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Sophie

Bewertungen

Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 30.09.2022
Bullauge
Ani, Friedrich

Bullauge


weniger gut

Ein Roman über das Suhlen im Selbstmitleid

Mit „Bullauge“ richtet sich Friedrich Ani offenkundig an eine ganz spezielle Zielgruppe: Mit seinem Protagonisten Kay Oleander können sich wohl nur Männer jenseits der Midlife-Crisis identifizieren, die das Gefühl haben, obsolet zu werden. Leider weder inhaltlich noch stilistisch ein gelungener Roman.

Der Klappentext von „Bullauge“ führt ein wenig in die Irre, suggeriert er doch interessante Zwiegespräche zwischen dem Polizisten Kay und der rechts-sympathisierenden Demonstrantin Silvia und eine spannungsgeladene Handlung bei den Ermittlungen zu einem politisch motivierten Anschlag. Ein Großteil des Buchs dreht sich jedoch darum, wie Oleander sich in seiner Wohnung oder bei Spaziergängen durch die Stadt im Selbstmitleid suhlt, wobei es manchmal um den teilweisen Verlust seiner Sehkraft (das Resultat eines vermeintlich von Silvia getätigten Flaschenwurfs bei einer Demo) geht, meist jedoch um die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen. Erst im letzten Drittel kommt allmählich Spannung auf, und es werden interessante Fragen berührt, etwa wie und warum Silvia überhaupt in dieses rechte Milieu abdriften konnte. Bis dahin muss man sich aber erst einmal durcharbeiten, und das ist mühselig, vor allem auch aufgrund des über-ernsthaften Erzähltons, der dabei angeschlagen wird.

Mit Kay Oleander hat Friedrich Ani eine durchweg unnachvollziehbare Persönlichkeit geschaffen, die keinerlei Sympathien aufkommen lässt. Als junge Frau ist es mir absolut unmöglich, mich mit seinen Gedanken zu identifizieren – es wirkt geradezu, als erzähle der Autor absichtlich gerade so an authentischen menschlichen Emotionen vorbei. Die Trostlosigkeit und Monotonie seiner Existenz wird dermaßen breit ausgebreitet, dass der Zugang zum Roman schwerfällt, denn er findet rein durch das Innenleben seines Protagonisten statt. Vor allem in der ersten Hälfte gibt es kaum Dialoge oder Handlungselemente, die von seinem Elend ablenken könnten. Rausreißen kann das letzte Drittel zwar nicht mehr viel, aber immerhin gibt es einem zum Schluss das Gefühl, die Lektüre habe sich wenigstens ein bisschen gelohnt.

Ein Roman, der aufgrund seines unnachvollziehbaren Protagonisten und der relativen Handlungsarmut leider wenig zu bieten hat. Lohnenswert ist eigentlich nur das letzte Drittel!

Bewertung vom 30.09.2022
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


ausgezeichnet

Anspruchsvolle Fantasy mit komplexen Themen

Mit „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ hat Natasha Pulley ein historisches Fantasy-Epos geschaffen, das an Komplexität und Ideenreichtum kaum zu überbieten ist. Um jeden Aspekt zu erfassen, muss man den Roman allerdings sicher mehr als einmal lesen.

Im Zentrum des Geschehens steht Joe Tournier, ein Mechaniker und vormaliger Sklave, der sich Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich in einer alternativen Realität wiederfindet, in der Frankreich den Krieg gegen England gewonnen und das Land besetzt hat. Auf der Suche nach Antworten und seiner eigenen Identität, die ihm irgendwie abhandengekommen zu sein scheint, wird er verwickelt in unglaubliche Vorgänge, die mit einem mysteriösen Leuchtturm in Zusammenhang stehen. Offenbar erlaubt dieser Ort Zeitreisen, und Joe landet gut 90 Jahre in der Vergangenheit und wird mit verwirrenden Informationen zu sich selbst konfrontiert.

Ganz im Einklang mit dem Zeitreise-Thema spielen Zeitsprünge und verzettelte Zeitebenen eine enorm große Rolle in Natasha Pulleys wortgewaltig erzähltem Roman. Aus einzelnen Puzzlestücken verschiedener Zeitebenen und Realitäten setzt sich erst nach und nach ein Bild zusammen, aus dem erst ganz zuletzt hervorgeht, wo Joe wirklich hingehört und was ihm widerfahren ist. In dieser Hinsicht ist der Roman extrem anspruchsvoll, denn aufgrund der Vielzahl von Namen, Persönlichkeiten, historischen Ereignissen und Verbindungen zwischen alldem kommt schon mal Konfusion auf. Zugleich beeindruckt „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ aber auch gerade dadurch, dass die Autorin diese vielen Fäden stets fest im Griff zu haben scheint, wo man sich als Leserin vielleicht lieber ein Diagramm anfertigen würde. Definitiv ein Roman, bei dem sich eine zweite Lektüre lohnt! Besonders positiv hervorzuheben ist noch die feinfühlige, emotionale Betrachtungsweise der Charaktere, die nie zu Stereotypen ihrer Zeit oder ihrer Lebensumstände verkommen. Trotz des doppelt als fremd markierten Settings (historisch und fantastisch) entstehen plastische, nachvollziehbare Charaktere, deren Schicksale tief berühren.

Ein lohnenswerter historischer Fantasy-Roman mit vielen einzigartigen Ideen, der sicher noch lange nachhallen wird.

Bewertung vom 03.09.2022
Leinwand ohne Gesicht
Wiesenbach, Doris

Leinwand ohne Gesicht


ausgezeichnet

Ein berührendes und aufrüttelndes Stück Literatur

Das Cover von „Leinwand ohne Gesicht“ lädt zum Träumen ein, aber der Schein trügt, denn dieser Roman geht an die Substanz! Autorin Doris Wiesenbach greift einige große gesellschaftliche Themen auf und zwingt uns Leser*innen zu einer (teils unbequemen) Auseinandersetzung damit. Auf beeindruckende Weise gelingt ihr dies, ohne die vorherrschende leicht surreale Atmosphäre, die in poetischer Sprache gestaltet wird, zu durchbrechen.

Über die Handlung des Romans darf man gar nicht zu viel verraten, denn worum es wirklich geht, stellt sich erst nach und nach heraus. Lea, die junge Protagonistin, hat ihr Gedächtnis komplett verloren und ist seit zwei Jahren in einer Spezialklinik – bisher zeigen die sanften Methoden der Einrichtung jedoch keinen Erfolg. Am meisten enttäuscht davon ist Leas Ehemann Golo, der sie jeden Tage besucht und immer nachdrücklicher darauf besteht, sie mit nach Hause zu nehmen. Aber Leas Kopf ist wie leer gefegt, und sie spürt keine Verbindung zu diesem Mann. Zunehmend sorgt sie sich jedoch um das, was ihre Psyche vor ihr verstecken möchte. Was ist nur geschehen, was sie so aus der Bahn geworfen hat?

„Leinwand ohne Gesicht“ ist weder ein klassisches Psychodrama noch ein einfacher Spannungsroman. Spielerisch bewegt sich das Buch zwischen Genregrenzen hindurch und webt subtile phantastische Elemente ein, die die Situation bisweilen wie einen Traum erscheinen lassen. An anderen Stellen werden wir Leser*innen jedoch brutal und nüchtern mit der vollen Härte der Realität konfrontiert. Die literarische Gestaltung passt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit der Entwicklung der Handlung an, was einen ganz besonderen Sog erzeugt.

Mit „Leinwand ohne Gesicht“ ist Doris Wiesenbach ein besonderes Kunststück gelungen: ein emotional bewegendes und sprachlich überzeugendes Stück Literatur, das zugleich die Spannungsentwicklung eines Kriminalromans und die Bildhaftigkeit eines Gedichts in sich trägt. Ein im positivsten Sinne ungewöhnliches Buch!

Bewertung vom 31.08.2022
Horrorsammlung. Life is a Story - story.one
Merker, Anne

Horrorsammlung. Life is a Story - story.one


gut

Ideenreich, jedoch einfach zu knapp

Um die „Horrorsammlung“ von Anne Merker richtig einordnen zu können, muss man wissen, dass das Format von story.one, der Plattform, der das kleine Büchlein entstammt, sehr restriktiv ist: Die einzelnen Kurzgeschichten dürfen maximal 2.500 Zeichen lang sein – nicht viel Platz, um eine Idee zu entwickeln. In diesem Format kommen Anne Merkers an sich oft originelle Ideen leider weniger gut zur Geltung, als möglich gewesen wäre.

Insgesamt zwölf kurze Texte mit Schauerpotenzial versammeln sich in dem schmalen Bändchen. Die Autorin verlässt sich dabei auf klassische Horrormotive: beunruhigende Geräusche, geheimnisvolle Funde auf dem Dachboden, mörderische Absichten und mysteriöse Wesen. Die Minigeschichten präsentieren spannende Motive und wecken Neugier, sind aber in ihrem Format zu kurz, um wirklich Atmosphäre und Gänsehaut aufkommen zu lassen. Für eine Entwicklung von Gedanken ist auf jeweils nur knapp drei kleinformatigen Seiten kein Platz, und so wirken die Wendungen am Ende der Geschichten, die Anne Merker zuverlässig einsetzt, oft übereilt. Nur wenige dieser kleinen literarischen Vignetten fokussieren sich so auf eine Situation, dass das Timing stimmt – da wäre positiv vor allem „Der Keller“ hervorzuheben.

Die „Horrorsammlung“ ist ein Büchlein, das in einer ausgereiften und ausführlicheren Form definitiv seinen Reiz hätte. Jede der enthaltenen Minigeschichten hätte das Potenzial für eine atmosphärische und gruselige Kurzgeschichte. Es entsteht leider der Eindruck, dass sich die Autorin mit dieser verkürzten Form der Veröffentlichung keinen Gefallen getan hat. Deshalb fällt die Bewertung dieses Büchleins auch besonders schwer: Für die literarische Form, die jedoch strikt vorgegeben ist, gibt es Punktabzug, die Ideen selbst zeigen jedoch das kreative Potenzial hinter diesen kurzen „Skizzen“. Es bleibt zu hoffen, dass die nächste Veröffentlichung sich nicht mehr diesem restriktiven Kleinformat anpassen wird.

Bewertung vom 30.08.2022
Lügentod - Wenn die Wahrheit stirbt: Thriller
Lambert, Ariana

Lügentod - Wenn die Wahrheit stirbt: Thriller


sehr gut

Spannender Roman, der in Richtung Jugend-Thriller tendiert

Mit „Lügentod“ erforscht Ariana Lambert die Vergangenheit ihrer Protagonisten, die sich als Erwachsene nach dem Tod eines gemeinsamen Jugendfreundes in ihrem Heimatort wiedertreffen. Dabei kommen einige bemerkenswerte Ereignisse ans Licht, und Vergangenheit und Gegenwart greifen nach und nach ineinander. So manche Entwicklung scheint nicht ganz glaubwürdig, aber die Autorin punktet gewaltig mit einer emotional bewegenden Hintergrundgeschichte und viel mysteriösem Flair.

Hugo kehrt zur Beerdigung seines Jugendfreundes Hannes als erfolgreicher Anwalt aus den USA zurück ins kleine Karlsdorf und trifft seine Jugendliebe Becca wieder. Was als gemeinsame Ermittlergeschichte beginnt – denn Johannes scheint nicht auf natürlichem Wege zu Tode gekommen zu sein –, verwandelt sich schnell in einen gemeinsamen Rückblick der beiden in ihre Vergangenheit. Denn Morde gab es in dem Dorf schon einmal, und damals ermittelten sie mit ihrer Clique auf eigene Faust.

Unerwartet an „Lügentod“ ist der rasche Sprung in die Vergangenheit. Ein Großteil des Buchs spielt sich in Beccas und Hugos teils dramatischer Jugend ab, wodurch dem Roman ein Hauch von Jugend-Thriller anhaftet. Hier und da werden auch einige genretypische Elemente wie das der Jugendclique, die der Polizei einen Schritt voraus ist, eingesetzt, jedoch auf interessante und originelle Weise aufgelöst. So verzeiht man der Autorin die ein oder andere etwas unglaubwürdige Entwicklung. Spannung baut sich vor allem durch die emotionalen Verstrickungen der Freunde ein, wobei insbesondere Becca eine besondere Rolle zukommt – hier bietet sich viel Anlass zu Spekulationen, und die Autorin schafft es immer wieder, einen mit überraschenden Enthüllungen auf den Holzweg zu führen.

Insgesamt ein lohnenswerter (Jugend-)Thriller, der vor allem auf emotionaler Ebene überzeugen kann und damit auch teils unglaubwürdige Entwicklungen im rechten Licht erscheinen lässt.

Bewertung vom 30.08.2022
Laidlaw / Jack Laidlaw Bd.1
McIlvanney, William

Laidlaw / Jack Laidlaw Bd.1


sehr gut

Literarischer Krimi mit vielen düsteren Gestalten

„Laidlaw“, der erste Band aus William McIlvanneys Reihe um den schottischen Detective Laidlaw, ist ein düsteres Stück Kriminalliteratur voll zwielichtiger Gestalten, menschlicher Abgründe und schlagfertiger Sprüche. Sympathiepunkte sammelt in diesem Krimi niemand, aber die perfekt getroffene Atmosphäre der Glasgower Unterwelt trieft aus jeder Seite.

Detective Laidlaw ist ein ganz eigener Charakter und macht sich bei der Glasgower Polizei durch seine unkonventionelle Art und die Verweigerung traditioneller Polizeiarbeit wenig Freunde – seine Methode liefert jedoch Ergebnisse, sodass seine Vorgesetzten ihn zähneknirschend auf den brutalen Sexualmord an einer jungen Frau ansetzen, der auf den ersten Blick keinerlei Anhaltspunkte für die Ermittlungen liefert. Laidlaw muss seine Unterweltkontakte spielen lassen, um an Informationen zu kommen, und erfährt dabei nach und nach von einigen überraschenden Zusammenhängen mit den Mächtigen des Glasgower Verbrechens. Unterstützt wird er dabei von dem jungen Polizisten Harkness, der zwar vor Laidlaws Exzentrik gewarnt wurde, sich jedoch der Faszination seiner unkonventionellen Techniken nicht entziehen kann.

„Laidlaw“ ist ein fabelhaft inszenierter Noir-Krimi, der sich in die Abgründe des Menschlichen wagt und dabei nur Graustufen zulässt. Sein charismatischer Protagonist kämpft mit seinen eigenen Dämonen und Unzulänglichkeiten, was ihn zutiefst menschlich macht – dabei werden aber so manche Klischees des Genres nicht ausgelassen wie etwa der tief sitzende Sexismus, der sich vor allem in den flachen Frauenfiguren bzw. ihrer Reduktion auf ihre Funktion für die Männer der Geschichte äußert. Da wird auch schon mal der Liebesakt und die „Eroberung“ eines Frauenkörpers mit der Eroberung eines Kontinents durch einen Kolonisator verglichen. Abgesehen von dieser Schwäche überzeugt „Laidlaw“ jedoch mit einem für Krimis außergewöhnlich bildhaften, literarischen Stil, der gerne Metaphern und literarische Zitate einsetzt und damit einen Kontrast zur grobschlächtigen Realität des organisierten Verbrechens eröffnet.

Ein lohnenswerter Krimi, der vor allem durch seine atmosphärische Wortwahl und seine moralische Ambivalenz besticht, wenngleich er in mancher Hinsicht ein wenig aus der Zeit gefallen scheint.

Bewertung vom 30.08.2022
Das Dunkle bleibt
McIlvanney, William;Rankin, Ian

Das Dunkle bleibt


weniger gut

Keine ganz stimmige Mischung

„Das Dunkle bleibt“ ist eine Coproduktion aus den Federn von William McIlvanney und Ian Rankin. Es handelt sich um die unvollendete Prequel zu McIlvanneys Inspector-Laidlaw-Reihe, deren Vollendung sich Ian Rankin annahm. Das Ergebnis ist ein nicht ganz überzeugendes Gemisch zweier hervorragender Autoren.

Mit Inspector Laidlaw hat William McIlvanney einen unangepassten Charakter geschaffen, der mit seiner ganz eigenen Art auf Glasgows Straßen für Gerechtigkeit sorgt: ein Einzelgänger, der gerne unkonventionell arbeitet und ein erstaunlich gutes Verhältnis zur Glasgower Unterwelt pflegt. In „Das Dunkle bleibt“ muss er dabei mit besonderem Bedacht vorgehen, denn der Mord an einem zwielichtigen Anwalt schlägt hohe Wogen und droht, einen Bandenkrieg zu entfachen.

Im Vergleich zu McIlvanneys anderen Büchern der Reihe bleibt Laidlaw in „Das Dunkle bleibt“ regelrecht blass. Seine typischen Verhaltensweisen sind alle da, aber sie sind weniger raffiniert umgesetzt und eingebunden, und auch sein typischer teils trockener, teils rauer Humor kommt zu kurz. Hinzu kommt ein Kriminalfall, der zwar durchaus Spannung aufkommen lässt, aber oft wenig strukturiert wirkt: Trotz der relativen Kürze des Buchs taucht eine Unmenge von (Neben-)Charakteren auf, die einen beim Lesen schnell den Überblick verlieren lassen und eine Identifikation mit einzelnen Figuren erschweren. Zwar halten die Ermittlungen schlussendlich noch einige Überraschungen bereit, aber ein echtes Erfolgsgefühl stellt sich dabei nicht ein. Auch McIlvanneys sonst so rau-poetische Sprache wirkt in der Prequel verwässert.

Am Ende dieses Noir-Krimis bleibt leider nur die ernüchternde Feststellung, dass man McIlvanneys Manuskript besser in seiner Schreibtischschublade gelassen und sich stattdessen an seinen ausgereiften Romanen erfreut hätte. Leider kein begeisterndes Buch!

Bewertung vom 30.08.2022
MTTR
Friese, Julia

MTTR


ausgezeichnet

Sprachgewaltiges Porträt einer Frau und einer Gesellschaft

„MTTR“ von Julia Friese ist nur auf den ersten Blick ein Buch über Mutterschaft. Denn es geht nicht nur ums Muttersein und Mutterwerden, sondern um eine ganze Generation und ihren Umgang mit der Welt. In teils gewöhnungsbedürftiger, aber immer präziser Sprache seziert Julia Friese meisterhaft die Verhaltensweisen einer ganzen Gesellschaft.

Inhaltlich ist „MTTR“ schnell zusammengefasst: Teresa, eine junge Frau aus der Millenial-Generation, wird schwanger. Als Leser*innen begleiten wir sie auf ihrem Weg zur Mutterschaft: von den Besuchen beim Gynäkologen bis zu den Gesprächen mit ihrem Partner Erk, der Offenbarung gegenüber den Eltern und dem Gang zum Geburtsvorbereitungskurs und in die Klinik. Vordergründig eine so profane Abfolge von Ereignissen, steckt in jeder Szene so viel Sprengstoff, dass das Buch einen regelrecht aufgerüttelt zurücklässt. Dabei muss man sich an Julia Frieses reduzierten, nüchternen Sprachstil erst einmal etwas gewöhnen.

Der Roman lässt keine Wunde aus, um Salz hineinzustreuen: Die Dialoge sind so lebensnah, die Figuren mit ihren Verhaltensweisen so authentisch, dass sie ebenso gut aus den Seiten hervorspringen könnten. Und gerade das trifft besonders tief, denn es zeigt schamlos und ungeschminkt, wie Menschen miteinander umgehen. Teresas Eltern sind kontrollierend, distanziert und auf Erfolg gepolt, Erks Eltern überbehütend und übergriffig. Der Geburtsvorbereitungskurs kennt nur Überflieger und vermittelt ein Gefühl von Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit, während die gleichaltrigen Freunde ihre Überforderung durch Witze und Distanzierung zu überspielen versuchen. Teresa schwimmt in diesen Reaktionen mit all ihren eigenen Sorgen und Ängsten, die sie zwar genau reflektiert und sich bewusst macht, jedoch nie überwinden kann. So schonungslos direkt ist das Buch erzählt, dass wir als Leser*innen förmlich in ihrem Kopf zu stecken scheinen und, genau wie Teresa, nicht aus ihrer Haut können.

„MTTR“ beschreibt ein Lebensgefühl, mit dem sich viele Menschen aus Teresas Generation sicher genau identifizieren können. Schonungslos seziert das Buch das Zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich weiterentwickeln möchte, aber doch immer in alten Verhaltensmustern stecken bleibt. Unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 30.08.2022
Auf See
Enzensberger, Theresia

Auf See


sehr gut

Ein schleichender Weltuntergang

„Auf See“ von Theresia Enzensberger ist auf den ersten Blick eine Dystopie, wie man sie aus Hollywood-Filmen kennt: eine jugendliche Heldin in einer Enklave auf dem Meer, die nach dem Kollaps der modernen Gesellschaft ein isoliertes Dasein fristet. Auf den zweiten Blick werden aber die vielen interessanten Ebenen offensichtlich, die die Autorin geschickt zu einem bewegenden und vor allem nachdenklich machenden Ganzen verwebt.

Die junge Yada lebt in der Seestatt, einer künstlichen Insel vor der Küste Deutschlands, die ihr Vater als futuristische Rettungsarche entworfen hat. An ihre Mutter kann Yada sich kaum erinnern, und auch sonst hat sie kaum persönliche Kontakte und schlägt sich mit Einsamkeit und Langeweile herum, die erst durchbrochen wird, als ihr Vater mit seiner Geheimnistuerei ihr Misstrauen weckt. Während Yada Nachforschungen anstellt, eröffnet ein zweiter Erzählstrang die bizarre Welt der alternden, immens erfolgreichen Künstlerin Helena, deren Werk aus dem Ruder gelaufen ist. Wie diese beiden Geschichten verknüpft sind, enthüllt das Buch erst nach und nach.

Der Zauber von „Auf See“ besteht in der Ernüchterung, die den geschilderten bahnbrechenden Ereignissen immer zugleich innewohnt. Die Seestatt ist kein High-Tech-Paradies, das noble Aussteiger auffängt, sondern ein langsam zerfallendes Experiment, das sich kaum allein auf den Beinen halten kann. Helena ist kein künstlerisches Ausnahmetalent, sondern rutscht zufällig und ungewollt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Diese Nüchternheit setzt die Autorin auch mit Einschüben zu scheinbar unzusammenhängenden Berichten über die Welt- und Naturgeschichte fort, die nach und nach größere Zusammenhänge offenlegen. Mit oft zynischem Blick seziert Theresia Enzensberger die Schwächen der modernen Gesellschaft: den unbedingten Glauben an Innovation, den Wunsch nach Vernetzung und Anerkennung um jeden Preis, das ungesunde Verhältnis zur Natur und nicht zuletzt die schwindende Solidarität. Dabei entgleiten ihr jedoch manchmal ihre Charaktere: Trotz des intensiven Fokus auf zwei Protagonistinnen kommt man als Leserin nicht richtig an die Figuren ran. Das Buch ist insofern eher politisch als persönlich, und auch das Tempo leidet manchmal etwas unter der Ausgestaltung bestimmter Themenkomplexe. Nichtsdestrotrotz kann es damit durchaus überzeugen.

„Auf See“ ist ein politischer Roman, der viele gesellschaftliche Themen anschneidet und dabei nicht auf große Gesten und heldenhafte Charaktere setzt. Im Vordergrund stehen die großen Zusammenhänge und Entwicklungen, die seine Lesenden herausfordern und zum Nachdenken anregen. Eine lohnenswerte Lektüre!

Bewertung vom 30.08.2022
Herr Janosch, wie drückt man Liebe aus, die so groß ist, dass man keine Worte dafür findet?
Janosch

Herr Janosch, wie drückt man Liebe aus, die so groß ist, dass man keine Worte dafür findet?


ausgezeichnet

Ein zauberhaftes kleines Büchlein für Janosch-Fans und Verliebte

Dieses kleine Buch mit dem langen Titel („Herr Janosch, wie drückt man Liebe aus, die so groß ist, dass man keine Worte dafür findet? Wondraks kleine Liebeserklärungen für jeden Tag“) nimmt Lesende mit in die pastellbunte und augenzwinkernde Welt von Janosch. In einem oft (selbst-)ironisch angehauchten, manchmal aber auch zuckersüßen Frage-Antwort-Format wird die Beziehung von Luise und Wondrak liebevoll auseinandergenommen. Dabei geht es nicht um unbedingte Harmonie, sondern um einen liebevoll-kritischen Blick auf Beziehungen und ihre Mechanismen. Das Highlight jeder Seite sind die Illustrationen in Janoschs unverwechselbarem Stil, die Phantastik und Realität in unaufgeregten Pinselstrichen vereinen und den Figuren Leben einhauchen – und auch die Tigerente darf hier und da natürlich nicht fehlen.

Eine zauberhafte Geschenkidee für junge und alte Paare, aber auch für alle, die ein wenig schmunzeln und fühlen möchten.