein späteres Leben nimmt, und die heute noch in einem Resonanz finden.

Und als wäre Ende für sich nicht schon genug, wurde das Hörbuch auch noch von Otto Mellies eingelesen. Einem Meister der alten Schule, von dessen großartige Stimme ich mir auch das Telefonbuch mit Kusshand vorlesen lassen würde, und dessen Tod 2020 ein großer Verlust für die Hörbuchwelt war.

Aber meine Lobeshymne wäre nicht komplett, wenn ich nicht auch das wunderbare Cover von Julia Nüsch erwähnen würde. Ehrlich gesagt war es genau dieses, was mich überhaupt zu diesem Hörbuch hingezogen hat. Der liebevolle, detaillierte und niedliche Stil erweckt den Wunsch, unbedingt auch noch das Buch lesen bzw. anschauen zu wollen.

Ich nehme an, es ist schon offensichtlich geworden: Eine ganz klare Hör- und/oder Leseempfehlung von mir. Und nicht nur für Kinder.

Bewertung vom 29.06.2022
Internat (MP3-Download)
Zhadan, Serhij

Internat (MP3-Download)


sehr gut

Pascha will seinen Neffen aus dessen Internat nach Hause holen. Zu unsicher ist die Situation geworden, der Junge soll Zuhause bei seiner Familie sein. Weit hat Pascha es nicht, das Internat liegt in der nächsten größeren Stadt, unweit seines Dorfes. Aber als er losfährt, merkt er schnell, dass sich das Kampfgeschehen verlagert hat, die Situation viel brenzliger ist, als er ahnte. Mitten durch die Front geht seine Reise und der Rückweg mit dem Jungen wird zu einer Odyssee, die mehrere Tage dauern und beide in Gefahr bringen wird.

Bevor ich mir „Internat“ angehört habe, war mir der Name Serhij Zhadan unbekannt. Dabei sind schon mehrere seiner Romane, von denen einige mit diversen Preisen ausgezeichnet wurden, ins Deutsche übersetzt worden. Aber er ist nicht nur als Autor bekannt, sondern auch für seinen politischen und humanitären Einsatz in der und für die Ukraine. Wohl in Verbindung dieser beiden Tatsachen erhielt er erst vor wenigen Tagen den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.

Zhadan, der selbst in Starobilk in Luhansk geboren und in Charkiw aufgewachsen ist, geht auffallend sparsam mit der Nennung von Orten, Namen und Nationalitäten um. So ist fast immer nur die Rede von „unsere“ und „die anderen“, wobei vage bleibt, wer jetzt wer ist und wer zu wem gehört. Oder auch nicht. Dadurch entsteht eine Unklarheit, die mich auf der einen Seite verwirrt hat und etwas verloren zurückließ, auf der anderen Seite wurde es aber gerade dadurch möglich, besser zu begreifen, welchem Chaos die Zivilisten in einem Krieg ausgeliefert sind. Wie nicht nur die ganze eigene Welt aus den Fugen gerät, sondern man nicht mal mehr weiß, mit wem man über was sprechen darf, was offenbaren, wem vertrauen. Sprache wird zu einer Methode der Verschleierung, zu einer potenziellen Gefahrenquelle, zum Ausdruck eines Abstandes. So antwortet auch Pascha auf die Frage, was er als Lehrer unterrichten würde, immer nur mit „die Sprache“. Obwohl allen klar ist, welche Sprache damit gemeint ist, wird sie nicht genannt.

Auf der Gefühlsebene hat mich der Roman ein wenig an einen düsteren Roadmovie erinnert. Für mich haben sich die verschiedenen Orte, an denen Pascha und sein Neffe stranden, irgendwann angefangen zu überlagern. Wenn ich jetzt zurückdenke, habe ich eher ein großes Durcheinander und nur wenige individuelle Szenen vor Augen. Vielleicht ist genau das etwas, was dieses Buch ausmacht, die Wirren des Krieges nicht nur zu erzählen, sondern spürbar zu machen, aber mich hat es ein wenig unbefriedigt zurückgelassen.

Viel zu selten erwähnt, aber in diesem Fall unumgänglich sind die beiden Übersetzer Juri Durkot und Sabine Stöhr, die gemeinsam das Romanwerk von Zhadan übersetzt haben und für ihre Leistungen gleich mehrere Preise erhielten, unter anderem für die Übertragung von „Internat“ ins Deutsche den Preis der Leipziger Buchmesse.

Die Hörbuchversion wird gelesen von Frank Arnold. Er hat mich mit seiner angenehmen Stimme und passenden Modulation auch durch die Passagen getragen, die für mich zu unüberschaubar und damit weniger interessant wurden.

Alles in allem fällt es mir schwer, eine Rezension zu verfassen, die meinen Gefühlen für dieses Hörbuch gerecht werden. Etwas Konkretes, greifbares hat sich bei mir nicht rauskristallisiert. „Internat“ ist für mich ein weiteres neues Puzzleteil des Rätsels „Ukraine“. Eins, von dem ich noch nicht weiß, wo es hingehört, aber immerhin ein neues.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.06.2022
Deephaven
Jewett, Sarah O.

Deephaven


sehr gut

In der Regel beginne ich meine Buchbesprechungen mit einer kurzen Inhaltsangabe. Bei „Deephaven“ von Sarah Orne Jewett ist das mit einem Satz getan: Die Freundinnen Kate und Helen beschließen, den Sommer im Haus von Kates verstorbener Tante in Deephaven zu verbringen. Den Rest des Buches verbringen wir damit, den beiden jungen Frauen durch das Dorf an der Küste von Maine zu folgen und die Bewohner näher kennenzulernen.

Jewett war bei der ersten Veröffentlichung von „Deephaven“ im Jahre 1877 gerade mal 28 Jahre alt, erste Entwürfe des Romans waren sogar bereits vier Jahre vorher erschienen. Und man merkt dem Buch diese Jugend im positiven Sinne an. Es sprüht vor Lebensfreude, Abenteuerlust und Offenheit. Ihre Anekdoten – oder vielleicht sollte man lieber von Skizzen sprechen – beweisen eine erstaunliche Beobachtungsgabe. Es ist eins dieser Bücher, bei denen man sich fühlt, als wäre man selbst vor Ort, direkt und unmittelbar.

Wunderbar sind auch Jewetts Figuren, die Deephaven bevölkern, charakterisiert. Während ich Kate und Helen zwar charmant, aber auch ein ganz klein wenig langweilig fand, haben mich vor allem die weiblichen Dorfbewohner begeistert. Allen voran Mrs. Kew, die Frau des Leuchtturmwärters, Mrs. Bonny, die Witwe, die nach ihren eigenen Regeln alleine weit ab vom Geschehen lebt, und Miss Chauncy, deren geistiger Verfall gnadenlos voranschreitet.

Was mir auch gut gefallen hat, ist, dass Jewett, trotz aller Idylle, nicht die sozialen und gesellschaftlichen Ungleichheiten umgeht. Tod, Krankheit, Armut, Einsamkeit, Klassenunterschiede… All das ist genauso Teil von Deephaven, wie von jedem anderen Ort der Welt. Und dankbarer Weise verzichtet die Autorin darauf, Lösungen finden zu wollen und ihren Figuren ein glückliches Ende anzudichten, dass der Realität des Lebens und der Glaubwürdigkeit der Geschichte nicht standgehalten hätte.

Erwähnen möchte ich auch ausnahmsweise die liebevolle Gestaltung der Hardcover-Ausgabe durch den mare-Verlag. Ich lege eigentlich nicht allzu viel wert auf das Aussehen eines Buches, aber „Deephaven“ ist mit dem schönen Cover und dem Schuber ein erwähnenswertes Kleinod geworden.

Jewett hat in einem Brief an ihren Mentor Theophilus Parsons geschrieben, dass für sie die Hauptaussage ihres Buches darin liegt, dass der Mensch sich für sein eigenes Glück und Unglück selbst entscheiden kann. Dass er selbst bestimmt, ob er sich an einem Ort wie Deephaven langweilt, oder die schönste Zeit seines Lebens verbringt, eine Lebensphilosophie, die sie Kate im Buch auch aussprechen lässt. Ob dem nun so ist, oder nicht: Ich bin bei der Lektüre gar nicht auf die Idee gekommen, mich in Deephaven zu langweilen. Für mich war das Buch ein warmer Sommertag, an dem man die Sonne und den Wind auf der Haut spürt, die Möwen kreischen hört, das Salz des Meeres einatmet und sich unversehrt und sorgenfrei fühlt. Dieses Buch ist, wenn man sich darauf einlässt, ein kleines Geschenk.

Bewertung vom 19.06.2022
Liebesheirat
Ali, Monica

Liebesheirat


sehr gut

Yasmin Ghorami ist an einem Punkt in ihrem Leben, wo alles perfekt zu laufen scheint. Als Assistenzärztin in der geriatrischen Abteilung hat sie einen sinnvollen Beruf mit guten Zukunftsaussichten, in ihrem Verlobten Joe, ebenfalls Arzt, eine liebevolle Beziehung. Das Verhältnis zu ihren aus Indien stammenden muslimischen Eltern ist stabil und auch mit Joes Mutter Harriet, einer entschiedenen Feministin, die sich für sexuelle Befreiung starkmacht, versteht sie sich gut. Yasmins größte Sorge scheint die erste Zusammenführung dieser beiden ungleichen Familien zu sein, möglichst ohne Katastrophen und Szenen. Doch überraschender Weise läuft das Treffen gut, besonders die beiden Mütter entwickeln schnell eine enge Freundschaft. Die wahren Fallstricke lauern woanders. Mit dem Näherrücken der Hochzeit entdecken sowohl Yasmin als auch Joe Aspekte ihrer Familien, die sie zwingen, ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Beziehungen völlig neu zu überdenken.

Ich muss zugeben, besonders stilistisch hatte ich mir von „Liebesheirat“ von Monica Ali mehr erwartet. Besonders, da ihr Roman „Brick Lane“ es bis auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hat, eines Preises, der meinen Geschmack nicht immer trifft, aber zumindest in literarischer Hinsicht für hohe Qualität steht. „Liebesheirat“ hat sich für mich eher wie bessere Unterhaltungsliteratur gelesen, die durchaus das ein oder andere Mal die Grenze zum Banalen oder sogar Kitschigen überschreitet und den arroganten Kleinkritiker in mir das Gesicht verziehen lassen hat. Auf der anderen Seite kann Ali aber auch sehr starke Szenen schaffen. Öfters habe ich mich komplett im Geschehen verloren, mich mit gefreut und mitgelitten. Das galt besonders für die Szenen mit den alten Patienten im Krankenhaus und jene mit Yasmins Vater, dessen innerer Kampf mit der Diskrepanz zwischen Lebensentwurf und Realität sehr greifbar war. Überhaupt hat Ali ein Talent für Figuren, die einem ans Herz wachsen, an deren Außen- und Innenleben man gerne teilnimmt.

Was die Geschichte betrifft, so könnte man einwerfen, dass sie ein wenig überladen ist. Wie plötzlich alles aus den Fugen zu geraten scheint, es an allen Ecken und Enden brennt… Das kann einem übertrieben vorkommen, gerät aber nicht in den Bereich der Unglaubwürdigkeit. Ein wenig bedauert habe ich, dass es keine wirklichen Paukenschläge gab. Als Leser habe ich vielleicht nicht immer gewusst, was als nächstes passiert, es aber durchaus geahnt. Ein wenig hat mich der ganze Aufbau des Romans an eine Fernsehserie erinnert. Inklusive Cliffhanger am Ende der Kapitel.

Ich habe „Liebesheirat“ nicht als ein Buch gelesen, in dem es um die Komplikationen interkultureller Beziehungen oder Zugehörigkeit geht, sondern viel mehr um die Komplexität und Vielfalt menschlicher Beziehungen, familiärer, freundschaftlicher, sexueller, partnerschaftlicher… Und die Frage, welche Wichtigkeit wir uns und unseren Bedürfnissen in diesem Netz zusprechen oder einfordern.

Ich habe von Lesern, denen „Liebesheirat“ nicht sonderlich gefallen hat, gehört, dass „Brick Lane“ ein ganz anderes Niveau habe. Ich werde dieser Behauptung sicher noch auf den Grund gehen, doch für sich genommen habe ich „Liebesheirat“ zwar nicht als Must-Read empfunden, aber sicher als ein Buch, dass mich gut unterhalten hat.

Bewertung vom 15.06.2022
Entscheidung in Kiew (MP3-Download)
Schlögel, Karl

Entscheidung in Kiew (MP3-Download)


gut

Seit über hundert Tagen oder seit über hundert Tagen plus acht Jahren herrscht Krieg in der Ukraine und jeden Tag werden wir mit Neuigkeiten aus einem Land konfrontiert, über das die meisten von uns bisher nicht viel gewusst haben, obwohl es flächenmäßig das zweitgrößte Land Europas ist. Dass das Interesse an diesem Staat steigt, kann man gut an dem vermehrten Angebot an Literatur, Podcasts und Dokumentationen zum Thema beobachten, und so stieß ich, nachdem ich einige Romane, die in der Ukraine spielten, gelesen hatte, auf das Sachbuch „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“ von Karl Schlögel.

Für alle, die, wie ich, ein Buch suchen, dass ihnen die Geschichte der Ukraine näher bringt und ihnen vielleicht auch verständlicher macht, warum es zu diesem Krieg kommen konnte, ist „Entscheidung in Kiew“ wohl nicht die richtige Wahl. Was Schlögel, der ohne Frage über ein immenses Wissen verfügt, hier präsentiert, sind eher literarische Sightseeing-Touren aus acht Städten, die anhand von Gebäuden und Gedenkstätten und von Zitaten von Zeitgenossen gestützt, sich der Geschichte vor Ort nähern. Viele dieser Porträts sind älteren Datums, die neuesten Kapitel stammen von 2015 nach der Besetzung der Krim.

Mir persönlich hat „Entscheidung in Kiew“ nicht wirklich weiter geholfen. Zum einen lag das sicher daran, dass ich zum Hörbuch gegriffen hatte (souverän gelesen von Timo Wisschnur) und als eher visueller Typ ziemlich verloren war. Dass Schlögel sehr dicht, um nicht zu sagen überladen, schreibt, hat es auch nicht einfacher gemacht, zumal er nicht damit zu rechnen scheint, dass seine Leser dermaßen ungebildet daherkommen, wie ich. Zu Begriffen wie „Massaker von Babij Jar“ und „Holodomor“, die mir in letzter Zeit öfter begegnet sind, konnte ich mir vielleicht das ein oder andere zusammenreimen, wirklich klüger bin ich aber immer noch nicht. Außerdem erschwert die Einteilung nach Städten einen chronischen Verlauf der Geschichte des Landes zu erfassen. Was mir aber am meisten gefehlt hat, waren Begegnungen mit Menschen, das Zusammensein mit der Bevölkerung, der Schlögel zwar eine umwerfende Gastfreundschaft zuschreibt, sie aber sonst weitestgehend außen vor lässt. Wie viel lebendiger hätten die Städte mit ein paar mehr eigenen Anekdoten und ein paar weniger zitierten Passagen werden können.

Sollte mich jemand fragen, ob er dieses Buch lesen soll, würde ich nicht davon abraten. Aber ich würde vorschlagen, sich viel Zeit zu nehmen und jeden Ort, Namen oder Gedenkplatz im Internet nachzuschlagen und anzuschauen. Wenn man auf diese Weise vorgeht, kann man bestimmt einiges aus der Lektüre mitnehmen. Denn was Schlögel kann, ist, sein Wissen mit Gefühl niederzuschreiben. Man merkt ihm an, wie ihm beide Länder, die Ukraine und Russland, am Herzen liegen. So fand ich gerade die ersten Kapitel, in denen er erklärt, wie er sein Buch aufgebaut hat und wie seine Beziehung zu diesem Teil der Erde entstanden ist und sich entwickelt hat, am stärksten.

Ein Sachbuch, das sich fraglos auf eine eher ungewöhnliche Art seinem Thema annähert. Und alleine darum schon aus der Masse heraussticht und seine Leser finden wird.

Bewertung vom 10.06.2022
Hundepark
Oksanen, Sofi

Hundepark


gut

Olenka hat den Weg gewählt, den nicht wenige junge und mittellose Frauen besonders in osteuropäischen Ländern nehmen: Sie hat sich als Eizellspenderin für reiche kinderlose Familien zur Verfügung gestellt. Doch Olenka hat Glück, schnell steigt sie in ihrer Firma auf, wird selbst zu einer jener Frauen, die für verzweifelte Paare mit Ansprüchen junge Spenderinnen oder Leihmütter auswählen.
Doch das ist Jahre her. Jetzt sitzt Olenka im Hundepark in Helsinki. Warum sie dort ist, welche Umstände sie gezwungen haben, ihr altes Leben aufzugeben, warum sie in Gefahr zu sein scheint, und wer die Frau ist, die sich zu ihr setzt und eine gute Bekannte zu sein scheint, deren Auftauchen nichts Gutes bedeuten kann… Das alles wird sich nur langsam erschließen, Puzzleteil für Puzzleteil. Und auch, wie weit alles zurückreicht, bis in Olenkas Kindheit.

„Hundepark“ von Sofi Oksanen war in meinem Fall ein klassisches Beispiel von falschen Erwartungen. Was ich zu lesen gehofft hatte, war ein Buch über das Geschäft mit Leihmüttern in Osteuropa und die Auswirkungen auf die Gesundheit und Psyche der jungen Frauen. Das war durchaus auch Thema, aber im Großen und Ganzen würde ich den Roman doch eher als Thriller einstufen. Als einen jener Thriller, in denen es in erster Linie um Macht und Machenschaften geht, um Kohle und Opium, um Verrat und Rache und natürlich um Geld. Also genau die Art von Thriller, die mich überhaupt nicht interessieren. Ich versuche hier also eine Rezension über ein Buch zu schreiben, dass ich normalerweise nicht hätte lesen wollen.

Wenn wir meine Enttäuschung über den Inhalt beiseite lassen, dann kann ich leider immer noch nicht behaupten, eine gute Zeit gehabt zu haben. Oksanen erzählt nicht chronologisch, springt zwischen den Zeiten, was unglaublich gut sein kann, es hier aber nicht ist. Meiner Meinung nach hätte dieser Roman durch Chronologie gewonnen, Oksanens Umgang mit der Zeit fand ich eher verwirrend. Darüber hinaus hatte ich das Gefühl, dass sie die Spannung bis zur Verzweiflung dehnen will. Was zur Folge hatte, dass ich überhaupt nicht mehr gespannt, sondern eher tiefenentspannt war, wenn denn tatsächlich mal was passierte. Ich habe lange gebraucht, um für mich zusammenzubasteln, warum die Protagonistin überhaupt so hysterisch unterwegs ist.

Womit wir bei den Figuren sind. Auch hier kann ich nicht in Entzücken verfallen. Dadurch, dass alles aus Sicht von Olenka erzählt ist, die sich in einem Umfeld bewegt, das von Zurückhaltung und Heimlichtuerei geprägt ist, erfahren wir nur wenig über die wahren Gefühle und Motive der anderen Personen. Ein bedauerlicher Mangel, denn einige von ihnen hätten mich mehr interessiert, als die Protagonistin.

Warum ich die Lektüre am Ende aber doch keine komplette Zeitverschwendung fand, liegt daran, dass man doch nebenbei einiges über das Geschäft und die traurigen Hintergründe der Leihmutterschaft und das Eizellspenden erfährt, über die jungen Mädchen, die oft keinen anderen Weg aus der Armut heraus sehen, zum anderen aber auch das ein oder andere über die (damalige) Situation in der Ukraine mitbekommt.

Insgesamt sicher kein schlechtes Buch, wenn man richtig drauf vorbereitet ist und sich dafür interessiert.

Bewertung vom 07.06.2022
Wütendes Feuer
Fang, Fang

Wütendes Feuer


ausgezeichnet

Die junge Yingzhi träumt von Freiheit und Reichtum. Um ihr Ziel zu erreichen, beginnt sie, in einer Karaoke-Band auf Hochzeiten und anderen Feiern zu singen, und scheut sich auch nicht, ihre körperlichen Vorzüge einzusetzen. Doch als sie schließlich durch eine unwesentliche Affaire schwanger wird, sieht Yingzhi sich gezwungen, den Vater ihres Kindes zu heiraten und ihre großen Träume auf andere Weise zu verwirklichen. Was sich als schwer erweist, denn ihr Mann entpuppt sich als arbeitsscheuer Trinker, der alles Geld zum Spieltisch trägt. Die Beziehung der beiden wird immer aggressiver und gewaltgeladener, bis Yingzhi den einen Schritt macht, der die Lage außer Kontrolle geraten lässt...

Das Erste, was mich in „Wütendes Feuer“ von Fang Fang geradezu angesprungen hat, war die Grobheit des Umgangstons. Selbstredend bin auch ich Opfer des stereotypen Glaubens an den jederzeit aufs äußerste höflichen Chinesen, aber wie hier, auch mit Respektspersonen wie Eltern und Alten, geredet wird… Da hätte ich selbst bei einer jener in den 1990ern so beliebten Talkshows die Augen weit aufgerissen.
Auf der anderen Seite wirkte der Text oft hölzern und unbeholfen auf mich, wobei es mir unmöglich ist, zu sagen, ob es so gewollt ist oder sich um ein Problem der Übersetzung handelt. Das sehr interessante Nachwort des Übersetzers Michael Kahn-Ackermann (unbedingt lesen!) lässt ahnen, dass die Übertragung keine leichte Aufgabe war.

Das Leseerlebnis wird dadurch jedenfalls nur unwesentlich gestört. Ich fand diesen Einblick in das Leben einer Frau im modernen China, die trotz aller gesetzlich festgelegten Gleichberechtigung doch an den Traditionen und den Ansichten der Gesellschaft scheitert, sehr berührend. Dabei ist Yingzhi keine große Sympathieträgerin. Sie ist weder Unschuldslamm noch pures Opfer. Ihr Verhalten kann man, je nach moralischer Einstellung, oft als dumm bis inakzeptabel einstufen. Was die Geschichte nur um einiges an Vielschichtigkeit bereichert.

Was der Roman für mich aber am meisten ausgestrahlt hat, war die Bedrückung und die Ausweglosigkeit. Die Spirale aus Gewalt, die sich immer weiter in die Tiefe bohrt und schließlich außer Kontrolle gerät, ist nicht leicht auszuhalten.

Ein brutales Buch, ein wichtiges Buch, ein Buch, das uns alle angeht. Große Leseempfehlung!