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StefanieFreigericht

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Insgesamt 90 Bewertungen
Bewertung vom 25.09.2016
Die Seele des Bösen - Stumme Schreie / Sadie Scott Bd.7 (eBook, ePUB)
Dicken, Dania

Die Seele des Bösen - Stumme Schreie / Sadie Scott Bd.7 (eBook, ePUB)


sehr gut

„Cold Case“ als siebter Fall für Sadie Scott - Heiligt der Zweck die Mittel?

Alle Fans der Serie „Cold Case“ dürfte das hier begeistern: Gerade, als eine Feier mit der Verwandtschaft zu Thanksgiving die FBI-Profilerin Sadie Scott in gewisse Zweifel stürzt angesichts ihres Lebenskonzepts, sich mit häufig gestörten Schwerverbrechern zu beschäftigen und die Familienplanung mindestens hintanzustellen, bekommt sie im Büro einen Gast: die junge Polizistin Nicky lässt Sadie in deren siebtem Fall in der Vergangenheit stochern. Da Sadies eigener kleiner Bruder durch ein Verbrechen schon als Kind sein Leben lassen musste, fühlt sie sich natürlich verpflichtet, zum lange zurückliegenden Tod des Brüderchens der jungen Polizistin zu recherchieren – die derzeitigen Alternativen, Berichte und Verwaltungsarbeit, sind auch wirklich wenig verlockend; die schwere Schussverletzung ihres Mannes Matt möchte sie lieber vergessen. Der kleine Junge verschwand, als er und seine Schwester Nicky noch Kinder waren; seine verbrannte Leiche wurde später gefunden. Die damalige Tat hat die Familie zerstört, besonders die Beziehung zwischen Nicky und ihrer Mutter, die ihr seitdem die Schuld gibt. Ähnlich wie bei Sadie, hat die Familiengeschichte zur Berufswahl auch bei Nicky geführt.

Sadie wäre nicht Sadie, wenn sie nicht gründlich wäre, und so fällt ihr bald eine erschreckende Anzahl an ungeklärten Fällen mit einigen Parallelen ins Auge – kann das sein, über so einen langen Zeitraum? Wie lassen sich zeitliche Abfolgen erklären? Die Nachforschungen führen zur Auseinandersetzung mit schwelenden Gefühlen aus dem Hintergrund der beiden Frauen: von Verlustängsten über Schuldgefühle bis zu dem brennenden Verlangen, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen – oder irgendwann die Vergangenheit ruhen zu lassen. Autorin Dania Dicken stellt hier bewusst die unterschiedlichen Konsequenzen ihrer verschiedenen Hauptpersonen dar und stellt deutlich heraus, wie tiefgreifend ein Verbrechen Angehörige in Mitleidenschaft ziehen kann.

Auf dem Weg dahin erfährt man viel über Hintergründe und Motivation der beschriebenen Taten, wobei speziell die Tätersicht harter Tobak ist. Es werden Parallelen gezeigt in die düsterste Vergangenheit… Im Laufe des Romans entwickelt sich noch ein anderer Gedankenstrang: welche Schuld kann jemand auf sich laden – durch Handeln UND durch Unterlassen? Die „einfache“ Lösung ist hier für beide Wege vielleicht menschlich nachvollziehbar, aber ob das jedoch als Entschuldigung ausreicht, war für mich tatsächlich ein Minuspunkt knapp an den 5 Sternen vorbei… In jedem Fall viel Spannung und einiges zum Nachdenken!

Bewertung vom 20.09.2016
Die unsterbliche Familie Salz
Kloeble, Christopher

Die unsterbliche Familie Salz


ausgezeichnet

Die Schatten der Vergangenheit

Der Roman erzählt die Familiengeschichte entlang der Geschichte Deutschlands von 1914 bis 2015. Wie ein roter Faden zieht sich das Motiv der Schatten durch die Handlung: die Matriarchin der Familie, Großmutter Lola, lernt als neunjährige mit ihrem Schatten zu kommunizieren, erträgt so den abwesenden Vater, die Krankheit der Mutter – Schattenlose fürchtet sie besonders als Männer, nach den Erlebnissen mit ihrer Schwester im Zweiten Weltkrieg. Schatten erzählen ihr die Wahrheit und ohne Schatten stirbt man – ihre Ängste gibt sie weiter an ihre Kinder, besonders an die Tochter. Und während der Schatten einerseits als Schutz wirkt, lasten doch gleichzeitig die Schatten der Vergangenheit schwer auf dem Personal des Romans. „Sie alle handelten bloß getrieben von der Furcht, allein zu sein“ S. 373

Was mich zunehmend beeindruckte an dieser Familiengeschichte, im Wechsel aus der Sicht verschiedener Familienmitglieder geschrieben, ist, dass diese auch einhergeht mit einem verschiedenen Stil: so berichtet Lola, die Großmutter, als Ich-Erzählerin im direkten Dialog mit dem Leser aus Kindheit bis Jugend. Auch der spätere Ehemann Alfons berichtet als Ich-Erzähler, weiß jedoch gleichzeitig alles, was seiner Frau Lola und den beiden Kindern, Kurt und Aveline widerfährt – eher in Form eines persönlichen Berichts. Auf mich wirkten die Kapitel unterschiedlich bindend als Leser: Während ich dem Plauderstil der alten Frau aus ihrem Krankenbett gern folgte und auch das Gefühl hatte, gut in die Zeit hinein versetzt zu werden, fremdelte ich eher mit Alfons‘ Kapitel: zu sehr sprangen mir die Erlebnisse gerade der ersten Jahre im Zweiten Weltkrieg, wirkten auf mich wie eine bloße Aufzählung. Die vorher aufgebaute Beziehung zu den Personen ging mir fast verloren, kam erst zum Ende des Kapitels wieder und mit dem folgenden aus der Sicht von Tochter Avelina – diesmal als Du-Erzähler (ein Ich-Erzähler, der sich selbst duzt). Das Buch schließt (nun, fast…) gar mit einem Kapitel, das als Word-Dokument gelten soll.

Die Erzählung läuft weitgehend chronologisch, bis auf das erste kurze Kapitel aus der Sicht von Emma Salz, der Enkelin, das 2015 angesiedelt ist, und die Geschichte einleitet sowie mit dem (vor-)letzten Kapitel eine Art Klammer um die Kapitel bildet. Dazu gibt es teils eine Art Vorgriff, wenn die jeweilige Perspektive auf eine zukünftige Konsequenz oder Handlung vorgreift – das geschieht weniger im Sinne eines übergeordneten allwissenden Erzählers, vielmehr wird weitestgehend der Eindruck heraufbeschworen, der jeweiligen Hauptperson des Kapitels beim Erzählen zuzuhören. Selten habe ich einen dergestalt meisterlichen Umgang schon allein mit der Form gelesen – der Inhalt steht dem mitnichten nach. Was wirklich geschehen ist, darf sich der Leser gelegentlich über die Seiten hin zusammenreimen – wenn es denn so eine einfache klare Wirklichkeit gibt, geben kann.

Christopher Kloeble schafft es, die vielen Personen der verschiedenen Generationen der Familie Salz so einzuführen, dass ich sie mühelos ein- und zuordnen kann, da er ihnen jeweils einzeln Zeit und Raum lässt. Sie alle, begonnen mit der Matriarchin Lola, haben diesen bereits erwähnten besonderen Bezug zu den Schatten – als Leser erfährt man viel über familienbezogene und historisch entstandene Verantwortlichkeit und Schuld, Liebe und Abhängigkeit, Verschweigen und Verleugnen. „…wir verstehen etwas und immer mehr. Aber eigentlich haben wir nichts verstanden. Wir glauben, Zusammenhänge zu erkennen, uns zu entwickeln, besser zu sein als jemals zuvor – und tappen damit in die gefährlichste aller Fallen: Wir verwechseln Glauben mit Wissen. Wir haben vergessen, dass wir einmal wussten, dass wir nichts wussten.“ S. 409

Dieses Buch hat mich zum Nachdenken gebracht, mich verstört, verzaubert und ergriffen – und immer wieder überrascht mit einer neuen Wendung. Ich empfehle es nachhaltig, auch wenn es vielleicht zwischendurch etwas Geduld benötigt.

Bewertung vom 11.09.2016
Loney
Hurley, Andrew Michael

Loney


sehr gut

Erwartungshaltung! Sehr spezieller Mix à la Gothic Novel
Durchaus gut geschrieben - aber inhaltlich sollte man sich einstellen auf einen Mix aus, hm, „Wenn die Gondeln Trauer tragen“, Zafóns „Der dunkle Wächter“ und Enid Blyton-Abenteuerroman mit Spukschloß – der Leser lässt sich auf ein ziemlich anderes Buch ein.

Was habe ich Enid Blytons Bücher geliebt – Fünf Freunde, etc… Irgendwo war immer wieder ein geheimnisvolles Haus. Loney ist quasi die Version für Erwachsene. Weniger hinsichtlich „expliziter Szenen“ – das Buch hat bietet einen dezent exhibitionistischen Landstreicher, etwas totes Wild sowie einiges, was der Phantasie überlassen wird – Horror per Kopfkino. Nein, „erwachsen“ dank eines Vokabulars des strengen Katholizismus: Dabei ist Glaube keine Voraussetzung für die Lektüre – allein das Wissen, z.B. um den Zusammenhang „Christus, Lamm Gottes“ angesichts der Lämmergeburt ´zu erfassen und somit die Ergriffenheit der Gruppe nachzuvollziehen (wer hier schon aussteigt, wird vieles nicht verstehen können).

Inhaltlich ist der Roman am ehesten eine Art „Gothic Novel“ (wie „Frankenstein“). Wir begleiten die Brüder „Tonto“, Ich-Erzähler (sein richtiger Name wird nie genannt), und seinen älteren Bruder, Andrew, genannt Hanny, der nicht spricht – warum, Autismus, Mutismus, geistige Behinderung, erschließt sich nicht. Sie werden besonders von ihrer Mutter streng im Glauben erzogen, wobei diese durchaus vermittelt, allein über die Rechtgläubigkeit urteilen zu können. Der jüngere Bruder ist hauptsächlich Hüter seines Bruders – und „Dolmetscher“, da die Brüder, wenn sie zusammen sind, in einer sehr eigenen Welt leben. Die Pilgergruppe der Gemeinde, der auch die Familie angehört, ist bestrebt, mit einer österlichen Wallfahrt die Heilung von Hanny herbeizuführen, ja, in der Sicht der Mutter quasi zu erzwingen. Was nicht gelingt, dafür wurde einfach nicht genug gebetet, geglaubt, verzichtet,… „Ihm war klargeworden, was ich schon seit langem über Mummer wusste: Wenn nur ein Teil wegbrechen würde, ein Ritual ausgelassen oder ein Verfahren aus Bequemlichkeit abgekürzt, dann würde ihr ganzer Glauben kollabieren und zerschmettern.“ S. 143
Das Umfeld ist entsprechend, der verstorbene frühere Pfarrer trieb dann auch seinen Ministranten die Selbstbefriedigung aus, indem er sie zwang, fest in Nesseln zu greifen (nein, kein weiteres Buch zu Kirche und sexuellem Missbrauch).

Dem gegenüber steht die phantasievolle Welt der Brüder, bei der Hanny mit einem Glas voller Nägel zu verstehen gibt, Schmerzen zu haben, oder die Jungs Geheimverstecke pflegen. In „The Loney“ allerdings, der titelgebenden Landschaft nahe Lancasters an der Westküste Englands, herrscht eine unterschwellig düster-bedrohliche Stimmung: hier ist das traditionelle Ziel der österlichen Pilgerfahrt. Von hier aus dringt auch der Horror in die Erinnerungen des Ich-Erzählers…man muss dann am Ende schon genau aufpassen, um die verschwundenen körperlichen Leiden gesammelt im Keller wiedererkennen zu können (wieder ein christliches Motiv, kombiniert mit der völligen Verkehrung) – analog dazu wirkt einiges am Glauben mit seinen volkstümlichen Anteilen und seinen Ritualen fast wie Aberglaube - ich verwirre hier vielleicht, aber sonst würde ich zu viel verraten.

Dem „Fünf-Freunde-Fan“ in mir gefiel die atmosphärische Darstellung sehr – beim Inhalt änderte ich meine Meinung während der Lektüre und danach regelmäßig (die heutigen Amazon-Bewertungen der deutschen Ausgabe und des Originals verteilten sich recht gleichmäßig auf Bewertungen zwischen 2 und 5 Sternen, damit bin ich also nicht allein). Aber wegen des Muts zu einem solch ungewöhnlichen Thema und Stil komme ich auf 4 von 5 Sternen. Nicht einfließen lasse ich gewisse eher stilistische Schlampigkeiten wohl der deutschen Übersetzung, wie S. 31 „Er entschuldigte sich“ statt „er bat um Entschuldigung“

Bewertung vom 11.09.2016
Ihr letzter Sommer
Snoekstra, Anna

Ihr letzter Sommer


sehr gut

Atmosphärisch dichter Psychothriller; einfallsreich, ohne unappetitlich zu werden
„Ihr letzter Sommer“ heißt im Original „Only daughter“ und erschien 2016, dabei etwas früher in Deutschland als im UK-Original (Autorin und Handlung sind in Australien beheimatet). Das Buch hat mich blendend unterhalten und in seinen Bann gezogen! Da ich einfach (zu) viel aus dem Genre Krimi und Thriller lese, finde ich inzwischen das meiste vorhersehbar: entweder in der Lösung und/oder bezüglich unappetitlicher Gewaltorgien um ihrer selbst willen. Dieser atmosphärisch dichte Psychothriller hat mich positiv überrascht.

Achtung Erwartungshaltung: der Fokus liegt wirklich auf „Psycho“, es gibt keine Action, keinen Wettlauf gegen die Zeit, weniger ein „Whodunnit“ wie im klassischen Krimi, als vielmehr ein „was ist hier, was war hier los?“.

„Ich heiße Rebecca Winter. Ich wurde vor elf Jahren entführt.“ S. 7 so stellt sich die junge Frau, die gerade beim Lebensmitteldiebstahl ertappt wurde, gegenüber der Polizei vor.
Der Leser ist hier ein allwissender Leser, sein Wissen wird aber immer nur schrittweise entwickelt. Von Beginn an – der Klappentext verrät es auch – wissen wir, dass die junge Herumtreiberin sich nur als Rebecca ausgibt. Über ihre Motive, ihre Herkunft erfahren wir von Kapitel zu Kapitel mehr, wobei der Fokus eindeutig auf der „echten“ Rebecca liegt; stets im Wechsel spielt die Handlung 2003 und schildert die Geschehnisse rund um „Bec“ als Siebzehnjährige und 2014 um die junge Frau in deren Rolle, in deren Familie und in deren Leben.

Von Anfang an ist die Atmosphäre eher düster, von den Sorgen der jungen Frau im „heute“ angefangen [Insider: sie nennt sich Rebecca Winter und bekommt nie wirklich einen eigenen Namen – DIE Hommage an Daphne du Maurier ist, nun ja, irgendwie cool]. Wurde „Bec“ wirklich beobachtet? Und Luke, für den sie schwärmt – welches Spiel spielt er? Wie ist das Verhalten von Becs bester Freundin Lizzie zu deuten? Was will deren Vater von ihr? Was passiert daheim, nachts?
Einiges bleibt verstörend, was ich für einen sehr cleveren Schachzug halte, mir aber auch vielleicht fünfzig Seiten mehr gewünscht hätte, deshalb ganz ganz knapp an 5 von 5 Punkten vorbei.

S. 63 „Niemand konnte je wirklich verschwinden. Irgendwo existierte man immer.“

Als Folgeroman empfehle ich zum Thema Familie und Auswirkungen:

Jenny Milchman "Night Falls. Du kannst dich nicht verstecken"

Bewertung vom 04.09.2016
Meine geniale Freundin / Neapolitanische Saga Bd.1
Ferrante, Elena

Meine geniale Freundin / Neapolitanische Saga Bd.1


sehr gut

Sitten- und Zeitgemälde Neapels nach dem Zweiten Weltkrieg UND Bild einer lebenslangen Freundschaft

Für die gleichaltrigen Elena, die Ich-Erzählerin, und ihre beste Freundin "Lila" ist Armut ein ständiger Begleiter, während wir sie beim Aufwachsen begleiten. Es ist das Leben der „kleinen Leute“ in einem Viertel (Rione) Neapels. Die Sprache ist derb, auch der Umgang miteinander, Gewalt ist allgegenwärtig: Ehemänner schlagen ihre Frauen, beide die Kinder, diese prügeln untereinander. Männer prügeln für ihr Ehrgefühl; der Ruf eines Mädchens wird zerstört mit Gerüchten in einem wenig aufgeklärten, meist verklemmt wirkenden Umfeld der gegenseitigen Missgunst. „Der Pöbel, das waren wir. Der Pöbel, das war das Gezanke ums Essen und um den Wein, war das Gestreite darum, war zuerst und besser bedient wurde, war dieser dreckige Fußboden, auf dem die Kellner hin und her liefen, und die immer vulgärer werdenden Trinksprüche.“ S. 421

Das soll auf keinen Fall abschrecken; im Buch wirkt das, so seltsam sich das lesen mag, natürlich, folgerichtig: so ist halt das Leben in diesem Viertel, dieser Zeit. Autorin Elena Ferrante gelingt es, ein Sittengemälde darzustellen anhand des Aufwachsens der Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg (1980 sind sie 36 Jahre alt, also geboren 1944). Schuldbildung spielt keine wichtige Rolle für die Eltern in diesem Umfeld, besonders ein Mädchen findet mehr Anerkennung für eine „gute Partie“. Lila und Elena sind gut in der Schule, besonders Elena fühlt sich durch Lila herausgefordert, die immer einen Hauch mutiger ist als sie, kompromissloser, als Charakter ungewöhnlich fokussiert. Doch Lilas Vater erlaubt seiner Tochter nicht die Mittelschule – Elena hat mehr Glück, fühlt sich dabei aber immer im Nachteil gegenüber der Freundin, sieht das, was ihr widerfährt, immer nur im – meist negativ für sie selbst ausfallenden – Vergleich mit der anderen, die zunächst im Selbststudium weiter gegen die gesellschaftlichen Regeln aufbegehrt. Die Geschichte wird erzählt als Rückblick aus der Alterssicht Elenas: „Es war eine alte Angst, eine Angst, die mich nie verlassen hatte, die Angst, mein Leben könnte an Intensität und Gewicht verlieren, wenn ich Teile ihres [Lilas] Leben verpasste.“ S. 265

Entsprechend fesselte mich die Lektüre nicht nur durch die atmosphärisch dichte Darstellung, sondern auch durch das enge Aufeinander-Bezogen-Sein der beiden Kinder und Jugendlichen, das man ausschließlich aus der Sicht von Elena dargestellt bekommt. Ich konnte einiges von Elenas Verhalten nicht nachvollziehen, wohingegen mir gleichzeitig ihre gesamte Person komplett nachvollziehbar erschien, wie widersprüchlich auch immer das jetzt erscheinen mag – eine meisterhafte Darstellung von Charakteren mit allen Ecken und Kanten, eine nicht immer sympathische, aber glaubwürdige Ich-Erzählerin ist mutig! Ein Problem hatte ich mit der schieren Personenfülle, wogegen zwar mit einem Verzeichnis zu Beginn des Buches und auf dem mitgelieferten Lesezeichen versucht wurde, entgegenzusteuern, was bei mir aber doch den Lesefluss etwas hemmte. Hingegen war der gelegentliche Wechsel der Autorin von gut lesbaren flüssigen Sätzen zu einigen echten verschlungenen Bandwurmsätzen nicht abträglich, sondern passte eher zum jeweiligen Gemütszustand Elenas. Ein Buch, das wiederzugeben oder auch nur weiter zu charakterisieren über „Sitten- und Zeitgemälde“ und „Buch über eine lebenslange Freundschaft“ hinaus schwer fällt, sich entzieht.

Am Ende dieses auf vier Bände angelegten ersten ins deutsche übersetzten Teils eines Romanzyklus stehen die beiden Protagonistinnen am Übergang zum Leben als Erwachsene – mit einigen schmerzhaften Erkenntnissen. Ich ermutige, selbst herauszufinden, wer hier die „geniale Freundin“ ist, auch das Zitat am Anfang sollte nochmals nach der Lektüre in Erinnerung gerufen werden. Ich fühlte mich unterhalten, über ein Milieu informiert, zum Nachdenken angeregt – und hätte doch ein dickeres Buch und dafür weniger Teile bevorzugt.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.08.2016
Schwestern bleiben wir immer
Kunrath, Barbara

Schwestern bleiben wir immer


sehr gut

„Erinnerungen sind keine runde Sache. Sie sind kantig und sie sind rau“

Die meisten von uns leiden irgendwann im Verlaufe ihres Lebens an Verlusten, enttäuschten Hoffnungen, finanziellen Sorgen, Krankheiten,….
Die Schwestern Katja und Alexa sind damit aufgewachsen. Sie hatten immer einander, jetzt ist die Mutter gestorben, zu der besonders Katja, fast 42 Jahre alt, in den letzten Jahren nur einmal Kontakt gehabt hat; Alexa, die drei Jahre ältere, hatte sie überredet, als die Mutter im Sterben lag. Unter dem wenigen, was vom Leben der Mutter übrig ist, findet Alexa nun einen Brief, dessen Inhalt sie verstört. Der Brief deutet an, dass es da noch etwas zu erzählen gab, unterlässt dies aber, belässt es bei Andeutungen.

Die Beziehung zu Mutter Ines war für beide Töchter schwierig: „Sie ließ uns allein mit unserer Wut“. S. 25. Der Vater war gegangen, als die Mädchen noch klein waren – erklärte hatte die Mutter dies nie. „Sie war nicht böse, jedenfalls nicht immer, meistens hatte sie einfach keine Lust, sich um uns zu kümmern.“ S. 37 und „Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob Ines uns nicht liebte, weil sie es nicht konnte, oder ob sie uns nicht liebte, weil sie es nicht wollte.“ S. 72

Beide Schwestern leben ihr Leben – Katja ist berufstätig, ein Teenager-Sohn, der Vater hat die Familie allein gelassen, auch er. Alexa ist Hausfrau, verheiratet, Teenager-Tochter, Teenager-Sohn – sie hatten noch eine schwerstbehinderte Tochter, die gestorben ist. So wie Katja als Begründung für ihr Tun oder (Unter-)Lassen vor sich herträgt, berufstätig zu sein, so verwendet Alexa ihr Familienmodell als Rüstung und Waffe. Autorin Barbara Kunrath schafft es, beider Lebenskonzept und Argumente gleichermaßen zu hinterfragen. Die Perspektive im Roman wechselt zwischen den Schwestern, wobei Alexa immer als Ich-Erzählerin erscheint, bei Katja wird zur dritten Person gewechselt.

Mit Alexa ist das so: ich mag nicht besonders, dass sie vermittelt, die „richtige“ Art Leben zu leben – allerdings wäre sie diejenige, die ich sofort zum Babysitting für mein Kind einsetzen würde. Sie ist zuverlässig, es gäbe regelmäßige Mahlzeiten, alles würde „richtig“ ablaufen. Und ich würde hinterher Scham empfinden, ob sie die Wollmäuse gesehen hat, die Tiefkühlgerichte, …Katja hätte man gerne als Kumpel, Alexa nicht.

Die Schwestern versuchen, dem Geheimnis aus der Geschichte ihrer Mutter nachzuspüren, stoßen auf Widerstände. Als es danach in ihrer beider Leben zu Auflösungserscheinungen ihrer Lebenskonzepte kommt, treiben sie die Suche voran. Was sie erfahren, verändert alles. Quasi nebenbei stellt sich heraus, dass das Miteinander geprägt ist davon, die Schwester sowohl zu beneiden als auch ihr Verhalten nicht nachvollziehen zu können. Letztendlich müssen sie sich, auch angesichts der neuen Erkenntnisse, beide ähnlichen Fragen stellen: „ ‚Wovor hast du Angst?‘, fragt er.
Die Frage müsste lauten: Wovor hast du mehr Angst? Vor dem gar nicht? Oder vor dem zu viel? Sie weiß es nicht.“
„Sie braucht Raum und Freiheit, sonst wird sie ersticken. Aber wo hört der Raum auf, und wo wird die Freiheit zur Lüge?“ S. 164

Kein „Frauen-/Liebesroman“, aber doch eher Fragen nachspürend, denen sich Frauen ausgesetzt sehen - der Roman gibt in einem ruhigen, melancholischen Stil, häufig mit schöner bildhafter Sprache einen Einblick dazu, was funktioniert und was verletzt an Geschwistern und Familien, Eltern und Kindern, Paaren und Lebensentwürfen – meiner Meinung nach sehr gut gelungen, allein der Epilog ist mir zu glatt geraten, zu „aufgelöst“
(4,4 von 5 Sternen).

Bewertung vom 09.08.2016
Bühlerhöhe
Glaser, Brigitte

Bühlerhöhe


ausgezeichnet

Sehr empfehlenswerter Mix aus Heimat- und Zeitgeschichte, Spionageroman, Politthriller,...

Der Plot ist genial: Der Mossad schickt eine unerfahrene gebürtige Kölner Jüdin in den Schwarzwald, ein Attentat gegen Adenauer zu verhindern – die Verhandlungen um die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ sollen nicht gefährdet werden. Sie hat am Urlaubsort des Kanzlers die Ferien ihrer Kindheit verbracht und spricht die Sprache derer, die außer ihrer Schwester ihre gesamte Familie ausgelöscht haben. Der Attentäter wird befürchtet in den Kreisen von Israelis, die das „Blutgeld“ ablehnen.

„Warten bedeutete, unnütze Zeit zu haben, und unnütze Zeit war ein gefährliches Pulver. Ein bisschen davon auf die gut verschlossene Kiste voll von Verlust, Schmerz und Erinnerung gestreut, und diese explodierte und ließ alles in Fetzen im Kopf herumschwirren. Das Vergessen war lebensnotwendig. Wer nicht vergessen konnte, wurde wahnsinnig. Sie war eine Meisterin im Vergessen. Nur so war das Leben auszuhalten.“ S. 27

Dieses Buch ist
• Heimatgeschichte
• Zeitgeschichte (Adenauer und die Wiedergutmachungsverhandlungen, Leben im Kibbuz),
• Spionageroman und Politthriller (das reale Attentat auf Adenauer durch Zionisten wurde verschwiegen, um die Beziehungen zu Israel nicht zu gefährden)
• und liefert dazu einen Einblick über Schuld, menschliche Beziehungen, Verdrängung

Ein absoluter Glücksgriff – anspruchsvoll, spannend, Annäherung an Zeit und Land, ALLES gleichzeitig.

Viele Spuren als "red herrings" legt die Autorin über praktisch die komplette Seitenzahl. Ihr besonderen Stil: Es wird etwas erwähnt – und später, teils wirklich etliche Seiten später wird dieser Hinweis in einen Zusammenhang eingebettet. Während mich oft in Büchern die sehr einfachen Beziehungen und Beweggründe stören, ist in diesem Buch fast alles und alle miteinander verwoben, was die Anzahl der red herrings ins Unermessliche steigen lässt, ohne dabei für mich aber undurchdringbar zu werden. Das Spannungsniveau bleibt einfach hoch, wie bei einem Thriller, weil man so aufmerksam bleiben muss. Da weiß jemand etwas, was einem anderen helfen könnte, erwähnt es aber nicht, um einem Dritten nicht zu schaden. Und über allem hängt die Vergangenheit. „So war das immer. Eine falsche Frage, ein falscher Satz, und alles Leichte und Fröhliche verschwand.
‚Welches Lager?‘, fragte Rosa leise.
‚Majdanek.‘“ S. 264


Glaser schreibt sehr ausgewogen. Auch mit den besten Absichten können Menschen verletzt werden, so soll Rosa ein Attentat verhindern helfen, wird aber fragwürdig moralisch genötigt dazu und völlig unerfahren in eine gefährliche Situation geschoben. Kaum jemand ist einfach das, was er oder sie oberflächlich zu sein scheint. Dadurch ist Rosa bald verstrickt in ein „Gestrüpp aus Spekulation und Manipulation“. Dabei geht das Buch durchaus in die Tiefe, stellt die verschiedenen Lebensstile gegenüber: da sind die, für die jede Kritik an Israel einem Verrat gleichkommt, aber auch jene, die zurück nach Deutschland gehen, „weil ein judenfreies Deutschland einem Sieg über Hitler gleichgekommen wäre“. Da sind die Kriegsgewinnler, die Ewiggestrigen, aber auch jene, die heute noch von Albträumen geplagt werden, oder selbst Opfer der Befreier wurden, weil sie aus dem Volk der Täter stammten. Der Sicht Rosas gegenübergestellt wird die Sicht von Sophie Reisacher, Hausdame auf der Bühlerhöhe, auch hierdurch wird eine tiefere, ausgewogenere Sicht gezeigt, wird deutlich, dass persönlicher „Ballast“ und Ziele bei allen den klaren Blick hemmen können.

Insgesamt definitiv fesselnd, informativ, schön zu lesen!

Am Ende des Buches folgt ab Seite 337 ein Glossar – ich habe noch einiges mehr nachgeschlagen, und empfehle das je nach Wissensstand und Interesse auch durchaus – sowie weitere Quellenangaben.

Das perfekte Buch "davor" oder "danach":
Daphne du Maurier "Rebecca" (oder die tolle Hitchcock-Verfilmung)
Leon Uris "Exodus" (als Film mit Paul Newman)

Bewertung vom 09.08.2016
Wir sehen uns am Meer
Rabinyan, Dorit

Wir sehen uns am Meer


ausgezeichnet

Die Grenze in den Köpfen - wenn Politik der Liebe ein Verfallsdatum aufzwingen möchte

Die jüdische Israelin Liat und Palästinenser Chilmi begegnen einander zufällig im Herbst 2002 in New York, sie ist Philologin, 29, mit einem Stipendium seit zwei Monaten in den USA, er ist Maler, 27, seit über zwei Jahren. Die beiden sind von diesem Tag an zusammen. Sie nennt Chilmi einen „vegetarischen Arabers“, nicht religiös, sehr weltlich.

Liats Gefühle wechseln: anfangs Furcht aufgrund der Schauergeschichten, arabische Männer würden bevorzugt jüdische Frauen verführen und später versklaven, dann Schuldgefühle wegen der Besetzung, wegen der Dinge, die sie in Israel tun kann und er nicht. Er ist souveräner, beruhigt sie: „Weißt du, eines Tages …wird das Meer uns allen gehören, und wir werden dort gemeinsam schwimmen.“ S. 41
Während Chilmi unbefangen und offen zu Liat steht, verleugnet sie ihn, erzählt den Eltern nichts, versteckt sich, steht nicht zu ihm.

Das große Können der Autorin Dorit Rabinyan besteht darin, dass diese Liat nicht unsympathisch wird, einerseits, weil sie als Ich-Erzählerin automatisch zu größerer Identifikation einlädt und der Leser an ihrem ganzen zerrissenen Innenleben inklusive der Scham über ihr Verhalten teilhat, andererseits, weil auch Chilmi in seiner Reaktion auf seine Erfolge als Maler mit einer chaotischen Besessenheit dargestellt wird, gegenüber der Liat immer als reifer, vernünftiger wirkt. Gleichzeitig wird beider Liebe sehr poetisch und sinnlich beschrieben: „Niemand erfährt, dass er für mich entbrennt wie trockenes Laub, mich immerzu begehrlich umschmeichelt und umwirbt. Unsere schönen Nächte sind wie eine Frucht, deren Fleisch stets nachwächst, so viel man auch abbeißt, unsere Lust steigert sich mit jeder Liebkosung, hungert uns aus und sättigt uns, bis wir wieder hungrig werden. Nehmen und Geben sind eins.“ S. 128f.

Sie streiten viel, die Politik liegt immer nur ein Wort, ein Blick, einen Gegenstand entfernt, so ist für ihn ist ihre hebräische Bibel, die sie zur obligatorischen Soldatenzeit erhielt, nur das „faschistische Szenarium, Soldaten mit Gewehren und heiligen Büchern“ S. 91, nichts anderes als „die Kombination von Koran und Kalaschnikow“ bei der Hamas. Gleichzeitig bemerken diese beiden gerade in der Fremde Gemeinsamkeiten, im Umrechnen der Währungen, der Temperatur-Systeme, im Leiden unter dem strengen Winter – im Heimweh. Dennoch ist es eine „Liebe mit Verfalldatum“, mit einem antizipierten fixen Ende durch die Heimreise Liats – auch wenn sie nicht in der Lage sein wird, eine harmlose Cornflakes-Packung zu erwerben, die zufällig ihr Heimreisedatum als Verfallsdatum zeigt, akzeptiert sie diese Zäsur.

Es ist unglaublich intelligent und einfühlsam, wie Rabinyan die Handlung dieses Buches aufbaut, von der Tatsache, dass diese Liebe ihren Anfang in New York nahm, bis hin zum „Wo“ und „Wie“ des Romanendes, nicht zu vergessen der Einstieg, als Liats hebräische Schriftzeichen den Verdacht des Terrorismus in einem Café provozieren und sie Besuch vom FBI bekommt, das dann, doppelte Ironie, wiederum nicht damit umzugehen weiß, dass ihre jüdischen Eltern aus dem Iran (ausgerechnet!) nach Israel eingewandert sind.

Dieses wundervolle, poetische, sinnliche, tragische, intelligente Buch wurde vom israelischen Erziehungsministerium von der Lektüreliste für die Oberstufe gestrichen - die israelische Zeitung Haaretz zitierte eine Beamtin des Erziehungsministeriums mit der Einschätzung, der Roman ermutige zu Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden, die die »separate Identität« bedrohten, und fördere die Assimilation (vgl. z.B. Jüdische Allgemeine oder Deutschlandfunk im Internet). Anhand eines Films, den Chilmis Bruder daheim für ihn gedreht hat, bittet Liat ihn, ihr die Grenze zu zeigen, gemäß der Lage der arabischen Dörfer und der jüdischen Siedlungen. Er sagt „Sie ist hier …sie verläuft in unseren Köpfen.“ S. 215

Bewertung vom 08.08.2016
Und damit fing es an (eBook, ePUB)
Tremain, Rose

Und damit fing es an (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Die richtige Art Leben führen“ – „Weil er er war; weil ich ich war“

Das Buch über die lebenslange Freundschaft von Gustav Perle und Anton Zwiebel wurde 2016 sowohl in deutscher Sprache als auch im englischen Original „The Gustav Sonata“ veröffentlicht und ist in drei Teile gegliedert, der erste beschreibt Kindheit und Freundschaft der Jungen im Schweizer Matzlingen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, der zweite die Vorgeschichte Emilies und ihres Ehemanns Erich, und der dritte berichtet über die beiden als Erwachsene.

Gustavs Kindheit kennt von Armut und Verbitterung seiner Mutter durch den sozialen Abstieg der Familie und den frühen Tod des Vaters Erich – dieser hatte die Arbeit bei der Polizei verloren, weil er vor dem Nationalsozialismus in die Schweiz geflohenen Juden geholfen hatte. Die Mutter erzieht Gustav dazu, er müsse wie die Schweiz sein: „Du musst dich zusammenreißen und mutig und stark sein und dich heraushalten. Dann wirst du die richtige Art Leben führen.“ S. 13 Gustav verinnerlicht ihre Prinzipien und verschließt seine Ängste. Anton hingegen, der Sohn eines Bankiers, ist empfindsam und ein begabter Klavierspieler. „Natürlich ist er ein Jude“ meint Emilie über ihn. „Die Juden sind die Leute, wegen denen dein Vater gestorben ist, als er sie retten wollte.“ S. 31. Dieser freudlosen Kindheit Gustavs gegenüber stehen die Besuche bei Antons Familie, die Gustav mitnimmt zum Schlittschuhlaufen, in den Urlaub und als der begabte Anton am Klavier vorspielen soll. Aber Anton kann vor großem Publikum sein Talent nicht zeigen.

Man erfährt Familiengeschichte, besonders Emilies Hoffnungen, aus ihrer ärmlichen, freudlosen Herkunft zu einem besseren Leben zu kommen, zerbrachen. "Wenn man jung ist, glaubt man, dass man noch eine Menge Zeit vor sich hat, dass man alles, was man plant, auch tun kann. Man merkt nicht, wie die Zeit vergeht, das ist das Schwierige daran. Denn sie vergeht trotzdem." S. 70 Sie versucht, eine Beziehung aufrecht zu erhalten, wo nichts mehr ist, man liest von rücksichtslosem Begehren, Hoffnungslosigkeit, Müdigkeit, Verlust, Aufgeben.

Der erwachsene Anton will die Lieblosigkeit seiner Mutter verdrängen: „Sie hatte sich für die Person, die er war, im Grunde blind gestellt.“ Er wird Hotelbesitzer, bereitet anderen ein Heim, das Hotel wird ihm zur Zuflucht gegen die Kälte. Anton wurde Musiklehrer, bis er feststellt, dass er mit dem Aufgeben seines Traums, Konzertpianist zu werden, nie versöhnt war. Er erhält eine späte Chance. Gustav ist längst bewusst, „dass eine unerfüllte heimliche Leidenschaft zwangsläufig zum körperlichen Zusammenbruch führt.“ S. 294. Irgendwann wird klar: „Wir müssen die Menschen werden, die wir hätten sein sollen“ S. 327.

Der Roman liest sich leicht und zog mich schnell in seinen Bann. Bei der zweiten Lektüre bemerkt man besonders die unterschwelligen, (fast) versteckten Andeutungen. So deutet Tremain den vergangenen Nationalsozialismus an in den Ängsten von Antons Mutter: in ihrer Reaktion auf das Wort Lager, als die Jungen nur von ihrem Versteck im Wald berichten, oder auf Eisenbahnsignale, wenn der Ehemann sie beruhigen muss, dass der Zug nur deshalb halte. Wenn beim Klavierwettbewerb der Familienname statt Zwiebel als Zwebbel gesprochen wird, schwingt ein weiterer Unterton mit. Im späteren Verlauf berichtet ein Gast des Hotels Gustav von der Befreiung Bergen-Belsens. Das ist geschickt gemacht, der weitere Sinn für die Geschichte erschließt sich jedoch nicht.

Sprachlich ist Tremain zart, poetisch, melancholisch – bis, ja bis auf das zweite Kapitel, das von geradezu besinnungslosem Begehren erzählt in Vulgärsprache – ich mag diese Sprache nicht, finde aber – eher zu meiner Überraschung – dass sie hier passt zu dem von den zwei Nebenfiguren selbst so beschriebenen hauptsächlich animalischen Treiben. Insgesamt wegen der sonst beeindruckenden Sprache und unkitschigen Emotionalität 4,5 Punkte von 5.

Bewertung vom 25.07.2016
The Girls
Cline, Emma

The Girls


gut

Mehr Ausflug ins US-Kollektiv-Bewusstsein (Manson/Tate) denn mit wirklich glaubhaften Charakteren

Vorab: Literatur darf, kann, soll bei mir fast alles.

Thema IST Charles Manson. Der schwarze Schulbus, die „Rekrutierung“ reicher Töchtern – entsprechende Recherche empfiehlt sich; die Umsetzung ist natürlich nicht „wort-wörtlich“. Darum musste in den USA einfach gehypt werden – nehmen wir Marianne Bachmeier oder die RAF und wir sind noch nicht im Ansatz dort. Sex, Drugs AND Rock’n Roll, dazu die Morde – selbst ein schlechtes Buch wäre dort damit eingeschlagen.

Darf man das? Es geht um reale Opfer, bestialische Taten – so sehr ich eher eine literarische Aufbereitung denn ein Sachbuch lese, weil es mir einfach näher zu gehen vermag – aus Respekt gegenüber (noch lebenden!) Betroffenen, Hinterbliebenen schmeckt das schal.

Ich „glaube“ diese Evie einfach nicht – wohlhabende Familie, vierzehn, jünger aussehend – sie erprobt Zeitschriftentipps, will wahrgenommen werden, ist irgendwie „dazwischen“, himmelt ältere Jungs an, sexuelle Fantasien, erste Fummeleien – bis dahin ja. Aber sie kifft praktisch permanent auch vor der Ranch, erlebt die letzte Party der bald geschiedenen Eltern mit mehreren Drinks intus (dabei ziemlich klar im Kopf und aufrecht), lässt sich vom älteren Bruder der Freundin auffordern, sich zu ihm ins Bett zu legen (ja, sie himmelt auch ihn an und es passiert auch eher wenig) – wirklich? Die USA hatten die Hippies und Woodstock, wir hatten die 68er – ich wurde später geboren, aber meiner Erfahrung nach gab es auf dem Lande vielleicht die Fernsehbilder, Sehnsüchte, sogar die gleiche Mode, aber gleichzeitig die viel stärkere soziale Einbindung.

Glaubwürdig hingegen wirft Evie ihrer Mutter an den Kopf, wie vorher beim Vater alles andere hintanzustellen, sich ausnutzen zu lassen, vom nächsten Mann (bis S .94). Sie rennt los, der schwarze Schulbus kommt vorbei, man bietet ihr eine Mitfahrt an, nimmt sie wahr. Aber vom als "alt" empfundenen Russell (dem Manson-alter ego) lässt sie sich sofort zu Oralsex nötigen?

Mir hat Cline ihre Protagonistin einfach zu schnell dorthin geschnippst. Da sagt Evie, 14, über eines der Mädchen, mit einem Polizisten verheiratet, sie „…drückte sich mit der verträumten Beflissenheit einer misshandelten Ehefrau an den Wänden herum…“ S. 185

Das eigentliche Sehnsuchtsobjekt Evies ist – und bleibt – die wenig ältere Suzanne; nur die Mädchen sind es, die sie beachtet. Wirklich thematisiert wird das nicht. Frauen bei Cline wollen gefallen, verdrängen, verleugnen "Arme Mädchen. Die Welt mästet sie mit der Verheißung von Liebe. Wie dringend sie sie brauchen, und wie wenig die meisten von ihnen je bekommen werden. Die klebrig süßen Popsongs, die Kleider, die in den Katalogen mit Wörtern wie "Sonnenuntergang" und "Paris" beschrieben werden. Dann werden ihnen die Träume mit brutaler Kraft weggenommen; die Hand, die an den Knöpfen der Jeans zerrt, dass niemand hinsieht, wenn der Mann im Bus seine Freundin anbrüllt." S. 151 Die Einschätzung Evies zum Weltbild von Mädchen GENERELL bleibt bei ihr von der Jugendlichen zur Erwachsenen stabil, wird an keiner Stelle zur Diskussion gestellt. Im Alter resignieren die Frauen – ernsthaft erwachsen werden sie nicht (ich scheue den überbenutzten Begriff der „Emanzipation“). „Mädchen verstanden sich darauf, diese enttäuschenden weißen Stellen auszumalen.“
„Und nun war ich älter, und die auf Wunschdenken beruhenden Requisiten künftiger Ichs hatten ihr Tröstendes eingebüßt.“ S. 141

Fazit?
Der Schreibstil hat mich schnell durch die Geschichte gleiten lassen, Cline kann toll mit Worten umgehen und ist fantastisch in bildhafter Sprache, wobei es teils etwas zu viel davon gibt. Dafür, dass in „The Girls“ permanent (Selbst-) Beobachtung und Analyse betrieben werden, ist mir das Buch zu unreflektiert.