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Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 66 Bewertungen
Bewertung vom 10.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


ausgezeichnet

Vom Sehen und gesehen werden

"Ohne es zu wissen, lechzte ich offensichtlich danach, gesehen zu werden, und die Sehende zu teilen kam nicht infrage."

Katha ist vierzehn und nicht nur ihr Alter garantiert Umbruch, sondern auch das Leben, das sie nicht beeinflussen kann. Ihre Eltern trennen sich, sie ziehen mit Mutter und Schwester in eine neue Stadt und sie hat viel damit zu tun, es allen recht zu machen. Ihre Mutter versinkt in Selbstmitleid, ihre Schwester rebelliert biestig, aber liebenswürdig gegen alles und jeden. In der neuen Schule findet sie auf Anhieb Anschluss, weil sie es perfekt beherrscht, sich einzufügen. Durch ihre neue Clique kommt es zu einer Begegnung, die ihr ganzes Leben, ihre ganze Identität auf den Kopf stellen wird: Angelica, die Mutter der Cliquen-Anführerin Sofie, ist anders; rebellisch, unangepasst, bunt, Frauen liebend. Und sie ist die Erste, die Katha scheinbar sieht.

Sina Scherzant erzählt in "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" eine vielschichtige, einfühlsame und feministische Geschichte vom Erwachsenwerden, vom Sich-Finden und vom Empfinden tiefer Verbundenheit, die sich nicht kategorisieren lässt. Haarscharf analysiert sie das Komplizierte an Beziehungen, an Freundschaft, Liebe und der eigenen Identität, verpackt es in einer auto-fiktionalen Erzählung und schafft es gekonnt, die Protagonistin zum Wachsen zu bringen. Die Geschichte ist packend von der ersten Zeile weg, sofort ermöglicht es die Autorin sich in Katha hineinzuversetzen. Die Lesenden fühlen die Zerrissenheit und die Forderung endlich gesehen zu werden; das Für und Wider es allen stets recht zu machen - und den Ausbruch daraus. Der Schreibstil ist kurzweilig und herausfordernd zugleich, denn philosophische und gesellschaftskritische Gedanken begleiten stets den Fortgang der Geschichte. Zwischendurch, in einer Phase der Trauer, werden die Gedanken so selbstzerstörerisch, dass es beinahe unaushaltbar ist. Aber darin liegt die große Stärke des Geschriebenen, denn auch dieser Prozess ist nachvollziehbar und nachfühlbar. Und schließlich versöhnt uns die Autorin mit der Trauer und der Tatsache, dass sich das Leben weiterentwickelt.

Sina Scherzant ist ein ganz großer, einfühlsamer und feministischer Debütroman gelungen, der lange nachhallen wird und es definitiv verdient hat, (mindestens) ein weiteres Mal gelesen zu werden!

Bewertung vom 26.08.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


ausgezeichnet

Wow - was für ein Buch! In den 176 Seiten (E-Book) passiert kaum etwas, trotzdem ist das Lesen dieser Geschichte eine enorm wohlig-traurige Bereicherung!

"Hinter der Hecke die Welt" ist eine Erzählung, die einerseits greifbar macht, wie der Mensch die Erde Untertan macht und unwiederbringbar verändert. Anhand der Reise mit einem Expeditionsschiff in die Arktis und der Protagonistin Dora, die sich an eine unbekannte Welt herantastet und doch deren Veränderungen spürt, wird der Eingriff der Menschheit auf die Natur veranschaulicht. "Vielleicht, sagen sie, gibt es oben im Norden unter dem nun nicht mehr ewigen Eis noch Stellen, die kein Mensch je sah. Vielleicht ist in der Arktis noch mehr Arktis als Mensch."

Andererseits utopisiert und/oder dystopisiert Molinari den Untergang eines Dorfes, das sich kontinuierlich im Schrumpfen befindet; mit all dem Leerstand, der Dorfkasse und den wenigen verbliebenen Menschen, die immer noch weniger werden. Aber auch der Stillstand kommt vor, der nicht sein darf und deshalb akribisch untersucht wird. Nur die Hecke wächst unweigerlich und wird zu DER Touristenattraktion, der einzigen weit und breit. Bis zu einem Ereignis, das dazu führt, dass auch die Besucher*innen ausbleiben... Hier im Mittelpunkt sind die nicht mehr wachsenden Kinder Pina (Doras Tochter) und Lobo, die das Dorf und die Vorgänge darin intensiv und philosophisch betrachten. "Pina und Lobo fragten sich, ab wann ein Dorf als Dorf bezeichnet werden kann. [...] Sie standen auf dem Hügel und hielten sich die Hände so vor das Gesicht, dass sie Teile des Dorfes verdeckten, und überlegten sich, ob das Dorf auch dann noch ein Dorf war, wenn Lobos Haus wegfiel, der Schuppen daneben oder der Steg am Teich."

Um einzelne Gedanken der Protagonist*innen zu unterstreichen, sind Skizzen eingefügt, was der Erzählung auch einen humorvollen Aspekt zukommen lässt. Der Schreibstil ist fast kindlich, die Gedanken oft im Konjunktiv gehalten, was der ganzen Geschichte zusätzliche Phantasterei und magischen Glanz verleiht.

"Hinter der Hecke die Welt" ist sicher kein Buch für jedermann oder jedefrau! Wer ein außergewöhnliches, märchenhaftes Flair in der Gegenwart schätzt, das mit traurig anmutender Gesellschaftskritik und philosophischen Gedankengängen gepaart ist, findet hier jedoch ein Goldstück!

Bewertung vom 24.08.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


sehr gut

Spannend bis zum Schluss, aber etwas schnulzig

In "Wellenkinder" verfolgen wir drei unterschiedliche Menschen - Jan, Oda und Margit. Jan ist scheinbar der Protagonist der Gegenwart, wir erfahren, dass er Eheprobleme hat, aber alles dafür tun will, seine Frau zurückzugewinnen. Oda ist auf der Flucht vor dem DDR-Regime, wird aber dabei erwischt und gefangengenommen. Unklar ist, was mit ihrem in ihr heranwachsenden Kind passieren wird. Und dann ist da noch Margit, ein Mädchen, das auf einem Flüchtlingsschiff im 2. Weltkrieg ein Waisenkind an sich nimmt und versucht, es als Geschwisterchen aufzuziehen. Je weiter die Geschichten gesponnen werden, desto klarer wird, dass sie irgend etwas miteinander zu tun haben müssen. Die drei Fäden werden langsam zu einem und bis kurz vor dem Ende bleibt offen, wie eng sie miteinander verwoben sind.

Die Autorin schafft es die Spannung bis ans Ende aufrecht zu erhalten. Immer wieder treffen unerwartete Ereignisse oder Erklärungen ein. Die einzelnen Charaktere sind so beschrieben, dass die Leserin oder der Leser sich gut in sie hineinversetzen kann. Besonders bei Odas Leid als Gefangene im DDR-Regime glückt es der Autorin ihren Schmerz absolut nachvollziehbar zu machen. Was mich allerdings etwas genervt hat, war die pathetische Liebe, die die jeweiligen Protagonist/innen für jemanden empfanden - immer wieder wird in überschwänglicher Art und Weise betont, wie das Herz der Figur zerspringt oder für jemanden schlägt - für meinen Geschmack etwas zu viel des Guten. Das hat für mich leider die unterschiedlichen Charaktere, die an und für sich schon unterschiedlich ausgearbeitet waren, doch wieder irgendwie gleich werden lassen.

Mein Fazit: Wellenkinder ist ein spannender, unterhaltsamer und kurzweiliger Roman, der sich über die deutsche Zeitgeschichte streckt, absolut lesenswert, aber insgesamt etwas zu schnulzig geraten ist.

Bewertung vom 19.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


gut

Nilufars Vater Khosrow ist Iraner; nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hatte, verließ er Deutschland und kehrte in den Iran zurück. Nun, mit Anfang 30, soll Nilufar ihn in dem diktatorischen Land besuchen. Die Lust dazu ist enden wollend, doch Wahl bleibt ihr scheinbar keine. So bricht sie auf in ein Land, dass ihr surreal und fremd erscheint und doch ist es ein Teil von ihr. Dort angekommen, wird sie in die komplizierten Verstrickungen ihrer Familie hineingezogen und wie am Präsentierteller herumgereicht. Anstatt das Land kennenzulernen, trifft sie auf die komplexen Verflechtungen ihrer Großfamilie und fühlt sich von Tag zu Tag mehr eingesperrt.

Mutmaßlich verarbeitet die Autorin in "Terafik" ihre eigene Lebensgeschichte, ihre Suche nach ihrer eigenen Identität. Stilistisch durchaus spannend, wechseln sich die Erzählperspektiven ab: Nilufar lässt den/die Leser*in an ihrer inneren Zerrissenheit bezüglich ihrer Identität, der Beziehung mit ihrem Vater, ihrer Mutter und mit ihrer Lebensgefährtin teilhaben. Zwischendurch - mittels kursiver Schrift gekennzeichnet - wird das Leben ihres Vaters, vor allem jenes in Deutschland, nachgezeichnet. Immer wieder werden auch Antworten auf Fragen, die Nilufar an ihn stellt, eingestreut. Ausführlich wird auch berichtet, wie es ist, als "Ausländerkind" in Deutschland aufzuwachsen und wie Menschen aus anderen Ländern als Menschen zweiter Klasse behandelt werden - diese Schilderungen zu lesen, ist schmerzhaft! Ein seltsames Bauchgefühlt bot sich auch bei den Beschreibungen der Familienzusammenkünfte im Iran - die strikte Rollenaufteilung der Geschlechter, die vorausgesetzte Gastfreundlichkeit und ein Interesse für Nilufar, bei dem der/die Leser*in nicht weiß, ob es ehrlich ist, oder auch als Teil des Rollenspiels Familie gilt. Immer wieder verfällt die Autorin stilistisch auch in sinnsuchende Poetik.

Nach Beendigung des Buches bin ich mir aber nicht sicher, um was es in Terafik tatsächlich gehen sollte. Der rote Faden taucht zwar immer wieder auf, verläuft sich aber zwischendurch auch wieder im Sande. Dramaturgisch beginnt Terafik interessant, mit den unterschiedlichen Erzählebenen, diese werden aber im Laufe des Buches immer weniger und das Autobiographische - durchmischt mit philosophischer Poetik - dominiert. Trotzdem ich die Thematik spannend fand und der Schreibstil grundsätzlich ansprechend ist, hat mir aber der Spannungsbogen komplett gefehlt. Wie ich das Buch beendet habe, blieben viele Fragezeichen und ein runder Abschluss fehlte. Gestört hat mich auch, dass doch recht viele Rechtschreibfehler im Buch sind (ich habe das Ebook gelesen. Natürlich meine ich bei diesen Rechtschreibfehlern nicht die Zitate des Vaters, der in gebrochenem Deutsch schreibt, sondern tatsächliche "Schlampigkeitsfehler"). Was aber auf alle Fälle hängen bleibt, ist, dass das Konstrukt "Familie" im Iran sehr unterschiedlich zum Mitteleuropäischen Konzept ist - und das ist spannend und erweitert den Horizont!

Bewertung vom 13.08.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Auf den Spuren eines Todes

Was muss geschehen sein, dass sich ein Mensch das Leben nimmt? Hätte der Tod verhindert werden können? Und gibt es eine Person oder ein Ereignis, die bzw. das Schuld am selbstgewählten Ableben ist? Diese und mehr Fragen stellt sich auch die Journalistin und Autorin Anja Reich. Ihre gute Freundin Simone hat sich Mitte der 1990ern das Leben genommen, scheinbar vollkommen unvorhersehbar. In "Simone" begibt sich Reich auf Spurensuche und zeichnet den Lebensweg ihrer Freundin und deren Familie nach: von der Lebensgeschichte ihrer Großeltern und Eltern, über das Aufwachsen Simones in der DDR, hin zum einschneidenden Ereignis der Wiedervereinigung bis zum mutmaßlichen Selbstmord der knapp 27-Jährigen.

Zugegebenermaßen bin ich, wie ich begonnen habe das Buch zu lesen, davon ausgegangen, dass es sich bei "Simone" um einen fiktiven Roman handelt - aus dem Klappentext war für mich nicht ersichtlich, dass Anja Reich tatsächlich über reale Begebenheiten schreibt. Dementsprechend langatmig empfand ich den Beginn des Buches - Schilderungen über die Vorfahren Simones, geschichtliche Überblicke, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zu der "Hauptprotagonistin" kam. Doch als Simone die Bühne des Buches betritt und klar wird, dass Reich versucht ihr Leben und ihren Tod bestmöglich nachzuzeichnen, um eine Erklärung für das Unvorstellbare - den Suizid - zu finden, wird das Werk spannend. Einfühlsam aber schonungslos ehrlich porträtiert sie Simone, ihre anziehende offene Art genauso wie ihre scheinbare Herrschsucht und Unsicherheit. Sie setzt ihrer Freundin ein Denkmal, das als Beispiel dienen kann, nachzuempfinden, wie psychische Erkrankungen Menschen beeinflussen und verändern - für Außenstehende oft nicht erkennbar.

Das Buch ist harte Kost. Es ist berührend, mitnehmend und anstrengend zugleich. Ich finde es empfehlenswert für alle, die sich dafür interessieren, was in einem Menschen mit einer psychischen Erkrankung (mit Suizidgedanken) vorgeht; es kann anhand einer tatsächlichen Lebensgeschichte einiges erklären und fühlbar machen. Abraten würde ich aber jenen, die sich in akuten Krisen befinden oder die eine Trauerbewältigung nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen noch nicht abgeschlossen haben, zu schwer und bedrückend wiegt das Thema.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Doris Knechts namenlose Protagonistin stellt in "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" fest, dass sie viele Begebenheiten ihres Lebens tief ins Un(ter)bewusste vergraben hat. In einer Phase des Umbruchs - ihre Kinder werden flügge, weshalb sie sich auf die Suche nach einer anderen, leistbaren Wohnung machen muss - gräbt sie ihre Erinnerungen aus und entdeckt nach und nach, was sie zu der Person machte, die sie heute ist.

Der neue Titel von Doris Knecht lockt mit einem ansprechenden Titel und Cover - es lässt sich erahnen, dass auch ein Hund eine gewisse Rolle in dem Roman spielen wird. Die Story wird autofiktional erzählt. Die gewählte Sprache erschien mir anfänglich sehr galoppierend, doch gewöhnte ich mich schnell an das Tempo und rasch konnte ich mich in die Titelfigur hineinversetzen. Die einzelnen Kapiteln sind mit einem eingängigen Header tituliert und halten sich meist recht kurz, was das Buch zusätzlich sehr kurzweilig macht. Die Plots sind nachvollziehbar, aber spannend und durchaus humoristisch. Die Hauptprotagonistin lässt die Leser*innen in fesselnder Art und Weise an der Entdeckung ihres Vergessenen teilnehmen. Treffend analysiert sie dabei ihre Beziehung zu ihrer Familie, ihren Kindern, ihren Freund*innen und auch zu den Männer, die in ihrem Leben immer wieder auftauchten. Lediglich der Kindsvater wird eher ausgeklammert und auch die Tatsache, dass ihr Hund nur "der Hund" genannt wird, wirkt etwas unpersönlich.

Ich hätte gerne noch viele Seiten mehr an dem Leben der Protagonistin teilgenommen, so sympathisch ist sie mir geworden. Von Beginn an schafft es die Autorin ein Kopfkino bei der bzw. dem Leser*in zu starten. Das Buch hinterlässt ein wohliges Gefühl und ist definitiv ein Werk, was mir in Erinnerung bleiben und in Zukunft erneut gelesen wird.