Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Herbstrose

Bewertungen

Insgesamt 191 Bewertungen
Bewertung vom 08.08.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


sehr gut

Von Basel bis ans Lagerfeuer von Sitting Bull
Susanna Faesch wächst Mitte des 19. Jhd. als 3. Kind einer angesehenen Familie in Basel auf. Als ihre Eltern sich scheiden lassen nimmt ihre Mutter sie mit nach New York, wohin sie dem Arzt Karl Valentiny, einem Freund ihres Mannes, folgt. Dieser wird Susannas Ersatzvater, ihre beiden älteren Brüder verbleiben in Basel beim Vater. Brooklyn, wo sie nun ihre Kindheit und Jugendzeit verbringt, wird sie für ihr weiteres Leben prägen. Schon früh beginnt Susanna Porträts zu malen und kann auch bald von dem Erlös leben. Sie heiratet einen Kollegen ihres Stiefvaters, hat eine kurze folgenreiche Affäre mit einem anderen Mann und wird daraufhin geschieden. Mit Hilfe ihrer Mutter zieht sie ihren Sohn Christie sehr liebevoll auf. Als dieser sich für die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner interessiert, fährt sie mit ihm auf eine abenteuerliche Reise nach Dakota …
Der Autor Alex Capus wurde 1961 in Frankreich als Sohn einer Schweizerin und eines Franzosen geboren. 1966 zog seine Mutter mit ihm in die Schweiz, wo er später an der Universität Basel Geschichte, Philosophie und Ethnologie studierte. Während und nach seinem Studium arbeitete er als Journalist und Redakteur bei verschiedenen Schweizer Zeitungen. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählband - Kurzgeschichten, historische Reportagen und Romane folgten, für die er einige Auszeichnungen erhielt. Mit seinem Roman „Léon und Louise“ war er 2011 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Geschichtlich überlieferte Tatsachen recherchiert er sorgfältig und verknüpft diese gerne mit fiktiven Geschichten, die oft in der Schweiz spielen. Alex Capus ist verheiratet und Vater von fünf Söhnen, er lebt heute als freier Schriftsteller in Olten in der Schweiz.
Wie oft bei Alex Capus liegt auch hier seinem Roman eine wahre Begebenheit zugrunde, und auch hier verbindet der Autor wieder geschichtlich überlieferte Gegebenheiten mit Erdachtem. Neben den wichtigsten Ereignissen aus dem Leben der Portrait-Malerin und Künstlerin Susanna Faesch (die in den USA als Bürgerrechtlerin Caroline Weldon bekannt ist), bekommen wir ein Sittenbild der schweizerischen Stadt Basel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts geboten, erhalten Einblick in die damaligen Gepflogenheiten der französischen Fremdenlegion, erfahren mehr über New York wie es früher war und nehmen teil am Leben der amerikanischen Ureinwohner, der Indianer unter Sitting Bull. Wir sind dabei bei der Einführung der Glühbirne, feiern mit bei der Eröffnung der Brooklyn Bridge und erfahren, wie Susanna den ersten starren Fotographien farbiges Leben einhaucht. Der Schreibstil ist dabei sehr ansprechend, flüssig und erstaunlich lebendig. Ausdrucksstarke Landschaftsbeschreibungen bereichern die Geschichte und machen das Lesen zu einem kurzweiligen Vergnügen.
Fazit: Ein lesenswertes Buch, das ich gerne weiter empfehle.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort (eBook, ePUB)
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort (eBook, ePUB)


sehr gut

Die Vergangenheit aufarbeiten, um die Zukunft zu gestalten …

Elke, eine junge Pastorin, wohnt bei ihrem Freund Jan in Köln, wo sie ehrenamtlich den Seelsorge-Dienst im Seniorenheim übernommen hat. Als sie nun am Sterbebett einer alten Dame sitzt um mit ihr zu beten, hat sie plötzlich das Vaterunser vergessen – und nicht nur das, sondern alle Gebete und alles, was mit Gott zu tun hat. Eine Blockade, die für eine Theologin eine Katastrophe bedeutet. Um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen und ihre Zukunft zu ordnen, reist sie zurück in ihre norddeutsche Heimat. Doch auch dort will sich die erlösende Befreiung nicht einstellen. Der vierte Platz am Tisch der Eltern ist leer, das Verhältnis zu ihrer und ihres Bruders früherer Freundin Eva ist gestört – und unten am See kommen die quälenden Gedanken über das damalige Unglück zurück. Doch Elke ahnt, dass sie sich der Vergangenheit stellen muss, um in der Gegenwart den Glauben an Gott wieder zu finden …

Die Autorin Tamar Noort wurde 1976 in Göttingen geboren und wuchs in den Niederlanden auf. Nach dem Studium von Kunst- und Naturwissenschaften absolvierte sie die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule in Köln und erstellt seit 2009 wissenschaftliche Dokumentationen für ZDF, Arte und 3sat. Für einen Auszug aus ihrem Debüt-Roman „Die Ewigkeit ist ein guter Ort“, der am 19.07.2022 erschienen ist, gewann sie bereits 2019 den Hamburger Literaturpreis. Tamar Noort lebt in der Nähe von Lüneburg.

„Gottdemenz“ nennt die Protagonistin ihre seltsame Störung. Die Autorin lässt diese als Ich-Erzählerin zu Wort kommen und berichten, sodass man als Leser ganz nahe am Geschehen ist. Allerdings dauerte es bei mir eine geraume Zeit, bis ich mich mit den Handlungen der Protagonistin anfreunden und diese auch verstehen konnte, zu seltsam kamen mir anfangs ihre Motivation und ihre Beweggründe vor. Doch dann entwickelte das Buch einen Sog, dem ich mich nicht mehr entziehen konnte. Ein großes Lob gebührt der Autorin dafür, dass sie, obwohl der Roman im kirchlichen bzw. religiösen Milieu handelt, den Fokus auf das weltliche Geschehen mit seinen mannigfachen Problemen gelegt hat. Das Buch kann somit bedenkenlos von jedem gelesen werden, ob Christ oder Atheist, es frömmelt nichts. Auch der Schluss befriedigt - die Vergangenheit ist geklärt, die Zukunft ist offen.

Fazit: Eine gut und fesselnd erzählte Geschichte über Verlust und Verlassen, Hoffnung und zu sich selbst finden. Meine Leseempfehlung!

Bewertung vom 18.07.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


ausgezeichnet

Der außerirdische Ikarus
Er nannte sich selbst Thomas Jerome Newton, der seltsame dünne, große Mann, der eines Tages in Kentucky auftauchte. Was keiner wusste, er war vom Planeten Anthea geschickt, um die letzten, dort auf dem verwüsteten Planeten verbliebenen Bewohner, zu retten und gleichzeitig die Erde vor dem gleichen Schicksal, der Zerstörung durch die Menschen, zu bewahren. Mit seinem immensen Wissen verdient er bald Millionen – und wird dabei immer menschlicher. Einsamkeit und Heimweh überkommen ihn, was er mit Alkohol zu betäuben versucht. Nur zu zwei Menschen hat er Vertrauen und regelmäßigen Kontakt, zu dem Wissenschaftler Nathan Bryce und zu seiner Haushälterin Betty Jo. Als er auch die Aufmerksamkeit von FBI und CIA erregt, gerät sein Leben immer mehr in Gefahr. Wird es ihm unter diesen Umständen gelingen, die Bewohner Antheas zu retten und die Menschen über das zukünftige Schicksal der Erde aufzuklären?
Der US-amerikanische Schriftsteller Walter Tevis wurde 1928 in San Francisco geboren und starb 1984, mit nur 56 Jahren, in New York an Lungenkrebs. Im Zweiten Weltkrieg diente er im Pazifik, beendete danach seine Schulausbildung und studierte an der University of Kentucky. Nach seinem Master-Abschluss unterrichtete er in verschiedenen Städten Englische Literatur. Zwischen 1956 und 1984 schrieb Tevis mehrere Romane, von denen einige verfilmt wurden. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in New York – in Richmond, Kentucky, erhielt er seine letzte Ruhestätte.
Mit der Neuauflage des Romans „Der Mann, der vom Himmel fiel“, der bereits 1963 in den USA erschienen ist, wurde der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Autor wieder entdeckt. Kaum zu glauben, wie er schon damals die Probleme der heutigen Zeit vorausahnte. Die Dummheit der Menschen hat sich nicht verändert, die Erderwärmung ist sogar noch fortgeschritten, die Ausbeutung der Ressourcen schreitet weiter voran, alles Andersartige wird verurteilt und wer Erfolg hat wird überwacht – bald wird es bei uns sein wie auf Anthea.
Ein düsteres Szenario, das dem Leser nach Beenden des Buches durch den Kopf geht, das zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Walter Tevis beschreibt exakt den heutigen bedauernswerten Zustand der Zivilisation, die Borniertheit der Gesellschaft und den vergeblichen Versuch, unsere Umwelt auch für die Zukunft erträglich zu gestalten. Ein Alien sucht Hilfe auf dem Planeten Erde und will ihre Bewohner vor ihren Fehlern warnen. Er hält der Menschheit den Spiegel vor, vergeblich? Der Schreibstil ist dabei sehr flüssig und eingängig, ideologische und ökologische Probleme sind treffend erfasst und die Thematik ist aktueller denn je.
Fazit: Eine starke Geschichte die aufrüttelt und zugleich nachdenklich und traurig stimmt.

Bewertung vom 05.06.2022
Morgen kann kommen
Kürthy, Ildikó von

Morgen kann kommen


sehr gut

Neuanfang in der Lebensmitte
Ruth Westphal ist frustriert. Es ist ihr 51. Geburtstag und gleichzeitig ihr 15. Hochzeitstag – und ihr Mann ist wieder mal nicht da, auf Reisen, wie so oft. Im Drogeriemarkt sucht sie nach einer neuen Haarfarbe, sie möchte sich umstylen, doch sie findet etwas anderes. Ein vergessenes Foto, das ihre mühsam aufrechterhaltene Scheinwelt einstürzen lässt. Völlig kopflos steigt sie in ihr Auto, um 6oo km weit von München nach Hamburg zu ihrer Schwester Gloria zu fahren. Sie weiß nicht mal warum, denn sie hat seit 15 Jahren, seit dem Eklat an ihrer Hochzeit, keinen Kontakt mehr zu ihr. Doch Ruth möchte zurück in ihre Kindheit, in die Villa ihrer Großeltern, die nun Gloria bewohnt. Nur dort kann sie Ruhe und Frieden finden – und sich vielleicht auch mit ihrer Schwester aussöhnen …
Die 1968 in Aachen geborene deutsche Schriftstellerin Ildikó von Kürthy veröffentlichte seit 1999 neun Romane und etliche Kurzgeschichten, die in rund 30 Sprachen übersetzt, mehr als sechs Millionen Mal verkauft und auch teilweise verfilmt wurden. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Hamburg.
„Morgen kann kommen“ ist ein Roman für die reifere Frauengeneration, der besonders die essentiellen Themen der Lebensmitte aufgreift. Es geht um Rückblick, Neuanfang, Trennung, Versöhnung und um das eigene Wohlbefinden. Ruth muss erkennen, dass sie die ganzen Jahre nur angepasst war und den Wünschen anderer entsprochen hat. Sie lernt dabei, dass man Missverständnisse aus dem Weg räumen kann, indem man sich zusammensetzt und drüber redet. Sie erfährt auch, dass das Leben endlich ist – zu kurz um nur zu träumen.
Der Schreibstil der Autorin ist sehr plastisch und voller Gefühl. Sie schafft es, die Leserschaft gleich zu Anfang zu fesseln und neugierig zu machen. Was ist auf dem Foto aus dem Drogeriemarkt zu sehen? Was geschah an Ruths Hochzeit zwischen ihr und Gloria? Wird die Aussöhnung zwischen den Schwestern gelingen? Wir lernen beide näher kennen und stellen fest, dass auch die lebenslustige Gloria ihre Probleme zu bewältigen hat. In der alten Villa Ohnsorg treffen wir auch Erdal Küppers wieder, den sympathischen Egozentriker, den wir bereits aus dem vorigen Roman „Es wird Zeit“ noch gut in Erinnerung haben und lernen auch Rudi, den liebenswerten totkranken Freund von Gloria kennen.
Das Buch ist sehr ansprechend mit Lesebändchen gestaltet. Das moderne, ganz in rosa gehaltene Cover interpretiert das frühmorgendliche Rot am Himmel und im Innern findet man zahlreiche liebevolle bunte Zeichnungen, die das jeweilige Geschehen näher verdeutlichen.
Fazit: Eine Geschichte zwischen Komik und Tragik - über Freundschaft und Liebe, über entschwundene Jugend und verpasste Gelegenheiten, über Krankheit und Tod – zum Lachen und zum Weinen.

Bewertung vom 08.05.2022
Der Papierpalast (eBook, ePUB)
Cowley Heller, Miranda

Der Papierpalast (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

24 Stunden der Entscheidung …
Wie jedes Jahr verbringt Elle Bishop mit ihrer Familie den Sommer auf Cape Cod im „Papierpalast“, einer heruntergekommenen Ansammlung von Ferienhütten, die ihr Großvater einst erstellt und innen mit Pappe ausgekleidet hatte. Elle ist jetzt 50 Jahre alt, glücklich verheiratet mit Peter, mit dem sie drei Kinder hat. Wie jedes Jahr wird mit Freunden gefeiert, doch diesmal ist etwas anders. Elles Jugendfreund Jonas, mit dem sie ein dunkles Geheimnis verbindet, verbringt nach vielen Jahren wieder seinen Urlaub auf dem Cape, diesmal zusammen mit seiner Frau Gina. Und während drinnen Familie und Freunde fröhlich feiern, haben draußen Elle und Jonas im Schutz der Dunkelheit zum ersten Mal Sex. Elle ist verwirrt als sie entdeckt, dass sie ihren Mann liebt und sich nach Jonas sehnt. Sie wird sich entscheiden müssen …
„Der Papierpalast“ ist der erste Roman der US-Amerikanerin Miranda Cowley Heller, die bisher Serien bei HBO entwickelte. In ihrer Jugend verbrachte sie jeden Sommer auf Cape Cod. Heute lebt sie in Kalifornien.
Es braucht schon eine gewisse Lebenserfahrung, um diese Geschichte richtig zu verstehen und ein Verständnis für die zwiespältigen Gefühle unserer Protagonistin zu entwickeln. Die Autorin war bereits Mitte 50 als sie dieses Buch schrieb – vorher ging es nicht, wie sie selbst sagt. Doch nun ist es ihr perfekt gelungen, diesen Zwiespalt zwischen Pflichtbewusstsein und Sehnsucht nach Veränderung zu beschreiben, der aufkommt, wenn man die Lebensmitte bereits erreicht hat. Es braucht viel Mut sein Leben zu ändern, denn man könnte diesen Schritt vielleicht später bereuen – doch genau so viel Mut ist auch nötig, alles beim alten zu belassen.
Einen Tag hat Elle Bishop Zeit sich zu entscheiden - 24 Stunden, in denen sie auch über ihr bisheriges Leben, ihre Familie und ihre Kindheit nachdenkt. Wir erfahren vom Verhältnis zu ihrer älteren Schwester Anna, von ihren Großeltern, von den ständig wechselnden Beziehungen ihrer Eltern und von Stiefvätern und Stiefgeschwistern. Heitere, unbeschwerte Momente wechseln sich ab mit Demütigungen, sexuellen Übergriffen, Vergewaltigung, Inzest und Mord. Neben diesen Schattenseiten des Lebens lässt uns die Autorin auch teilhaben an glücklichen Momenten: wir verbringen unbeschwerte Stunden in flirrender Sommerhitze am Strand, wir streifen durch unberührte Wälder und schwimmen mit den Fischen im malerischen kühlen See. Dieser Kontrast und die wortgewaltige Sprache ist es, was diesen Roman so einzigartig und lesenswert macht. Als Leser hat man ständig das Gefühl, auf eine Katastrophe zuzusteuern und selbst das Ende ist so gekonnt formuliert, dass jeder sich seine eigenen Gedanken machen und für sich den passenden Schluss finden kann.
Fazit: Dieses Buch kann ich der reiferen Leserschaft uneingeschränkt empfehlen – für mich war es ein Highlight.

Bewertung vom 17.04.2022
Das Fundbüro der verlorenen Träume
Paris, Helen Frances

Das Fundbüro der verlorenen Träume


sehr gut

Illusionen verloren, Glück gefunden
Vor zwölf Jahren studierte Dorothy (Dot) Watson noch in Paris und hatte große Träume – heute lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt London, wohin sie sich nach einem schweren Schicksalsschlag zurückgezogen hat. Sie wird von Schuldgefühlen geplagt, hat keine Freunde und auch mit Mutter und Schwester kaum Kontakt. Zuflucht und Sicherheit findet sie nur in ihrer Arbeit im Fundbüro der Londoner Verkehrsbetriebe. Als eines Tages Mr. Appleby den Verlust einer Tasche samt einem Andenken an seine verstorbene Frau meldet, versucht Dot alles, um dem sympathischen alten Mann zu helfen. Doch dann muss ihre demente Mutter ins Pflegeheim, ihr Appartement soll verkauft werden und im Fundbüro regiert ein neuer Chef - zu viel auf einmal für die labile Frau, ihr bisher geordnetes Leben gerät aus der Bahn …
Helen Frances Paris, die Autorin des Buches „Das Fundbüro der verlorenen Träume“ ist künstlerische Leiterin des Londoner Theaters Curious. Ihre Theaterinszenierungen sind international ausgezeichnet und werden weltweit gezeigt. Fast zehn Jahre war sie Professorin für Theaterwissenschaften an der Stanford University in Kalifornien und lebt jetzt wieder in Großbritannien. Für ihre Lyrik erhielt sie den renommierten englischen Bridport Prize.
Neben dem schönen, zum Inhalt passenden Cover fällt schon gleich zu Anfang der angenehm feinfühlige und einprägsame Schreibstil auf. Der Autorin ist es gelungen, den verschiedenen Charakteren Leben einzuhauchen und ihr Umfeld äußerst plastisch zu wiederzugeben. Man ist sofort vertraut mit dem Ablauf im Fundbüro, wird von der Fülle der Fundstücke förmlich erschlagen, lernt dort die zentrale Person Dorothy kennen und wird hineingezogen in ihren Verlust, ihre Trauer und ihre Zerrissenheit. Nicht alle ihre Handlungsweisen sind nachvollziehbar, manches ist verworren und nebulös, dennoch empfand ich das Geschehen meist sehr realistisch. Es gelingt ihr, nicht nur den Menschen ihre verlorenen Gegenstände zurück zu geben, sondern auch ihren eigenen, verlorenen Lebensmut nach und nach wieder zu finden.
Fazit: Ein gefühlvoller Roman über Verlust, Trauer und Seelenpein – aber auch vom Wiederfinden und Sich-Selbst-Finden – mit einem überraschenden, versöhnlich stimmenden Schluss.

Bewertung vom 09.04.2022
Die Kinder sind Könige (eBook, ePUB)
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Eine Kindheit unter ständiger Beobachtung …
Schon als junges Mädchen träumte Mélanie davon, einmal berühmt und reich zu werden. Jetzt ist sie verheiratet, hat zwei kleine Kinder, und sieht sich der Verwirklichung ihres Traums immer näher. Sie hat Frankreichs erfolgreichsten Youtube-Kanal mit Tausenden Followern, in dem sie ihre beiden Kinder von morgens bis abends präsentiert. Mélanie ist süchtig nach Anerkennung, nach Likes und Applaus, und ist überzeugt, dass es auch für ihre Kinder nichts Schöneres gibt. Mit Videos, die die Kinder beim Auspacken gesponserter Kleidung, Spielwaren und Geschenken zeigen, verdient die Familie Millionen – bis eines Tages die sechsjährige Kimmy beim Versteckspielen plötzlich spurlos verschwunden ist. Die Mutter ist verzweifelt und fragt sich, was sie wohl falsch gemacht haben könnte, während die ermittelnde Polizeibeamten Clara, die selbst kinderlos ist, die Sache nüchterner angeht. Entführung mit Lösegeldforderung oder Konkurrenzneid im Netz, was trifft hier zu? Bei einem Kind, das Tausende kennen und täglich sehen könnte jeder verdächtig sein …
„Die Kinder sind Könige“ ist seit 2001 der achte in deutscher Übersetzung erschienene Roman der französischen Schriftstellerin Delphine de Vigan. Die Autorin wurde 1966 in Paris geboren. Sie ist an einem soziologischen Forschungsinstitut tätig ist und lebt heute noch mit ihren beiden Kindern in Paris. Für ihre Werke erhielt sie bereits einige bedeutende französische Literaturpreise.
In diesem Roman geht es weniger um den kriminalistischen Aspekt, sondern mehr um das Phänomen der kindlichen Influencer im Netz. Oft werden diese durch „liebende“ Eltern gedrängt und gefügig gemacht, um stundenlang vor der Kamera zu posieren. Vermutlich macht es den Kindern anfangs auch Spaß, aber dann kommt der Punkt, an dem es ihnen nur noch lästig ist. Um die Liebe und die Anerkennung ihrer ehrgeizigen Mutter nicht zu verlieren, nehmen die sechsjährige Kimmy und ihr achtjähriger Bruder Sammy die Strapazen klaglos hin. Doch die andauernde Präsenz in der Öffentlichkeit bleibt bei den Beiden, auch psychisch, nicht ohne Folgen.
Die Autorin versteht es großartig, die verschiedenen Blickwinkel zu beleuchten und auf das Für und Wider der beteiligten Personen einzugehen. Als Leser*in ohne Bezug zu diesen Social-Media-Kanälen ist man überrascht über deren Verbreitung und erstaunt darüber, wie viel sich damit verdienen lässt. Dass dieses Leben bei den „kleinen Sklaven“ nicht ohne Nachwirkungen bleiben kann überrascht nicht, dennoch schockt der Ausblick auf das Jahr 2031. Die Folgen solch unvernünftigen Handelns stimmen äußerst nachdenklich. Da gerät die unerwartete kriminalistische Auflösung des Verschwindens der Kleinen schon beinahe zur Nebensache.
Fazit: Diesen großartigen Roman mit der notwendigen Aufklärung über Hintergründe und Motive diverser Influencer empfehle ich sehr gerne weiter!

Bewertung vom 03.04.2022
Leo und Dora (eBook, ePUB)
Krup, Agnes

Leo und Dora (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein Sommer der Veränderung …
Man schreibt das Jahr 1948. Vor zehn Jahren musste der einst erfolgreiche jüdische Schriftsteller Leo Perlstein seine Heimat Wien verlassen. Er lebt nun im Exil in Tel Aviv, wo er als Versicherungsangestellter ein bescheidenes Einkommen hat. Seit seiner Flucht hat er eine Schreibhemmung und folglich nichts mehr geschrieben. Um diesen Zustand zu beenden sollte er den Sommer im Haus seiner Ex-Freundin und Agentin Alma in Sharon, Connecticut, verbringen. Als er dort ankommt erfährt er, dass Almas Haus in der vergangenen Nacht abgebrannt sei und er im Roxy, einer zweitklassigen Pension, unterkommen würde. Leo ist frustriert und ärgerlich, das Haus ist zu alt und zu voll, sein Zimmer ist zu klein, die Gäste sind zu laut und das Essen wenig schmackhaft. Auch Dora, die resolute Wirtin, ist Leo zunächst unsympathisch und als er gar von dem jungen Hausburschen Anton erfährt dass es im Hause spukt, würde er am liebsten wieder abreisen. Doch nach und nach gewöhnt er sich ein - und das abendliche gemeinsame Tarock-Spiel mit Dora öffnet ganz allmählich auch sein Herz …
„Leo und Dora“ ist der dritte Roman aus der Feder von Agnes Krup, die nach ihrem Studium in Hamburg und Tübingen als Lektorin und Literaturagentin tätig war. Geboren ist sie in Hamburg und lebt heute abwechselnd in Berlin und in einem alten Gästehaus in der Nähe von Sharon, Connecticut.
Ein Kompliment an die Autorin der es gelungen ist, aus einer eigentlich banalen Geschichte ein kleines Kunstwerk zu zaubern. Mit feinem Gespür für Zwischentöne und sanftem Humor schafft sie es, die Eigenarten der Protagonisten hervorzuheben und ihren Lebensgeschichten Tiefe zu verleihen. Ohne Kitsch und Sentimentalität zeigt sie, dass auch eine Liebe zwischen reiferen, vom Schicksal gebeutelten Menschen noch möglich ist und wunderschön sein kann. Ihr Schreibstil ist klar und schnörkellos, dennoch sehr lebhaft im Ausdruck. Man spürt förmlich die Leichtigkeit des Sommers, fühlt den lauen Abendwind und hört das leise Plätschern am Ufer des Sees. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Schilderungen von jüdischen Schicksalen, vom Tod geliebter Menschen und vom Verlust der Heimat, über die ohne ins Melodramatische abzugleiten berichtet wird. Ein unvergesslicher Sommer für Leo und Dora und ein noch lange nachhallendes Leseerlebnis für mich.
Fazit: Ein ruhiger, leiser Roman der ganz langsam Fahrt aufnimmt – ein Wohlfühlbuch, ein Buch für die Seele, das ich besonders der reiferen Leserschaft ans Herz legen möchte.

Bewertung vom 02.04.2022
Das Flirren der Dinge
Romagnolo, Raffaella

Das Flirren der Dinge


sehr gut

Visionen im Sucher der Kamera …
Die bewegende Geschichte des einäugigen Waisenjungen Antonio Casagrande, der von dem Fotografen Alessandro Pavia ausgebildet wird. Als er bei seinem ersten eigenen Porträt durch die Linse blickt, geschieht es zum ersten Mal – er hat Visionen, die Dinge beginnen zu flirren, er sieht in die Zukunft, er sieht den Tod …
Die Autorin Raffaella Romagnolo wurde 1971 in Casale Monferrato/Piemont geboren. Sie ist Lehrerin für Geschichte und Italienisch und schreibt seit 2007 auch Romane, für die sie bereits für den Premio Strega nominiert war. Heute lebt die sie in Rocca Grimalda im Piemont.
Nicht nur das Leben des Antonio Casagrande und das seiner Freunde und seiner Familie ist Thema dieses Buches, die Autorin gewährt dem Leser auch einen tiefen Einblick in das Leben und die Geschichte Italiens zur zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Kunst des Fotografierens ist erst am Anfang, die Schwierigkeiten und die Gefühle, die unser Protagonist dabei hat, werden eindringlich und detailliert beschrieben. Beeindruckend ist die Sprachintensität der Geschichte, jedoch wegen der Zeitsprünge und Perspektivwechsel nicht ganz einfach zu lesen. Es ist ein hohes Maß an Konzentration erforderlich, um dem Geschehen dieses ansonsten ausgezeichneten historischen Romans zu folgen. Deshalb von mir nur 4 von 5 *

Bewertung vom 30.03.2022
Wo die Wölfe sind (eBook, ePUB)
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Bestie Wolf oder Bestie Mensch?
Inti Flynn ist Biologin und Leiterin eines Projekts, bei dem Wölfe in den schottischen Highlands wieder angesiedelt werden, um die zerstörte Natur dort zu retten. Gleichzeitig hofft sie in der Abgeschiedenheit der Wälder Ruhe zu finden, denn sie hat die seltene Krankheit, die Schmerzen anderer Lebewesen selbst körperlich zu spüren. Ihre Arbeit trifft zunächst auf harten Widerstand der Bevölkerung, die den Bestand ihrer Weidetiere bedroht sieht. Als dann eine Leiche mit eindeutigen Verletzungen aufgefunden wird, beginnt eine Hetzjagd auf die Wölfe. Selbst Inti bekommt Zweifel, war ein Wolf oder ein Mensch die Bestie? …
Die Autorin dieses Romans, die 1988 geborene Charlotte McConaghy, hat irisch-schottische Wurzeln, wuchs jedoch in Australien auf. Nach „Zugvögel“, mit dem sie internationalen Durchbruch erreichte, ist „Wo die Wölfe sind“ ihr zweiter Roman, der die Natur und Tierwelt und die Auswirkungen aufs Klima zum Thema hat. Die Autorin lebt heute in Sydney.
Gleich mehrere Themen finden sich in diesem Roman. Der Schwerpunkt liegt hier zweifellos auf Umweltschutz, Renaturierung zerstörter Wälder und Wiederansiedelung bedrohter Tierarten. Sehr einfühlsam versucht die Autorin das brisante Problem Wolf von beiden Seiten anzugehen. Der Daseinsberechtigung von Wölfen stehen die Interessen der Landwirte und die Ängste der Bevölkerung um Kinder, Haus- und Nutztiere gegenüber, was uns beim Lesen sehr nachdenklich stimmt. Ein weiteres interessantes Thema ist die sehr seltene Krankheit Mirror-Touch-Synästhesie, bei der die Betroffenen Schmerzen anderer Lebewesen selbst körperlich empfinden. Man erfährt, dass Inti und ihre Zwillingsschwester Aggie sich zeitlebens gegenseitig Halt und Stütze waren und erlebt mit ihnen ihre Kinder- und Jugendzeit, die sie überwiegend bei ihrem Vater in den Wäldern Kanadas verbracht haben.
Ferner beinhaltet die Geschichte auch einige kriminalistische Aspekte. Eine aufregende und spannende Suche nach einer Leiche und eindeutige Verletzungen, die auf Wolfsangriffe hindeuten, lassen uns den Atem stocken. Wird es die Wolfspopulation trotz heftiger Widerstände schaffen, die Natur zurück zu erobern? Der Schreibstil der Autorin ist lebendig und bildgewaltig, eine einfühlsame Liebesgeschichte rundet das Geschehen zufriedenstellend ab. Trotz einiger heftiger Szenen, die zart besaitete Gemüter wohl schockieren werden, kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen und vergebe gerne 5 Sterne.