Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Lesereien

Bewertungen

Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


gut

Elena Medels Roman “Die Wunder” folgt den Schicksalen zweier Frauen, María und Alicia, Großmutter und Enkelin. Beide haben mit gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen zu kämpfen und versuchen, sich von Klassenzwängen zu befreien.
María muss nach der Geburt ihrer unehelichen Tochter Carmen ihren Heimatort verlassen und beginnt in Madrid zu arbeiten. Ihre Tochter entgleitet ihr immer mehr, bis sie den Kontakt zu ihr völlig verliert.
Alicia muss als junges Mädchen den Selbstmord ihres Vaters verkraften, der der Familie hohe Schulden hinterlässt. Mit ihrer Großmutter verbindet sie zunächst, dass auch sie ihre Mutter, Carmen, verlässt.

Das Leben beider Frauen gestaltet sich im Folgenden als ein Kampf um Freiheit, nicht zuletzt um finanzielle Unabhängigkeit und um eine Loslösung von gesellschaftlichen und patriarchalen Strukturen sowie von Klassenzwängen.

Wir erfahren aus dem Leben dieser Frauen in Rückblenden, in Form einer Aneinanderreihung von Momenten. Die Autorin gewährt tiefe Einblicke in das Innenleben ihrer Charaktere, indem sie fast ungefiltert, stellenweise einem inneren Monolog ähnlich, denken lässt.
Doch diese Form führt dazu, dass man sich nur schwer in die Geschichte hineinfühlen kann und dass man lange in bestimmten Momenten festgehalten wird. Das ist manchmal etwas ermüdend und vermag nicht so zu fesseln, wie man es sich wünschen würde. Dem Roman mangelt es daher an Bewegung und an Dynamik.

Das ist vor allem deshalb schade, weil er sich so wichtiger Themen annimmt, sie durch die Lebenswege zweier Frauen verkörpern lässt und die Strukturen und Funktionsweisen einer Gesellschaft analysiert, die diesen Frauen zahlreiche Steine auf den Weg legt.

Bewertung vom 10.07.2022
Beifang
Simons, Martin

Beifang


ausgezeichnet

Als das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden soll, begibt sich der Erzähler zurück in seinen Heimatort am Rande des Ruhrgebiets: Selm-Beifang. Dort setzt er sich zum ersten Mal mit der Geschichte seiner Familie und besonders die seines Vaters und Großvaters auseinander. Es ist eine Geschichte, die geprägt ist von Prekarität, Armut und Chancenlosigkeit.

So wurde der Großvater nach dem Krieg zwar Bergmann, aber: „was er [...] überhaupt nicht gern war, war Bergmann. Und das blieb er sein Leben lang.“ Er wäre gerne gereist und hatte auch ein Talent für das Fotografieren, was er nie richtig ausleben konnte. Spätestens dann nicht mehr, als dem Vater des Protagonisten der Blinddarm durchbricht und der Großvater seine Kamera verkauft, um die Behandlung bezahlen zu können.

Auch beim Vater wird die Entscheidung über die Berufswahl durch die Umstände bestimmt. Um Fahrtkosten für Bus und Bahn zu sparen, muss er eine Ausbildung im Fernsehgeschäft machen. Dann ist da noch die Großmutter, die eigentlich Kinderärztin werden wollte und am Ende ihres Lebens sagt: „Ich wollte es doch ganz anders“.

Es sind die Umstände, der Ort, die Lotterie des Lebens, die diese Menschen gefangen halten und die den Vater behaupten lassen, als er vom Sohn das Buch „Die Asche meiner Mutter“ geschenkt kriegt: „Bei uns war es schlimmer“. Fatalismus und oft auch das Zerbrechen am eigenen Schicksal bestimmen über Generationen hinweg das Leben der einzelnen Familienmitglieder.

„Er machte nicht den verbreiteten Fehler, die grundsätzlichen Ungerechtigkeiten des Lebens als etwas Persönliches misszuverstehen.“

Die Lektüre hat mich an Didier Eribon erinnert, an Edouard Louis, an Christian Baron, die bekanntlich auch auf einem literarischen Weg ihre Beziehungen zum Vater reflektieren. Martin Simons Roman reiht sich ein in diese Gruppe von Werken, die sich mit der sozialen Herkunft der eigenen Familie auseinandersetzen und geht in ihr durchaus nicht unter, im Gegenteil.

Das Buch wird deshalb all diejenigen Leser überzeugen können, die das unbeschönigte, glaubhafte Erzählen über das Schicksal einer Arbeiterfamilie zu schätzen wissen und nicht zuletzt auch all diejenigen, die sich für literarische Darstellungen des Lebens im Ruhrgebiet interessieren. Mich jedenfalls hat es vollends überzeugt.

Bewertung vom 23.06.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


ausgezeichnet

Was passiert mit einem Außerirdischen, der auf die Erde kommt, um Raumschiffe zu bauen und die Bewohner seines eigenen Planeten zu retten? Diese Frage bildet den Kern des von Walter Tevis bereits 1963 verfassten Romans „Der Mann, der vom Himmel fiel“. Auf den ersten Blick mag die Geschichte an Science Fiction erinnern, doch im Laufe der Lektüre zeigt sich, dass es Tevis eigentlich um etwas anderes geht. Nämlich um die psychologische Entwicklung dieses Außerirdischen, der sich Newton nennt. Er gewöhnt sich zwar an das Leben als Mensch, doch zu den Menschen selbst bewahrt er stets eine Distanz. Einsamkeit und Melancholie plagen ihn. Er ist zerbrechlich, in physischer und psychischer Hinsicht. Bald kommen Alkoholismus, Verzweiflung und die Entfremdung von seiner Herkunft hinzu.

„Er war menschlich, aber nicht wirklich ein Mensch.“

Beschäftigt man sich näher mit Walter Tevis, so fällt auf, dass Newtons Schicksal auf der Erde einige Parallelen zum Leben des Autors aufweist. Genau wie Newton verfiel Tevis dem Alkohol. Er war als Kind außerdem krank und schwächlich, musste Medikamente nehmen. Schließlich verbindet auch Kentucky als Ort den Autor mit seiner Figur.

Das Außerirdischsein steht, wenn man diese Parallelen weiterdenkt, im übertragenen Sinne dafür, wie schnell es passieren kann, dass man unverstanden bleibt, dass man keinen Platz in der Gesellschaft findet.

Und diese biographische Lesart erklärt vielleicht auch, warum sich das Buch so introspektiv anfühlt, warum seine Melancholie nie aufgesetzt oder zwanghaft herbeigeschrieben wirkt. Es ist kein durchweg schweres Buch, aber auch keine leichte, unterhaltende Aliengeschichte. Und gerade das fasziniert.

Wenn man Tevis schon gelesen hat, dann weiß man, dass er erzählen kann. Und auch mit dem “Mann, der vom Himmel fiel” vermag er seinen Leser zu überzeugen. Es ist ein bemerkenswerter, nachdenklicher Roman.

Bewertung vom 30.05.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


ausgezeichnet

Mia Sund ist Faserärcheologin und erforscht altes Gewebe. Als ihr Chef ihr eines Tages einen alten Fischerteppich bringt, beginnt sie zu ahnen, dass sie es mit einem besonderen und einzigartigen Exemplar zu tun hat. Denn der Teppich ist in ungewöhnlich kräftigen Grüntönen gehalten und die Motive sind zwar typisch maritim, aber gleichzeitig auch orientalisch. Mia erliegt dem Geheimnis des Teppichs und begibt sich auf dessen Spuren.

Karin Kalisa entfaltet das Vergangene stückweise vor den Augen ihrer Leser. Sie lässt sie tief in die Geschichte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts eintauchen und schafft es gleichzeitig, die historische Ebene mit dem gegenwärtigen Leben ihrer Protagonistin Mia zu verknüpfen. Beides harmoniert erstaunlich gut, ergänzt sich und macht es dem Leser leicht, sich auf die Spuren der unbekannten Teppichknüpferin zu begeben.

Denn das ist auch das Faszinierendste an dem Roman: Die Geschichte der Pommerschen Fischerteppiche, die wohl nur den wenigsten Lesern bekannt sein dürfte. Sie beginnt damit, dass im Jahr 1928 wegen Überfischung ein dreijähriges Fangverbot in Vorpommern verhängt wurde, welches die Fischer arbeitslos machte. Um die Fischerfamilien vor der Armut zu bewahren, wurden sie von einem österreichischen Tappisseristen im Teppichknüpfen unterrichtet und so entstanden die Fischerteppiche.

“Fischers Frau” ist eine besondere Geschichte, zart und feinfühlig, die zu fesseln vermag. Eine Leseempfehlung!

Bewertung vom 23.03.2022
Mord im Gewächshaus
Bunce, Elizabeth C.

Mord im Gewächshaus


sehr gut

Als Myrtle Hardcastle eines Morgens weder die Nachbarin noch deren Gärtner im Garten sieht, weiß sie, dass etwas nicht stimmt. Das Nachbarhaus ist unheimlich still und das Hausmädchen verhält sich komisch. Myrtle ruft die Polizei und tatsächlich wird die Nachbarin tot in ihrer Badewanne aufgefunden. Als Myrtle auch noch bemerkt, dass die berühmten Lilien aus dem Garten ausgegraben wurden, ist sie sich sicher: Das ist ein Mordfall.

Zusammen mit ihrer Gouvernante macht sie sich daran, zu beobachten, Spuren nachzugehen und Beweise zu finden. Dass die Erwachsenen ihr zuerst keinen Glauben schenken, hält sie nicht davon ab, weiterzuforschen, im Gegenteil. Denn da sind schließlich so viele Fragen, die beantwortet werden müssen. Zum Beispiel, was es mit der Katze der Nachbarin auf sich hat. Oder was der Gärtner verschweigt. Und wer überhaupt diese Nichte ist, die plötzlich auftaucht. Und dann ist da auch noch eine legendäre Lilie...

Myrtle ist eine Protagonistin, wie man sie sich für ein gutes Jugendbuch nur wünschen kann. Sie ist aufgeweckt, klug und lässt sich von Erwachsenen nicht einschüchtern. Ihr Tatendrang und ihr Mut sind ansteckend und inspirierend. Sie versteht es, die Sympathien der Leser auf ihre Seite zu ziehen. Man schließt sie einfach sofort ins Herz.

Ich bin kein Krimi-Leser und mache eigentlich stets einen weiten Bogen um jede Geschichte, in der ein Mord im Mittelpunkt steht. Aber für Myrtle lohnt es sich, eine Ausnahme zu machen und ich hoffe, dass der Verlag die anderen Bücher der Reihe, die auf Englisch bereits erschienen sind, auch ins Deutsche übersetzen lassen wird. Denn Myrtle hat in mir einen treuen Fan gefunden.

Bewertung vom 08.03.2022
Love in the Big City
Park, Sang Young

Love in the Big City


gut

Sang Young Park erzählt in “Love in the Big City” über das Leben eines jungen homosexuellen Mannes in Seoul. Young geht gerne in Bars und Clubs, trinkt, feiert und datet. So verbringt er zusammen mit seiner Freundin Jaehee, die gleichzeitig seine Mitbewohnerin ist, die Studentenjahre. Doch als Jaehee heiratet, muss Young diesen Lebensstil alleine fortführen, was nicht nur durch die Krebserkrankung seiner Mutter erschwert wird, sondern auch durch die Infektion mit HIV.

“Love in the Big City” ist ein ehrliches Buch, das das Leben in einer Gesellschaft zum Thema hat, in deren Mitte Homosexualität keinen Platz einnehmen darf. Doch Parks Fokus liegt nicht auf soziologischen Betrachtungen, sondern auf dem Innenleben der Hauptfigur, auf deren Liebes- und Sexualleben, auf dem sich ständigen Hin- und Herbewegen zwischen Bars, durchzechten Nächten und neuen Dates. Manchmal hat das etwas Tragisches und Trauriges, was jedoch eher unterschwellig zum Vorschein kommt, z.B. wenn von dem “langweiligen Leben” die Rede ist, das Young seiner Ansicht nach führt. Er ist, so scheint es, ständig auf der Suche nach Nähe, nach Liebe. Aber Liebe in der Big City zu finden, entpuppt sich als schwierig, vielleicht als unmöglich. Denn sogar die Mutter akzeptiert ihn nicht so, wie er ist und schickt ihn schon zu Schulzeiten in eine Psychiatrie, weil sie seine Homosexualität nicht akzeptieren will.

Trotz der interessanten Einblicke in die koreanische Gesellschaft und in den Alltag des Protagonisten, hat das Buch ab dem ersten Drittel, in dem es vor allem um die Freundschaft Youngs zu Jaehee geht, oft etwas lang und repetitiv gewirkt. Die Bekanntschaften Youngs wurden als Figuren zunehmend flacher, durchsichtiger. Es schien, als klammere sich die Geschichte an einzelne Momente und Gedanken, ohne dabei wirklich in die Tiefe zu gehen. Das hat das Leseerlebnis letztlich leider getrübt.

Bewertung vom 02.03.2022
Chopinhof-Blues
Silber, Anna

Chopinhof-Blues


gut

Der Roman „Chopinhof-Blues“ widmet sich Themen wie Familie, Beziehungen, Trauma und der Bewältigung von Vergangenem. Er teilt sich in drei Handlungsstränge auf. Da ist zunächst das Geschwisterpaar Katja und Tilo, die in einem Heim aufgewachsen sind, weil sie von ihrer Mutter vernachlässigt wurden. Adam und Aniko sind ein Paar, das aus Ungarn nach Wien eingewandert ist und deren Beziehung von Konflikten gekennzeichnet ist. Schließlich folgt der Leser Esra, einer Journalistin, die in Krisengebiete reist und auf ihrer letzten Reise nach Honduras Gewalt erfahren hat. Zum Ende des Romans werden diese Figuren zusammengeführt.

Der Roman wirkt an einigen Stellen etwas konstruiert und erlaubt es dem Leser dann nicht, in das Erzählte einzutauchen. Manchmal wirken Konflikte zwischen den Figuren nur schwer nachvollziehbar und auch ihre Ecken und Kanten scheinen nicht immer authentisch. Diese Unglaubwürdigkeit tritt im Roman leider öfters in den Vordergrund und äußert sich auf sprachlicher Ebene besonders in Dialogen, in denen die Charaktere sich in jedem zweiten Satz mit ihren Namen ansprechen, was die Dialoge holprig werden lässt. Bis zum Ende der Geschichte bleibt aus diesen Gründen daher eine Distanz zum Erzählten und zu den Figuren.

Dabei ist „Chopinhof-Blues“ kein schlechter Roman, denn alleine die Idee, unterschiedliche Menschen mit ihren ganz eigenen Schicksalen und Erfahrungen zueinander finden zu lassen, vermag zu überzeugen. Aber es bedarf einer Konzentration auf einen Kern, damit sich das Erzählte nicht verliert.

Bewertung vom 12.02.2022
Bone Music
Almond, David

Bone Music


sehr gut

In einem kleinen Dorf in Northumberland, am Rande der Zivilisation, wird Sylvia zusammen mit ihrer Mutter die nächsten Wochen verbringen müssen. Die Stadt fehlt ihr, ebenso wie ihre Freunde. Sie fühlt sich abgeschieden und nimmt die Landschaft um sie herum als leer wahr.
Doch mit Hilfe von Colin, einem Jungen aus dem Dorf und dessen Bruder Gabriel beginnt sie schon bald, die Welt und die Natur mit ganz anderen Augen zu betrachten. Da ist eine Musik, die die Landschaft erfüllt und die sie fasziniert. Alte Felsenmalereien und Totempfähle lassen Vergangenes nah erscheinen und als Sylvia schließlich zusammen mit Gabriel eine Knochenflöte aus dem Flügel eines Bussards schnitzt, verändert sich ihre Beziehung zu der Umgebung vollständig.

David Almond hat mit “Bone Music” ein besonderes Jugendbuch geschrieben. Er widmet sich einer Generation, die zwischen Klimastreiks, Zukunftsängsten und Hoffnung aufwächst. Es gelingt ihm, diese Themen, die auch Sylvia umtreiben und den Alltag ihres Stadtlebens mitbestimmen, mit philosophischen Gedanken und magischen Einschüben zu verbinden. Dabei verliert sich die Geschichte nie, bleibt inhaltlich stets nachvollziehbar und sprachlich ansprechend, stellenweise gar poetisch.

“Bone Music” stellt nicht nur für heranwachsende, sondern auch für erwachsene Leser eine bereichernde Lektüre dar.

Bewertung vom 30.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


ausgezeichnet

“Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung. Überwindung, et cetera.”

So beginnt dieser auf den ersten Blick unscheinbar dünne Roman “Zusammenkunft” von Natasha Brown. Doch schon nach den ersten Seiten wird klar, dass er alles andere als unscheinbar ist, dass er ganz im Gegenteil politisch und radikal ist, Gesellschaftskritik übt und dass er sich mit Themen wie sozialem Aufstieg, institutionalisiertem und alltäglichem Rassismus sowie Kolonialismus auseinandersetzt.

Die Protagonistin lebt als Tochter von jamaikanischen Einwanderern in London, arbeitet im Finanzsektor, hat sich bis zum Besitz eines gregorianischen Townhouses mit Kunst an den Wänden hochgearbeitet, zu einer privaten Krankenversicherung und einem Vermögensberater. Doch das ist nur die eine Seite ihres Lebens, der schöne Schein. Denn gleichzeitig sind da die Abendessen mit den Kollegen, die Aufdringlichkeiten und Annäherungsversuche, die Erniedrigungen, der ständige Kampf oben zu bleiben, nicht abzustürzen und die Angst, nicht wirklich oben anzukommen und diejenigen, zu denen sie dazugehören muss, nicht richtig nachahmen zu können.

Dann ist da noch der Freund der Protagonistin, der aus reichem Hause kommt und in der Politik arbeitet. Seine liberalen Eltern tolerieren sie, geben ihr aber gleichzeitig zu verstehen, dass sie sie nur als eine Phase des Sohnes betrachten, als einen Übergang. Denn eine Heirat würde den guten Namen und das Stammbuch der Familie beschmutzen: “Es ging um die Reinheit der Abstammung, der Geschichte; geteilter kultureller Sitten und Empfindungen. Die Fortführung eines Lebensstils, einer Klasse, des notwendigen höheren gesellschaftlichen Rangs.” Die Durchlässigkeit der Klassen, der soziale Aufstieg durch harte Arbeit: das alles entlarvt Brown als Farce.

An die Stelle dieses Narrativs von Aufstieg und Erfolg durch Arbeit rückt Brown die Angst vor dem Abstieg, die allgegenwärtig ist, die Fragilität, die Kompromisse und die Fiktionalisierung des Ichs. Denn dass die Protagonistin eine Rolle spielt, kommt immer wieder zum Ausdruck. Sie muss sich einen Habitus aneignen, der nicht der ihrige ist, wird zu einer Parodie ihrer selbst: “Hier geboren, Eltern hier geboren, immer hier gelebt - trotzdem, nie von hier. Ihre Kultur wird auf meinem Körper zur Parodie”. Sie “spaltet sich ab”, um dazuzugehören, verzichtet auf ihr Glück, um das, was noch ihren Eltern und Großeltern verwehrt wurden, erreichen zu können, nämlich ein Stück oberen Mittelklassekomforts.

Natasha Brown reduziert ihren Roman auf das Wichtigste, auf den Kern und verzichtet auf Ausschweifungen. Ihre Worte treffen dabei ins Mark. Auf den ersten Blick mag der Erzählstil mit seinen kurzen Sätzen und Abschnitten fragmentarisch anmuten, doch die Zusammenhänge sind allzu klar, als dass man sie nicht erkennen würde. “Zusammenkunft” ist ein wütendes Buch und ein lautes, weil es kein Blatt vor den Mund nimmt, weil es sich nicht scheut, das zu sagen, was gesagt werden muss. Weil es von der Ausbeutung der kolonialisierten Länder spricht, die bis heute andauert, von einer Gesellschaft, die sich sträubt, die Verbrechen des Kolonialismus überhaupt anzuerkennen und stattdessen ein märchenhaftes, wohlwollendes Empire verherrlicht.

Zu Recht hat dieser Roman im englischsprachigen Raum für Furore gesorgt. Denn er spricht über das, was oft ungesagt bleibt, hält der (britischen) Gesellschaft einen Spiegel vor und ist deshalb eine Bereicherung für die Gegenwartsliteratur.

Bewertung vom 18.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


ausgezeichnet

Es sind die siebziger Jahre. Leo Gazzarra ist aus Mailand nach Rom gekommen. Er arbeitet als Journalist, ohne dass die Arbeit ihm etwas bedeuten würde. Er lebt in den Tag hinein, ist immer pleite, lässt in den Bars anschreiben oder isst bei seinen reichen Freunden. Zusammen mit seinem Freund Graziano schreibt er ein Drehbuch, das nie verfilmt wird. Seine Liebe gilt Arianna, doch wirklich glücklich wird er mit ihr nicht.

“Der letzte Sommer in der Stadt” ist eines dieser Bücher, das seine ganz eigene Magie entwickelt. Vielleicht liegt es am dekadenten Rom, das Gianfranco Calligarich so eindrücklich heraufbeschwört und das seine Bewohner gleichzeitig abstößt und nicht loszulassen scheint. Doch da ist noch mehr, eine Art Melancholie und ein Sehnen nach etwas Unbestimmtem, die von Anfang an in der Luft liegen und eine Faszination auf den Leser ausüben.

Leo Gazzarras Leben zeichnet sich durch Haltlosigkeit, Unrast und Überdruss aus, durch eine Dolce Vita, die ins Gegenteil umschlägt und in durchqualmten Abenden, Alkoholexzessen, Augenringen nach schlaflosen Nächten und verkaterten Morgen endet. Es scheint, als wäre Gazzarra in seinem eigenen Leben nicht tief genug verankert, als versuche er, die Einsamkeit, die Distanz mit Alkohol zu übertünchen. Was am Ende bleibt, ist der Hunger nach etwas Wirklichem, nach Nähe und Liebe, die sich als unerreichbar entpuppen.

Dem Protagonisten haftet etwas Fatalistisches an. Das kommt bereits zu Beginn zum Ausdruck: “Damit das gleich klar ist, ich bin auf niemanden sauer, ich hatte meine Karten, und ich habe sie gespielt. So viel dazu.” In solchen Sätzen schwingt nicht nur ein einzelnes Schicksal mit, sondern auch die Entzauberung und Ausweglosigkeit einer Generation, deren Väter sich auf den Schlachtfeldern Europas umgebracht haben. Ihre Söhne sind “Überlebende des Gemetzels, und alles, was wir tun könnten, sei, uns mit den Resten zu begnügen”.

Calligarich schreibt fließend, bildhaft, greifbar. Die filmischen Vergleiche, die der Verlag anführt, scheinen durchaus angebracht, denn Gazzarras Leben setzt sich aus einzelnen Szenen zusammen, die ineinander übergehen, ohne zu haken, ohne zu stocken. Er durchfährt die Stadt mit seinem alten Alfa Romeo, bewegt sich von einem Ort zum anderen, wie in schwarz-weiß, wie vor den Augen einer aufmerksamen Kamera. Das Erzählte wirkt dabei jedoch stets zeitlos. Die Geschichte könnte auch jetzt spielen, gestern oder morgen.

“Der letzte Sommer in der Stadt” ist ein großer Roman, der zu überzeugen vermag, im Deutschen auch dank der gelungenen Übersetzung von Karin Krieger.