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Sophie

Bewertungen

Insgesamt 169 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2022
Dutzler, Herbert

In der Schlinge des Hasses


ausgezeichnet

Ein beklemmender Blick in ein wahnhaftes Hirn in einer Abwärtsspirale

Mit „In der Schlinge des Hasses“ gelingt Herbert Dutzler ein literarisches Kunststück, das seinesgleichen sucht: Zugleich authentisch, zutiefst verstörend und emotional mitreißend gewährt er einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt eines rechtsextremen Mörders während seines Abstiegs in die vollständige Verblendung. Ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann!

Leo ist Mitglied einer rechten Burschenschaft, studiert Jura und lebt bei seiner alkoholkranken Mutter, die er verabscheut. Den verstorbenen Vater, der ihn zu einem strammen Neonazi zu erziehen versuchte, himmelt er an, trotz des Missbrauchs, den er als Kind durch ihn erfuhr – physische und psychische „Disziplinierung“ waren für ihn und seine Mutter an der Tagesordnung. Als erwachsener Mann sucht Leo ein Ventil für die aufgestauten Emotionen und findet es in einem stetig zunehmenden wahnhaften Hass auf Menschen anderer Herkunft, gepaart mit einer Art verklemmter Misogynie. Tiefer und tiefer rutscht Leo in eine Abwärtsspirale aus Hass, Gewalt und Paranoia, verbunden mit einem bizarren Überlegenheitsgefühl gegenüber der Welt um ihn herum und der Polizei. Als seine kroatischstämmige Kommilitonin Marinca beginnt, sich für ihn zu interessieren, bekommt er die Chance, sich daraus zu befreien, aber ist es dafür nicht schon zu spät?

Mit Leo hat Herbert Dutzler einen durch und durch unsympathischen Charakter erschaffen. Dadurch wird es umso beeindruckender, dass es ihm im Laufe des Romans gelingt, so etwas wie Mitgefühl für ihn bei der Leserschaft zu erzeugen. Die Rückblenden in Leos Kindheit zeigen deutlich die vielen Kreuzungen, an denen etwas anders hätte laufen können, an denen jemand hätte eingreifen und Leo unter Umständen retten können – und thematisieren damit auch die gesellschaftliche Verantwortung für eine solche Radikalisierung. „In der Schlinge des Hasses“ ist ein Buch, das man aushalten muss, denn man kommt nicht weg aus der Innenperspektive von Leo, muss sich mit seinen irrsinnigen Gedankengängen auseinandersetzen. Der Roman liefert keine Entschuldigungen oder Ausflüchte, aber Erklärungen. Er nimmt seinen radikalen Protagonisten nicht aus der Verantwortung, zeigt aber das gesamte Bild, in dem deutlich wird, dass eine Radikalisierung nicht ohne das Zutun anderer stattfindet. All das gelingt Dutzler, ohne auf graphische Schockmomente zu setzen, denn das Schockierende ist nicht die stattfindende Gewalt, sondern das, was im Kopf des Protagonisten vorgeht. Trotz dieser strikten Innenperspektive bleibt die Spannung kontinuierlich erhalten, und der Text entwickelt eine regelrechte Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann.

Eine beeindruckende, emotional fordernde und betroffen machende Charakterstudie, die tief berührt und aufwühlt. Dieses Buch lässt sich nicht so einfach vergessen!

Bewertung vom 17.10.2022
Fusco, Antonio

Schatten der Vergangenheit


weniger gut

Ein aus der Zeit gefallener italienischer Krimi – Chauvinismus pur!

Mit Commissario Casabona schickt Antonio Fusco in „Schatten der Vergangenheit“ einen Protagonisten ins Rennen, der leider schnell zum Stereotyp eines italienischen Machos verkommt. Zwar kann der Krimi durchaus mit einer interessanten Kriminalhandlung punkten, die platten Figuren und das hochproblematische Frauenbild des Romans zerstören jedoch jegliche aufkommende Atmosphäre.

Casabona wird verdächtigt, den Liebhaber seiner Ex-Frau ermordet zu haben und muss daher vor der Justiz fliehen – was gar nicht so einfach ist, denn es handelt sich um seine eigenen Freunde und Kollegen. Um seinen guten Namen reinzuwaschen, stellt er auf eigene Faust Ermittlungen an und muss gleichzeitig versuchen, seinen Kollegen immer einen Schritt voraus zu sein. Auf der Suche nach der Wahrheit und Unterstützung von Menschen, denen er vertrauen kann, muss er rasch feststellen, dass die italienische Unterwelt ihre Finger im Spiel hat.

Trotz der Kürze des Romans hat dieser Krimi auf Handlungsebene durchaus einiges zu bieten. Vor allem zu Beginn macht es großen Spaß, Casabona dabei zu begleiten, wie er seine Kollegen bei der Polizei an der Nase herumführt, um sich der Verhaftung zu entziehen. Der Lesespaß wird aber leider bald ruiniert von dem desaströsen Frauenbild, das nicht nur in Casabonas Perspektive, sondern auf jeder Seite durchschimmert – man hätte eigentlich hoffen dürfen, dass Haltungen wie „Ich verstehe die Frauen nicht, und sie sind alle gleich“ irgendwann mal aus der Literatur verschwinden würden, aber weit gefehlt. Frauen tauchen bei Fusco nur als (betrügerische) Geliebte auf, die den tiefgründigen Herzschmerz des tragischen Helden zu verantworten haben. Persönlichkeit oder Charakter gönnt er keiner der spärlich gesäten Frauenfiguren. Stattdessen ergeht sich Casabona regelmäßig in ausführlichen melodramatischen Ergüssen über die Härten des Lebens. Das ist vor allem insofern schade, als es dem Autor durchaus gelingt, mit einem flüssigen Schreibstil Spannung aufzubauen, jedoch kann man seine stereotypen Figuren leider einfach nicht ernst nehmen.

Ein Krimi, der sich leider liest, als wäre er vor mindestens sechzig Jahren geschrieben worden und hätte das Gesellschaftsbild dieser Zeit mitgebracht. Trotz Potenzial in der Handlung eine enttäuschende Lektüre.

Bewertung vom 17.10.2022
Reifenberg, Frank Maria

Stay Alive - das ist kein Spiel


sehr gut

Eine originelle Story mit unerwartetem Twist

„Stay Alive – das ist kein Spiel“ von Frank Maria Reifenberg ist eins dieser Jugendbücher, die Potenzial zu mehr haben, denn es überzeugt mit einer absolut originellen Prämisse und einigen unerwarteten Überraschungen. Dass es dabei manchmal etwas oberflächlich bleibt, darüber lässt sich in Anbetracht der spannenden Entwicklungen wohlwollend hinwegsehen.

Das PC-Spiel Seven Souls ist kein gewöhnliches Spiel. Wer es durch alle virtuellen Challenges schafft, dem winkt die Chance auf einen hohen Geldpreis – aber nur, wenn er auch als Sieger aus weiteren realen Challenges hervorgeht, die die Finalist*innen live auf einer abgelegenen Insel absolvieren müssen. Diese Chance wollen sich Hunter, Jayden, Joey, Rebel und Maggie nicht entgehen lassen, und so tun sie sich als Team zusammen, um das Spiel zu schlagen. Das Problem: Teams sind nicht erlaubt, und zu jung sind die fünf eigentlich auch. Aber sie sind wild entschlossen, es trotzdem bis in die finale Runde zu schaffen, und bekommen dabei überraschende Unterstützung. Schon bald stehen sie jedoch vor der Frage, was noch Spiel ist und was Realität – und wem sie vertrauen können.

„Stay Alive“ ist ein rasant erzähltes Jugendbuch voll cleverer Ideen und einem überaus interessanten Setting. Das Konzept von Seven Souls passt besser in die aktuelle Welt der Tech-Milliardäre, als man denken würde, was die Handlung und die damit verbundenen Implikationen hoch aktuell macht. Mit seinen Charakteren zeigt Reifenberg, dass er Wert auf Diversität und die Repräsentation unterschiedlicher Identitäten legt, was dem Buch einen besonderen Charme verleiht. Dabei gelingt es jedoch leider nicht immer, Klischees und Stereotypen aus dem Weg zu gehen, sodass die Figurenzeichnung (bei einem relativ umfangreichen Personeninventar) hinter der spannenden und rasanten Handlung leider ein wenig zurückbleibt. Die einen schwingen sich sofort zu ungeahnten Heldentaten auf, die anderen bleiben klischeehaft und eindimensional. Der Twist am Ende des Buchs kann jedoch dafür durchaus entschädigen und liefert sogar die ein oder andere Erklärung für Aspekte, die früher im Buch Stirnrunzeln verursachten …

Ein interessantes und originelles Jugendbuch mit viel Action und hohem Tempo, das vor allem durch eine wirklich neuartige Idee überzeugt.

Bewertung vom 16.10.2022
Buchholz, Simone

Unsterblich sind nur die anderen


sehr gut

Bizarr, phantastisch und im besten Sinne romantisch

Mit „Unsterblich sind nur die anderen“ hat Simone Buchholz ein durch und durch überraschendes Stück Literatur geschaffen. Denn schon das Genre bleibt zu Beginn irgendwie ein Geheimnis. Krimi? Mystery? Phantastik? Literatur? Liebesroman? Der Roman verweigert sich klassischen Genrezuordnungen und suhlt sich im Verwirrenden, Merkwürdigen. Sich darauf einzulassen, lohnt sich!

Worum es eigentlich geht, das enthüllt dieses ungewöhnliche Buch erst nach und nach. Inhaltszusammenfassungen und Klappentexte zu lesen, ist also eigentlich müßig. Es sei nur so viel verraten: Es geht um eine Schiffsreise mit phantastischen Elementen und um menschliche Sehnsüchte und ihre Erfüllbarkeit.

Ebenso, wie das Buch nicht so recht in irgendein Genre passen will, wehrt es sich auch gegen eine strenge Gattungseinordnung: Prosa, Lyrik und Dramatik sind zu einem poetischen Gewebe verknüpft, das manchmal irritiert, manchmal tief bewegt, manchmal auch verwirrt. Gerade in der ersten Hälfte des Buches ist diese literarische wie auch inhaltliche Uneindeutigkeit nicht ganz einfach auszuhalten, denn der Text scheint nur Geheimnisse über Geheimnisse ohne Lösung und Zielrichtung aufzutürmen. Auf dieses Stadium der Verwirrung muss man sich einlassen und den Wunsch nach Eindeutigkeit überwinden, um in den Genuss der durchaus lohnenswerten zweiten Hälfte zu kommen, die Auflösungen von vielen, wenn auch nicht allen Rätseln bereithält.

„Unsterblich sind nur die anderen“ feiert die Uneindeutigkeit und reizt die Grenzen literarischer Konventionen aus. Ein Buch, das sich schwer beschreiben lässt und das ganz gewiss eine spezielle Leserschaft erreichen will. Vielleicht lässt es sich am besten so sagen: „Unsterblich sind nur die anderen“ muss man finden wollen.

Bewertung vom 16.10.2022
Atmaca, Aylin

Ein Alman feiert selten allein


sehr gut

Witzig, charmant und erhellend

Mit „Ein Alman feiert selten allein“ nimmt Aylin Atmaca gekonnt und charmant das gutbürgerliche deutsche Weihnachtsfest aufs Korn und regt an, eigene eingefahrene Perspektiven mal zu hinterfragen. Dass der ein oder andere Witz dabei etwas platt daherkommt, schmälert den Lesegenuss kaum, denn das Buch weiß wirklich zu unterhalten und ist dabei wunderbar kurzweilig.

Elif verbringt Weihnachten zum ersten Mal bei der Familie ihres Freundes Jonas, die so deutsch ist, wie man nur sein kann, inklusive Geschenkelisten, Zeitplan an Heiligabend und latent rassistischen, unreflektierten Kommentaren. Für Elif als Tochter einer türkischen Familie ist der ganze Trubel neu – in ihrer Familie ist Weihnachten einfach nur eine Gelegenheit zum gemütlichen Beisammensein und ein kleines Highlight für die Kinder. Als sie schon Monate vor dem großen Fest in der familiären Weihnachtsplanungs-WhatsApp-Gruppe landet, schwant ihr bereits Übles, und ihre schlimmsten Befürchtungen von Festtagsstress und Spießbürgertum scheinen sich zu bestätigen, als sie die liebe Familie persönlich kennenlernt. Mit wunderbar trockenem, wenn auch teils etwas überzogenem Humor nimmt Aylin Atmaca die bizarren Feiertagsgewohnheiten deutscher Familien auseinander.

„Ein Alman feiert selten allein“ ist ein wunderbar unterhaltsames und kurz(weilig)es Buch, das mit seiner erfrischenden Perspektive auf das in Deutschland vielerorts heilige und unantastbare Weihnachtsfest mit seinen vielen Traditionen und Erwartungen einige Denkanstöße mitgibt. Es ist zugleich auch ein Buch über Vorurteile und festgefahrene Erwartungshaltungen: Wenngleich es selten in die Tiefe geht und insgesamt recht oberflächlich bleibt, hinterfragt der Roman doch hier und da, wie Menschen unterschiedlicher kultureller Hintergründe miteinander um- und aufeinander zugehen. Da ist keine Seite vor Vorannahmen gefeit, die das Kennenlernen erschweren. Diese nachdenklichen Zwischentöne hätte das doch sehr kurze Buch ruhig noch ein wenig vertiefen können. Insgesamt bleibt es hauptsächlich auf einer Humorebene, die zwar unterhaltsam, aber selten tiefgründig ist. Ein bisschen mehr Subtilität zwischen den Zeilen hätte dem Roman sicher gutgetan, schmälert aber nicht das Lesevergnügen, das der deutschen Mehrheitsgesellschaft in mancherlei Hinsicht auf humorvolle Art den Spiegel vorhält.

Ein durch und durch unterhaltsames Buch, das immer wieder zum Schmunzeln anregt und einen ironischen Blick auf das klassische deutsche Weihnachtsfest wirft. Definitiv ein Geschenketipp!

Bewertung vom 15.10.2022
Sander, Aaron

Schmerzwinter


gut

Spannungsgeladen, aber stilistisch uninspiriert

„Schmerzwinter“, Aaron Sanders erster Thriller in einer neuen Reihe um den schwedischen Kommissar Jan Nygård, der in Hamburg ermittelt, hat es wirklich in sich, überzeugt aber vor allem auf Handlungsebene, denn der eher einfallslose Schreibstil hat wenig zu bieten.

Als zwei übel zugerichtete Frauenleichen im Schnee gefunden werden, die jemand offenbar zu Marionetten gemacht hat, läuten bei Jan sofort alle Alarmglocken, denn er wittert einen Nachahmungstäter. Vor Jahren hat der sogenannte Puppenmacher auf ähnliche Weise getötet, der mittlerweile jedoch hinter Schloss und Riegel sitzt. Jan hat jedoch nicht nur mit den grausamen Details dieses Falls zu kämpfen, sondern auch mit seiner eigenen traumatischen Vergangenheit. Den dramatischen Verlust seiner Frau vor drei Jahren hat er noch nicht verwunden, und seine siebzehnjährige Tochter Leonie entfremdet sich zunehmend von ihm. Halt bietet ihm die Polizeipsychologin Anna, die ihn auch bei den Ermittlungen unterstützen kann. Gemeinsam heften sie sich an die Fährte des Killers.

Aaron Sanders versteht es wirklich, Spannung und Grusel aufkommen zu lassen. Die Morde sind nichts für schwache Nerven, und durch den häufigen Schauplatzwechsel und die rasanten Entwicklungen kommt man kaum zum Atemholen. Es handelt sich bei „Schmerzwinter“ zweifelsohne um einen Pageturner! Dadurch rückt zum Glück der einfallslose und häufig repetitive Schreibstil nicht so stark in den Vordergrund, der bei einer weniger spannenden Handlung sicher noch deutlich negativer ins Gewicht fiele. Ebenfalls wenig originell ist die Figurenzeichnung von Jan, der als traumatisierter Polizist mit Aggressionsproblem und einer Vorliebe für Alleingänge schon ein ziemliches Klischee darstellt. Eine interessante Abwechslung bietet da Anna, die ein viel besser balancierter Charakter ist: Tough, aber keine Superfrau; intelligent, aber nicht ab Minute 1 ein Ermittlungsprofi, der sofort alles über den Täter weiß; einfühlsam, aber ohne sich Jan an den Hals zu werfen. Sie hat definitiv größeres Potenzial als ihr eher stereotyper Partner, und es bleibt zu hoffen, dass ihr im nächsten Band eine umfangreichere Rolle zukommen wird.

Insgesamt ein unterhaltsamer, spannender Thriller, von dem man sich aber in puncto Stil und Charakterzeichnung nicht zu viel erwarten darf.

Bewertung vom 30.09.2022
Michaelis, Antonia

Im Schatten des Märchenerzählers / Der Märchenerzähler Bd.2


sehr gut

Poetisch, dramatisch und nicht leicht zu verdauen

„Im Schatten des Märchenerzählers“ von Antonia Michaelis ist zwar ein zweiter Band, jedoch problemlos als für sich stehender Roman zu lesen. Das Buch fällt vor allem durch seinen poetischen Stil auf, der manchmal ein wenig ins Schwülstige abzudriften droht, jedoch insgesamt eine fantastische Atmosphäre schafft.

Elias ist fast achtzehn und liebt das Filmemachen und seine Gitarre, wird aber geplagt von düsteren Gedanken und Zukunftsängsten. Das liegt vor allem an seiner dramatischen Hintergrundgeschichte, denn sein Vater nahm sich noch vor seiner Geburt das Leben, nachdem er selbst drei Menschen getötet hat. Sonst weiß er wenig von ihm, kennt aber seine Leidenschaft fürs Märchenerzählen – und als er feststellt, dass seine Mutter Anna heimlich Briefe von jemandem erhält, wird er misstrauisch. Denn die Briefe erzählen nach und nach eine Geschichte, die sich in der Realität zu spiegeln scheint.

„Im Schatten des Märchenerzählers“ setzt sich mit vielen düsteren und bisweilen heiklen Themen auseinander, was sich auch in einer morbid-poetischen Sprache niederschlägt, und wandelt damit manchmal hart am Grad zum Klischeehaften, besonders in den eingeschobenen Märchen-Episoden. Meist gelingt jedoch das Kunststück, eine harte Realität in melancholisch-schöne Worte zu verpacken, und die verworrene Geschichte, die immer wieder kleine Informationshäppchen über die Vergangenheit von Elias’ Familie fallen lässt, hat viel Spannendes zu bieten. Dabei tun sich einige Abgründe auf, weshalb der Roman definitiv nichts für Zartbesaitete ist, aber der Ästhetik seiner Darstellung kann man sich kaum entziehen.

„Im Schatten des Märchenerzählers“ ist definitiv kein typisches Jugendbuch, sondern ein düsterer, ernst zu nehmender Roman über Verlust und Missbrauch, über Verbrechen und Selbstzweifel. Wer auch mal ein Auge zudrücken kann, wenn stilistisch etwas zu dick aufgetragen wird, wird hiermit definitiv ein paar emotional fordernde und mitreißende Lesestunden verbringen können.

Bewertung vom 30.09.2022
Ani, Friedrich

Bullauge


weniger gut

Ein Roman über das Suhlen im Selbstmitleid

Mit „Bullauge“ richtet sich Friedrich Ani offenkundig an eine ganz spezielle Zielgruppe: Mit seinem Protagonisten Kay Oleander können sich wohl nur Männer jenseits der Midlife-Crisis identifizieren, die das Gefühl haben, obsolet zu werden. Leider weder inhaltlich noch stilistisch ein gelungener Roman.

Der Klappentext von „Bullauge“ führt ein wenig in die Irre, suggeriert er doch interessante Zwiegespräche zwischen dem Polizisten Kay und der rechts-sympathisierenden Demonstrantin Silvia und eine spannungsgeladene Handlung bei den Ermittlungen zu einem politisch motivierten Anschlag. Ein Großteil des Buchs dreht sich jedoch darum, wie Oleander sich in seiner Wohnung oder bei Spaziergängen durch die Stadt im Selbstmitleid suhlt, wobei es manchmal um den teilweisen Verlust seiner Sehkraft (das Resultat eines vermeintlich von Silvia getätigten Flaschenwurfs bei einer Demo) geht, meist jedoch um die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen. Erst im letzten Drittel kommt allmählich Spannung auf, und es werden interessante Fragen berührt, etwa wie und warum Silvia überhaupt in dieses rechte Milieu abdriften konnte. Bis dahin muss man sich aber erst einmal durcharbeiten, und das ist mühselig, vor allem auch aufgrund des über-ernsthaften Erzähltons, der dabei angeschlagen wird.

Mit Kay Oleander hat Friedrich Ani eine durchweg unnachvollziehbare Persönlichkeit geschaffen, die keinerlei Sympathien aufkommen lässt. Als junge Frau ist es mir absolut unmöglich, mich mit seinen Gedanken zu identifizieren – es wirkt geradezu, als erzähle der Autor absichtlich gerade so an authentischen menschlichen Emotionen vorbei. Die Trostlosigkeit und Monotonie seiner Existenz wird dermaßen breit ausgebreitet, dass der Zugang zum Roman schwerfällt, denn er findet rein durch das Innenleben seines Protagonisten statt. Vor allem in der ersten Hälfte gibt es kaum Dialoge oder Handlungselemente, die von seinem Elend ablenken könnten. Rausreißen kann das letzte Drittel zwar nicht mehr viel, aber immerhin gibt es einem zum Schluss das Gefühl, die Lektüre habe sich wenigstens ein bisschen gelohnt.

Ein Roman, der aufgrund seines unnachvollziehbaren Protagonisten und der relativen Handlungsarmut leider wenig zu bieten hat. Lohnenswert ist eigentlich nur das letzte Drittel!

Bewertung vom 30.09.2022
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


ausgezeichnet

Anspruchsvolle Fantasy mit komplexen Themen

Mit „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ hat Natasha Pulley ein historisches Fantasy-Epos geschaffen, das an Komplexität und Ideenreichtum kaum zu überbieten ist. Um jeden Aspekt zu erfassen, muss man den Roman allerdings sicher mehr als einmal lesen.

Im Zentrum des Geschehens steht Joe Tournier, ein Mechaniker und vormaliger Sklave, der sich Ende des 19. Jahrhunderts plötzlich in einer alternativen Realität wiederfindet, in der Frankreich den Krieg gegen England gewonnen und das Land besetzt hat. Auf der Suche nach Antworten und seiner eigenen Identität, die ihm irgendwie abhandengekommen zu sein scheint, wird er verwickelt in unglaubliche Vorgänge, die mit einem mysteriösen Leuchtturm in Zusammenhang stehen. Offenbar erlaubt dieser Ort Zeitreisen, und Joe landet gut 90 Jahre in der Vergangenheit und wird mit verwirrenden Informationen zu sich selbst konfrontiert.

Ganz im Einklang mit dem Zeitreise-Thema spielen Zeitsprünge und verzettelte Zeitebenen eine enorm große Rolle in Natasha Pulleys wortgewaltig erzähltem Roman. Aus einzelnen Puzzlestücken verschiedener Zeitebenen und Realitäten setzt sich erst nach und nach ein Bild zusammen, aus dem erst ganz zuletzt hervorgeht, wo Joe wirklich hingehört und was ihm widerfahren ist. In dieser Hinsicht ist der Roman extrem anspruchsvoll, denn aufgrund der Vielzahl von Namen, Persönlichkeiten, historischen Ereignissen und Verbindungen zwischen alldem kommt schon mal Konfusion auf. Zugleich beeindruckt „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ aber auch gerade dadurch, dass die Autorin diese vielen Fäden stets fest im Griff zu haben scheint, wo man sich als Leserin vielleicht lieber ein Diagramm anfertigen würde. Definitiv ein Roman, bei dem sich eine zweite Lektüre lohnt! Besonders positiv hervorzuheben ist noch die feinfühlige, emotionale Betrachtungsweise der Charaktere, die nie zu Stereotypen ihrer Zeit oder ihrer Lebensumstände verkommen. Trotz des doppelt als fremd markierten Settings (historisch und fantastisch) entstehen plastische, nachvollziehbare Charaktere, deren Schicksale tief berühren.

Ein lohnenswerter historischer Fantasy-Roman mit vielen einzigartigen Ideen, der sicher noch lange nachhallen wird.