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Irisblatt

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 30.12.2021
Das Schweigen brechen
Föllmi, Gisela

Das Schweigen brechen


ausgezeichnet

Überleben trotz schwerstem Kindesmissbrauch
Gisela Föllmi hat die Hölle auf Erden erlebt.
In „Das Schweigen brechen“ spricht sie offen und schonungslos über ihre in der Kindheit erlittenen Traumata. Über Jahre sexuell missbraucht, war sie seit ihrem 7. Lebensjahr massiver körperlicher und psychischer Gewalt in unterschiedlichen Facetten ausgeliefert. Dass ein Mensch, das überleben kann, grenzt für mich an ein Wunder und zeugt von einer enormen Lebenskraft. Es erfüllt mich mit Wut, dass die Täter*innen von damals nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können.
Lange hatte Gisela keinen Zugang zu ihren mit dem Missbrauch in Verbindung stehenden Erinnerungen. Als sie ihren fest verriegelten „Schlimme-Dinge-Schrank“ zum ersten Mal bemerkte, wurde ihr klar, dass sie sich dessen Inhalt genau wird betrachten müssen, um ihrem kleinen verletzten Kinder-Ich Gehör zu verschaffen und zu verstehen, was ihr all die Jahre angetan wurde. Der Text vermittelt sehr eindringlich die Anstrengungen, den Mut und die Kraft, die es bedeutet sich einer solchen Kindheit zu stellen. Missbrauch und Gewalt werden explizit beschrieben. Davon zu lesen überstieg meine Vorstellungskraft bei weitem - mit jeder Erinnerung dachte ich, dass ein Höhepunkt der Grausamkeit erreicht sei - doch es kam noch schlimmer. Beim Lesen standen mir die Haare zu Berge, mehr als einmal liefen mir Tränen über das Gesicht; je mehr Gisela ihr Schweigen brach, umso mehr fehlten mir die Worte. Ich halte dieses Buch für sehr wichtig, gerade auch weil Missbrauch nicht nur angedeutet, sondern explizit dargestellt wird. Dadurch ist mir erst die Dimension des Leides und die Situation, in der sich viele Kinder befinden, deutlich geworden. Ich hoffe sehr, dass dadurch meine Wahrnehmung geschärft ist und ich in der Lage sein werde besser zu erkennen, sollte ein Kind in meinem Umfeld Opfer von Missbrauch sein. Bitte lest dieses Buch, wenn ihr es euch zutraut! Die Erinnerungstexte, in denen detailliert sexuelle und andere Formen der Gewalt beschrieben sind, wurden grau hinterlegt, so dass die Entscheidung, diese Passagen zu lesen, bei dem/der Leser*in selbst liegt.

Bewertung vom 27.12.2021
Die Tschechow-Leserin
Corsalini, Giulia

Die Tschechow-Leserin


ausgezeichnet

Melancholie des Lebens
Nina lebt mit ihrem schwer kranken Mann und der 18-jährigen Tochter in Kiew. Sie hat Literatur studiert und liebt die Erzählungen von Tschechow.
Um ihrer Tochter das Medizinstudium zu ermöglichen, geht Nina als Altenpflegerin nach Italien. Italien erweist sich als Chance, denn sie erhält unverhofft einen Lehrauftrag an der Universität im Fachbereich „Russische Literatur“. Doch die Freude ist nicht ungetrübt: Nina fühlt sich oft einsam, nicht zugehörig und die zunehmende Entfremdung von ihrer Tochter, die sich im Stich gelassen fühlt, belastet sie sehr.
Corsalinis Erzählstil ist von einer großen Melancholie geprägt, sie beschreibt Orte und Jahreszeiten atmosphärisch dicht und auf poetische Weise.
Geschickt werden typische Charakteristika der tschechowschen Erzählweise in den Text verwoben. Auch Leser:innen, die nicht mit seinem Werk vertraut sind, können so durchaus den tschechowschen Geist in Corsalinis Werk erahnen: Der Fokus der Erzählung liegt auf inneren Prozessen und weniger auf Handlungen. Enttäuschte Erwartungen, unerfüllte Schicksale zeigen sich bei mehr als einer Figur. Zudem durchdringt eine tiefe Melancholie den gesamten Text. Die Tschechow Leserin ist eine leise, poetische, sehr besondere Erzählung, die zum Nachdenken anregt und die ich gerne gelesen habe.

Bewertung vom 27.12.2021
Platzspitzbaby
Halbheer, Michelle

Platzspitzbaby


ausgezeichnet

Aufwachsen mit einer schwer drogenabhängigen Mutter
Die Orte Platzspitz und Letten waren in den 1980er Jahren in Zürich eng mit der harten Drogenszene verbunden.
Dort hat Michelle Halbheer viele Stunden ihrer Kindheit verbracht, das Elend hautnah miterlebt, Drogen für ihre Mutter besorgt, Menschen sterben sehen.
In den ersten vier Lebensjahren wächst sie noch relativ behütet mit ihrem Vater und ihrer Mutter auf, die beide einen Entzug hinter sich haben. Während der Vater stabil bleibt, wird die Mutter rückfällig und gelangt immer mehr in eine Abwärtsspirale, in der sie sich um nichts anderes mehr als ihre Drogen kümmern kann. Trotzdem erhält sie nach der Scheidung das alleinige Sorgerecht für ihre Tochter. Michelle ist fortan den unberechenbaren Launen ihrer Mutter, den Drohungen und Misshandlungen alleine ausgeliefert. Hunger, das Leben in einer vermüllten Wohnung, die Sorge um die Mutter sind ihr Alltag, in dem sie völlig auf sich alleine gestellt ist. Behörden und Polizei waren die Zustände bekannt - sie unternahmen trotzdem viele Jahre nichts. Dies hat mich am meisten erschüttert. So wie Michelle ging und geht es vielen Kindern, die in den Angeboten für suchtkranke Menschen kaum wahrgenommen und alleine gelassen werden. Trotz aller Widrigkeiten ist es Michelle gelungen, erwachsen zu werden und heute ein relativ normales Leben zu führen. Sie ist nicht, wie so viele ihrer gleichaltrigen Freundi:innen, früh gestorben oder selbst drogenabhängig geworden. Ihre Resilienz ist beeindruckend. „Platzspitz Baby“ verschriftlicht nicht nur Michelle Halbheers Lebensgeschichte, sondern macht auf schwersten Kindesmissbrauch aufmerksam, der durch staatliche Institutionen hingenommen wurde und auch heute teilweise noch wird. Ein sehr interessantes Interview mit Peter Burkardt, der für den Verein „Die Alternative in Ottenbach“ bereits Jahrzehnte im Bereich Suchttherapie arbeitet, erläutert, warum der Kinderschutz in den Ansätzen der Suchttherapie so wenig berücksichtigt wurde und Verantwortliche sich ihrer Verantwortung so leicht entziehen konnten.
Kürzlich erschien der gleichnamige Dokumentarfilm in Anlehnung an Michelle Halbheers Leben.

Bewertung vom 05.11.2021
Albwachen
Flarer, Christoph

Albwachen


ausgezeichnet

Faszinierendes, düsteres, intensives Leseerlebnis
Ich-Erzähler Thomas leidet seit seiner Kindheit unter einem schrecklichen Zwang: Er muss seine nächtlichen Träume real werden lassen. Wir begegnen Thomas ausgerüstet mit Papier und Bleistift, denn er hat es sich zur Aufgabe gemacht, alles niederzuschreiben, was mit seinem Leidens- und Lebensweg zusammenhängt. Mit vier Jahren verspürt er das erste Mal diesen starken Drang, Geträumtes real werden zu lassen. In Albwachen begleiten wir Thomas bei seinem Schreibprozess, lesen immer genau das, was er gerade notiert und tauchen so in wichtige Erlebnisse aus seiner Vergangenheit ein. Immer wieder stockt er, seine Finger verkrampfen, Gedanken schweifen und reißen ab, Erinnerungen überlagern sich und sehr bildhafte Assoziationen zu einzelnen Begebenheiten drängen sich mit großer Wucht aufs Papier. Christoph Flarer lässt seine Leser*innen unmittelbar und sehr konsequent in Thomas Gedankenwelt eintauchen. Gedanken und Erinnerungen folgen anderen Gesetzmäßigkeiten als ein ausformulierter, bearbeiteter Text. Die sprunghafte und zuweilen abgehackte Erzählweise - besonders zu Beginn des Romans - ist glaubwürdig und stimmig, erschwert zuweilen aber das Verständnis. Im Laufe des Romans stellt sich bei Thomas jedoch ein Schreibfluss ein, der den Text leichter zugänglich macht.
Thomas ist ein zutiefst verstörender Protagonist, auf den ich mich mit einer Mischung aus Faszination, Abscheu und Mitgefühl eingelassen habe. Es ist wirklich ein Albtraum, der hier beschrieben wird, mit einer sehr bildhaften Sprache, surrealen und teilweise sehr grausamen Szenen. Albwachen bietet ein äußerst spezielles, düsteres und intensives Leseerlebnis. Die Geschichte befindet sich fortwährend in einem Fluss zwischen Realität, Phantasie und Traum; gegen Ende war ich mir plötzlich gar nicht mehr sicher, inwiefern ich Thomas überhaupt als Erzähler trauen kann. Die Gesamtumsetzung des Themas hat mich fasziniert und absolut überzeugt.

Bewertung vom 24.10.2021
Der Fluch der Aurelia / Drachenreiter Bd.3
Funke, Cornelia

Der Fluch der Aurelia / Drachenreiter Bd.3


ausgezeichnet

Ein neues spannendes und fantastisches Drachenreiter-Abenteuer
Wer bereits „Drachenreiter“ und „Die Feder eines Greifs“ kennt, kann sich auf ein Wiedersehen mit Ben, den Wiesengrunds, dem Silberdrachen Lung, dem mürrischen Tagtroll und Bäumeversteher Hothbrodd, Koboldmädchen Schwefelfell, Fliegenbein, Lola Grauschwanz und vielen anderen fabelhaften Wesen freuen.
Da wichtige Informationen aus vorangegangener Zeit im Text eingeflochten sind, ist „Der Fluch der Aurelia“ aber auch unabhängig von den beiden ersten Bänden verständlich. Am Ende des Buches werden unter der Überschrift „Wer ist Wer“ alle Menschen und fabelhaften Wesen kurz vorgestellt. Ein „Kleines Spanischlexikon“ sowie eine Übersicht der im Buch genannten Fische und Orte finden sich ebenso im Anhang.

Eine alte Legende scheint wahr zu werden. Die Aurelia - ein riesiges Lebewesen aus der Tiefsee - bewegt sich auf die Küste Kaliforniens zu, um dort vier Samenkapseln an vier Fabelwesen der Elemente Wasser, Feuer, Erde und Luft zu übergeben. Wird diese Übergabe gestört oder Aurelia bedroht, so werden auf einen Schlag sämtliche Fabelwesen von der Erde verschwinden. Leider hat ein alter Widersacher von Barnabas Wiesengrund ebenfalls Wind von dem bevorstehenden Ereignis bekommen. Ihm ist jedes Mittel recht, an die Samenkapseln zu gelangen, um sie für seine Zwecke zu missbrauchen.
Werden die Wiesengrunds und ihre Freunde es schaffen, die drohende Gefahr abzuwenden, Aurelia zu beschützen und die Welt zu retten?
Gewohnt spannend und mit viel Fantasie erzählt Cornelia Funke diese abenteuerliche Geschichte, die diesmal auch bis weit in die Tiefen des Ozeans führt. Wie in allen Drachenreiter-Bänden geraten die Freunde in mehr als eine gefährliche Situation. Auch in diesem Band zeigt sich, was Freundschaft und Zusammenhalt bewirken können und das ganz unabhängig von der Körpergröße und eventueller magischer Fähigkeiten.
Klare Leseempfehlung nicht nur für Kinder :-)

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Bewertung vom 21.10.2021
Vertraute Welt
Sok-Yong, Hwang

Vertraute Welt


ausgezeichnet

Aussortiert und Weggeworfen
Hwang Sok-Yongs Romanhandlung lässt sich zu weiten Teilen auf der sogenannten Blumeninsel am Rande der südkoreanischen Metropole Seoul verorten. Nur der Name erinnert an die dort einst intakte Natur. In den 1980er Jahren, als der 13-jährige Glubschaug mit seiner Mutter dort hinzieht, hat sich die Blumeninsel längst in eine gigantische, stinkende Mülldeponie verwandelt. Der Autor zeigt das Alltagsleben der Menschen, die auf der Müllhalde in notdürftig erbauten Baracken leben und jeden Tag den neu angelieferten Müll nach brauchbaren Materialien und Essen durchsuchen. Hwang Sok-Yong gewährt einen Einblick in die Organisation der Arbeitsabläufe und in ein System aus Lizenzen, das genau vorgibt wer welchen Müll zuerst durchsuchen darf. Ich konnte sehr schnell in diese fremde Welt eintauchen. Die beschriebenen Verhältnisse, unter denen die Müllsucher leben, sind sehr hart. Die Kritik daran, dass Menschen und auch Tiere genauso aussortiert werden wie Nahrungsmittel und alles andere, was nicht mehr gebraucht wird, ist deutlich formuliert. Allerdings lenkt der Autor seinen Blick auf die Menschen, für die die Blumeninsel gefährlicher Wohn- und Arbeitsort zugleich ist, und vor allem auf die Freundschaft, die Glubschaug mit dem drei Jahre jüngeren Glatzfleck eingeht, der ebenfalls auf der Deponie lebt. Mir gefällt der unprätentiöse Blick auf die Menschen, für die das Leben dort die Normalität - die vertraute Welt ist - und die das beste aus ihrer Situation zu machen versuchen. Hwang Sok-Yong gibt diesen Abgehängten, den aus der Gesellschaft Aussortierten an diesem trostlosen Ort durch seine Art zu schreiben Würde zurück - jedenfalls vermittelte sich mir dieses Gefühl beim Lesen. Glubschaug und Glatzfleck unterstützen die Erwachsenen immer mal wieder beim Sortieren des Mülls; sie haben aber auch viel Zeit durch die Gegend zu streifen und das eine oder andere Abenteuer zu erleben. Diese Freundschaft steht im Mittelpunkt des Romans und hat mir viele schöne, aber auch traurige Momente beschert. In „Vertraute Welt“ bestehen drei Lebensbereiche nebeneinander, die nur auf den ersten Blick getrennt voneinander existieren: 1. Die Menschen, die Teil einer Wegwerfgesellschaft sind und gigantische Mengen an Müll produzieren. 2. die Menschen, die den Müll nach Brauchbarem durchsuchen und so ihr Überleben sichern. 3. Eine Geisterwelt, die den Leser*innen einen Einblick in die Vergangenheit gewährt als auf der Blumeninsel noch Erdnüsse angebaut wurden und Blumen blühten. Die Geisterwelt nimmt im Roman einen größeren Raum ein - auch sie leidet unter der Umweltverschmutzung und darunter, dass für den „modernen“ Menschen schamanistische und shintoistische Traditionen an Bedeutung verlieren.
"Vertraute Welt“ hat mir sehr gut gefallen. Der Roman lädt zum kritischen Reflektieren des eigenen Konsumverhaltens ein, benennt ohne erhobenen Zeigefinger Probleme, die mit Wirtschaftswachstum einhergehen, hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigt die Kehrseite des Konsums und die Verantwortung, die jeder einzelne hat. „Vergiss nicht, dass alles auf der Welt - jedes Lebewesen und jedes Ding - mit dir verbunden ist wie in einem Netz (…) man will dich nur auf Leistung dressieren und sonst nichts (…) Aber weißt du (…) du kannst aussteigen.“ (S. 186-187).

Bewertung vom 13.10.2021
Das Gedächtnis des Baumes
Vallès, Tina

Das Gedächtnis des Baumes


ausgezeichnet

Verschwinden und erinnert werden
Die katalanische Autorin Tina Vallès nimmt sich in ihrem Roman „Das Gedächtnis des Baumes“ dem Thema Demenz an.
Jan ist zehn Jahre alt, als eine große Veränderung für die Familie ansteht. Seine Großeltern verlassen das kleine Dorf Vilaverd und ziehen nach Barcelona in die Wohnung von Jan und seinen Eltern um. Jan, der seine Großeltern sehr liebt und eine besonders enge Bindung zu seinem Opa verspürt, freut sich zunächst. Doch bald merkt er, dass die neue Situation kein Anlass ungetrübter Freude ist. In sehr kurzen Abschnitten erzählt Jan Episoden aus dem neuen Alltagsleben. Veränderungen bisheriger Familienabläufe und gemeinsame Tätigkeiten haben dabei ebenso Platz wie seine Gedanken, Ängste, Träume und auch die glücklichen Momente. Auf dem Schulweg führen Jan und sein an Demenz erkrankter Opa Joan sehr berührende Gespräche, in denen die Natur und vor allem Bäume eine große Rolle spielen. Die beiden tasten sich auch sehr behutsam an Fragen und Antworten, die die Krankheit betreffen, heran. Stück für Stück erhalten wir einen Einblick in längst vergangene Zeiten und erfahren, warum Opa Joan sich so stark zu Bäumen hingezogen fühlt. Vallès Erzählweise besticht durch einen liebevollen Blick auf alle Familienmitglieder, die mit der voranschreitenden Krankheit zurecht kommen müssen. Durch die sehr kurzen Abschnitte lässt sich das Buch sehr schnell lesen. Es lohnt sich jedoch, immer wieder inne zu halten, denn es steckt sehr viel Nachdenkenswertes in diesen kurzen Kapiteln. „Das Gedächtnis des Baumes“ ist ein sehr poetischer, einfühlsamer und leiser Roman, der Demenz nicht beschönigt, aber einen sehr guten Weg aufzeigt, mit der Krankheit umzugehen. Bevor Jans Opa seine Erinnerung komplett verlieren wird und so langsam selbst verschwindet, weiht er seinen Enkel in das Geheimnis der Bäume ein und hilft ihm dadurch die Erinnerung am Leben zu erhalten. Dieser kleine, feine Roman hat mich sehr berührt und bereichert.

Bewertung vom 27.09.2021
2001
Lehner, Angela

2001


ausgezeichnet

(....) das Glück in die Ecke drängen" (S. 368)
Nicht jeder wird auf der Sonnenseite des Lebens geboren. Manche müssen "das Glück in die Ecke drängen" und es regelrecht zwingen "bis es nicht mehr ausweichen kann" (S. 368). Die 15-jährige Julia ist so ein Mensch. Sie lebt in der österreichischen Provinz dort wo die Touristen Urlaub machen. Arbeitsplätze außerhalb des Tourismus sind rar und seit auch noch die Fabrik geschlossen wurde, hat sich die Situation für viele Menschen in Tal verschärft. Ich-Erzählerin Julia kommt aus schwierigen familiären Verhältnissen, ihr letztes Jahr an der Hauptschule versucht sie irgendwie hinter sich zu bringen; sie hat Null-Bock auf Schule, läuft Gefahr, ihren Schulabschluss nicht zu schaffen. Julias Herz schlägt für ihre Crew (ihren Freundeskreis), für Hip Hop und Rap; sie träumt davon, entdeckt zu werden und wie ihre großen Idole Texta, Eminem und Cypress Hill die Bühne und auch VIVA zu erobern. Während zu Beginn des Jahres die Crew noch zusammenhält, die Jugendlichen vor allem abhängen, rauchen, saufen, beatboxen und rappen, beginnen im weiteren Jahresverlauf Freundschaften zu bröckeln. Dafür sind nicht nur Eifersüchteleien und Liebeskummer verantwortlich, sondern auch eine Aufbruchstimmung, von der nur Julia seltsam unberührt zu sein scheint. Während alle Zukunftspläne schmieden, sich auf Prüfungen vorbereiten oder anderen Gruppen anschließen, dümpelt Julia haltlos durch die Gegend und nervt zunehmend auch ihre Freund*innen durch ihre Perspektiv- und Antriebslosigkeit. Auch das große politische Experiment des Geschichtslehrers, bei dem die Schüler*innen die Rolle wichtiger Akteure der Weltpolitik einnehmen sollen, bleibt nicht folgenlos für Julias Freundeskreis und die Klassengemeinschaft.
Angela Lehner nimmt uns mit in das Jahr 2001 mit seinen ratternden, langsamen Modems, seinen Tastenhandys, der Musikkultur (vor allem Rap und Hip Hop) und der Euro-Einführung. Auch andere bedeutsame und erschütternde Ereignisse des Jahres wie z.B. ein erstarkender Rechtspopulismus, der Nahost-Konflikt, Miloševićs Völkermord, BSE und der Terroranschlag vom 11. September werden eingeflochten. Der Roman liest sich trotz vieler österreichischer Begriffe flüssig. Die oftmals derbe und unreflektierte Sprache der Jugendlichen empfand ich als stimmig für die damalige Zeit und die Mitglieder der Crew. Julias Perspektivlosigkeit und Lethargie, aber auch ihr Mangel an Geborgenheit und ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit haben mich berührt. Immer wieder spielt Angela Lehner mit der Erwartungshaltung ihrer Leser*innen; der Roman hat mich mehr als einmal überrascht . Unter der Oberfläche steckt in „2001“ vor allem auch Gesellschaftskritik, die zuweilen ernst, manchmal aber auch humorvoll, dann wieder subtil und beinahe beiläufig daherkommt. Der Roman lässt sich zudem als Anklage an das Nichtstun, an das Wegsehen von Verantwortlichen lesen und zeigt wie wichtig Freundschaft und echt gemeinte Unterstützung im Leben sind. 2001 ist ein kurzweiliges Leseabenteuer mit einer ganz eigenartigen Mischung aus Nostalgie, Lethargie, Humor und Gesellschaftskritik, gewürzt mit einer Prise Hip Hop, Alkohol und Jugendsprache. Mal laut, mal leise, mal dahinplätschernd wird bei dieser Zeitreise deutlich, dass trotz enormer Veränderungen vieles gleich geblieben ist.

Bewertung vom 18.09.2021
Alle Wasser Stein
Müller-Ferchland, René

Alle Wasser Stein


ausgezeichnet

Nachdem mir der Roman „Niemanns Kinder“ so gut gefallen hat, wollte ich unbedingt noch René Müller-Ferchlands Debütroman „Alle Wasser Stein“ lesen. Gemeinsam ist beiden Büchern eine erzählerische Kraft, die sich beim Lesen unmittelbar überträgt. Überraschend war für mich wie stark sich beide Romane stilistisch voneinander unterscheiden. Sie sind auf ihre jeweils sehr eigene Art literarisch, poetisch und intensiv.
Im Mittelpunkt von „Alle Wasser Stein“ steht der Bildhauer Rigot, der in einer südeuropäischen Künstlergemeinschaft lebt.
Eines Tages wird ein mächtiger Steinbrocken in sein Atelier geliefert und etwa zeitgleich taucht ein Kind aus dem Nichts auf. Nur dunkel erinnert Rigot sich an eine mit dem Bürgermeister im Drogenrausch eingegangene Wette, die ihn zwingt, den Stein in eine außergewöhnliche Skulptur zu verwandeln. Gelingt ihm dies nicht innerhalb einer gewissen Frist, werden alle Nessunos (so nennt sich die Gemeinschaft) ihren Wohnsitz verlassen müssen. Rigot ist wie gelähmt, der Stein stößt ihn regelrecht ab und er ist nicht in der Lage ihn zu bearbeiten. Auch mit dem Kind weiß er anfänglich nichts anzufangen. Sehr lebendig werden auch die anderen „Nessunos“ gezeichnet, ihre Eigenarten und Verbindungen untereinander sehr bildlich vor Augen geführt.
Wortwahl und Satzmelodie muten wie die Sprache einer längst vergangenen Zeit an. Sie vermitteln eine ganz wunderbare, magische Atmosphäre, die sehr gut zur alten, etwas abgeschiedenen Villa der Nessunos und der umgebenden mediterranen Landschaft passt. Immer wieder vermischen sich äußere und innere Realitäten und es lässt sich manchmal nicht entscheiden wo das Reich der Phantasie beginnt und die Wirklichkeit endet. Träume, Drogenrausch, Realität verschwimmen während die Erzählung voranschreitet und sich auch alte Verletzungen zeigen. „Alle Wasser Stein“ lässt sich in einigen Passagen eher intuitiv als mit dem Verstand begreifen. Doch am Ende offenbart sich, warum der Stein Rigot derart blockiert, welches traumatische Erlebnis tief verborgen in ihm verschlossen war und was es mit dem Kind auf sich hat. Eine Gerichtsverhandlung mit einem klugen Richter rundet den Roman würdig ab.