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KrimiElse

Bewertungen

Insgesamt 73 Bewertungen
Bewertung vom 18.07.2016
Und damit fing es an
Tremain, Rose

Und damit fing es an


ausgezeichnet

Freundschaft, Liebe und Einsamkeit in leisen und sehr eindringlichen, poetischen Tönen bestimmen den wunderbaren Roman "Und damit fing es an" der britischen Schriftstellerin Rose Tremain. Erzählt wird die Lebensgeschichte zweier Männer und die verschlungenen Umwege auf der Suche nach dem Glück und dem richtigen Leben.

"...du musst wie die Schweiz sein. ... Du musst dich zusammenreißen und mutig und stark sein und dich heraushalten. Dann wirst du die richtige Art Leben führen."

Der kleine Gustav wird von seiner Mutter Emilie in der winzigen, ärmlichen Wohnung kurz nach Kriegsende in Matzlingen in der Schweiz sehr kurz gehalten. Es mangelt nicht nur an materiellen Dingen, so besitzt Gustav als einziges Spielzeug eine Blecheisenbahn in seinem kalten Zimmer, sondern auch Liebe und Zuneigung durch seine Mutter bleiben ihm verwehrt. Gustav ist sehr bemüht, das richtige Leben zu führen, das den durch ihn nie erfüllbaren Ansprüchen seiner Mutter genügt, jenseits aller Schönheit und allen Vergnügens, genügsam und duldsam, neutral und leise.

"Du bist vielleicht so weit Mutti, aber ich nicht. Es gibt etwas, von dem ich immer gehofft habe, ich könnte es dir beibringen, und das war, mich zu lieben. Aber es ist mir nie gelungen. Oder?"

Mit dem jüdischen Jungen Anton, der weinend als neuer Schüler in die Vorschulklasse kommt, tritt mit geballter Macht Emotionalität, Neugier und Schönheit in Gustavs bis dahin tristes und ereignisloses Leben, der er sich vorsichtig und um das Einverständnis seiner mürrischen Mutter Emilie heischend stellt. Anton profitiert von der Bodenständigkeit, Genügsamkeit und Gelassenheit seines neuen Freundes. In einem Urlaub, zu dem Antons Familie Gustav einlädt, knüpfen sie enge Bande, die ihr ganzes Leben halten sollen, obwohl sie beide lange Zeit suchend und unglücklich bleiben.

Der Roman ist dreigeteilt und berichtet zunächst von der Vorschulzeit der beiden Jungen, blickt im zweiten Teil zurück auf das Leben von Emilie und Erich Perle vor Gustavs Geburt und erzählt im letzten Teil von den beiden Männern Gustav und Anton in der Mitte ihres Lebens in den 1990er Jahren.
Alle drei Teile bewegen sich auf dem Pfad der Suche der Charaktere und beschäftigen sich mehr oder weniger mit Eventualitäten und was-wäre-wenn - Konstellationen. Das Leben entscheidet letztlich, und obwohl es bei keiner der Figuren wirklich außergewöhnlich verläuft, erzählt die Autorin mit eindringlicher Sprache und viel Sensibilität von immer wieder überraschenden Wendungen, was dem Roman trotz der eher leisen Geschichte viel Spannung verleiht.

Das Buch ist gefüllt mit eindrucksvollen emotionalen Schilderungen.
Emilie, die verbitterte und stets unzufriedene Mutter Gustavs und Gustav selbst mit seinen widersprüchlichen Gefühlen leiden beide still und duldsam.
Gustav hat sehr früh und schmerzlich gelernt, zu tun was nötig ist, um sein Leben wieder ins Lot zu bringen. Später findet er Ruhe beim zeitverschwenderischen Kartenspiel:
"Beim Zeitverschwenden ändert man das Wesen der Zeit. Das Herz wird beruhigt."
Sein Freund Anton neigt zu großen Ausbrüchen und lebt seine Emotionalität:
"Ich will nicht, dass mein Herz beruhigt wird. Ich möchte, dass es vor Freude überfließt."

Der Roman hat mich sehr bewegt und mitgerissen, ich war beim Lesen mitten im Geschehen, habe mit den Protagonisten ihre Höhen und Tiefen intensiv durchlebt. Besonders gut gefallen haben mir die leisen Töne, die poetische und dennoch einfache Sprache, mit der vieles nicht bis ins letzte Detail beschrieben, sondern oft sehr geschickt angedeutet ist. Wie anderen Rezensenten vor mir hat mich die hervorragende Übersetzung überrascht, ich hatte nie das Gefühl, ein übersetztes Buch zu lesen.
Von mir bekommt das Buch fünf Sterne und eine unbedingte Empfehlung zum Lesen.

Bewertung vom 18.07.2016
A wie B und C
Kleeman, Alexandra

A wie B und C


ausgezeichnet

Der mit dem Bard Fiction Prize 2016 ausgezeichnete Roman "A wie B und C" stammt aus der Feder der 1986 geborenen Autorin Alexandra Kleemann und ist ihr Roman-Debüt.

Klappentext:
A ist eine attraktive junge Frau. B ist ihre Mitbewohnerin, die um jeden Preis so aussehen möchte wie A. C ist der Freund von A und schaut mit ihr am liebsten Haifisch-Dokumentationen oder Pornos. Als A eines Tages verschwindet, ahnen B und C nicht, dass sie sie womöglich nie wiedersehen werden.
A wie B und erzählt mit scharfem Blick und hintergründigem Humor von unserer Obsession, perfekt zu sein: wie Realityshows, Werbung und abstruse Trends uns in Beschlag nehmen und zu Leibeigenen unseres Körpers machen.

Mich erinnert das Buch zum einen an eine sehr langsam erzählte Science Fiction - Geschichte, in der die Handlung selbst zugunsten der Charaktere in den Hintergrund tritt. Andererseits ist es eben kein Science Fiction, was den Inhalt des Buches ausmacht, sondern sehr realer, greifbarer und absurd übertriebener Körperkult und seine Auswirkungen auf der einen Seite, die Nichtigkeit und Langweiligkeit des nebeneinander her Existierens zum anderen.
Daraus resultiert eine sehr seltsame, absurde und eindringliche Geschichte, in der bedeutungslose Handlungen wie das Schälen einer Orange extrem bedeutsam werden, Realityshows tatsächlich die Realität bestimmen und schräger Esskult Ausdruck in einer Kirche der Gemeinsamen Esser findet, die sektenartige Züge aufweist und die die Menschen von der Last, einen Körper zu besitzen, befreien wollen.
Verwirrt und auf der Suche findet man als Leser dazwischen die Protagonistin A, die ihr Gesicht täglich hinter dicker Schminke versteckt, deren Mitbewohnerin B ihre Identität und ihr Leben okkupiert und deren Freund C sein Leben vor der Glotze mit Dosennahrung verbringt.

Das Buch ist ein extremer und unbequemer Spiegel, der dem Leser vorgehalten wird, ohne dass wirklich Handlung stattfindet, wodurch es sicherlich stark polarisiert. Das Thema ist verwirrend und um ehrlich zu sein keines, von dem ich gerne lese, denn ich schaue in den Spiegel und finde mich an manchen Stellen wieder. Die Atmosphäre, die das Buch vermittelt, ist düster, bedrückend und letztlich hoffnungslos.
Das Buch enthält viele merkwürdige Passagen, die die Verwirrung beim Leser auslösen. Dazu gehören zum Beispiel die Werbespots für Kandy Kake, einem synthetischen süßen Snack (der übrigens tatsächlich existiert), in dem ein ausgemergelter Kater verzweifelt immer wieder versucht, einen dieser Kuchen zu ergattern oder auch die Supermarktketten Wally, in denen die gefragtesten Produkte schwer auffindbar sind und zu diesem Zweck Regale auf Schienen ständig umplaziert werden.

Wesentliches Medium ist ungewöhnlicherweise das Fernsehen, sozialen Netzwerken oder dem Internet kommen keinerlei Bedeutung zu. Damit erfolgt die Beeinflussung nicht durch Kommunikation und Austausch, sondern durch einseitige Manipulation. Ebenso ungewöhnlich ist, dass keine Namen von Personen oder Orten genannt werden.

Es ist sicher nicht leicht, sich auf das Buch einzulassen und bei der Stange zu bleiben. Mir hat die abgedrehte und sehr ungewöhnliche Idee sowie deren Umsetzung gut gefallen, ich vergebe 4 Sterne dafür.

Bewertung vom 26.04.2016
V5N6
Welsh, Louise

V5N6


sehr gut

Das kluge Endzeitszenario "V5N6" der Autorin Louise Welsh ist eine sehr spannende Mischung aus Seuchenthriller und medizinischem Krimi, das in London angesiedelt ist und den ersten Teil einer Trilogie darstellt.
Menschlich-soziale Aspekte stehen gegenüber nägelkauender Spannung im Vordergrund, und dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist das Buch für mich ein Pageturner.

Klappentext:
Oberflächlich betrachtet hatten die drei Amokläufe in London in diesem heißen Sommer nichts mit den späteren Ereignissen zu tun, aber für Stevie Flint waren sie wie ein Menetekel für das, was noch kommen sollte. Als ihr Freund sie versetzt und sie ihre Sachen aus seiner Wohnung holen will, findet sie ihn tot in seinem Bett. Kurz danach wird sie krank. Hohes Fieber, Erbrechen, Schüttelfrost. Als sie nach Tagen wieder mühsam auf die Beine kommt, hört sie, dass sich in London ein tödliches Virus verbreitet: Am 'Schwitzfieber' sterben die Leute in wenigen Tagen, die Krankenhäuser und Leichenhallen sind bereits überfüllt. Stevie Flint kümmert das nicht, sie hat eine eigene Mission. Auch wenn es in einer Stadt voller Toter nicht nach einem Mord aussieht: Sie ist überzeugt, dass der Tod ihres Freundes Dr. Simon Sharkey weder auf das Virus noch auf Selbstmord zurückzuführen ist und macht sich auf die Suche nach seinem Mörder. Diese wird für sie zu einem Wettlauf gegen den Tod, der mitten ins Herz einer sterbenden Stadt führt. Ein Thriller, der uns an die Zerbrechlichkeit unserer Zivilisation erinnert.

Das besondere am Roman von Louise Welsh ist, dass es sich weder dem Genre Thriller noch dem Genre Endzeithorror mit allen den beiden Richtungen anhaftenden Klischees und Plattheiten zuordnen lässt und dennoch mit dem Spannungsbogen sehr erfolgreich und gekonnt umgeht. Natürlich finden sich typische Elemente aus Dystopie-Literatur, wie leergefegte Straßen, menschliche Verrohung, Genusssucht, abgeriegelte Bereiche von reichen Gegenden und städtisches verrohtes Chaos, doch diese Bilder sind lediglich Handlungshintergrund für ein sehr gekonnt konstruiertes kriminalistisches und soziales Drama. Ebenso fehlen die typischen Thriller-Brutalitäten, vielmehr spielen zwischenmenschliche Töne und der Tod eines Einzelnen und dessen Aufklärung in einer dem Untergang geweihten Stadt mit all seiner Wichtigkeit für die Protagonistin die wesentliche Rolle.
Das macht das Buch für mich sehr lesenswert.

Erschreckend nahe ist man der Geschichte und der Protagonistin Stevie beim Lesen durch aktuelle Epidemien wie Ebola oder Zika oder durch das Wiederaufflammen in Vergessenheit geratener mittelalterlicher Krankheiten und die Verwüstung, die diese Seuchen hinterlassen. Gemeinsam mit Stevie kann man durch die für dieses Genre teilweise ungewöhnlich poetische Sprache selbst dem Untergang und der Apokalypse Schönheit abgewinnen, die menschliche Verrohung bleibt am Ende auf der Strecke und zurückgelassen wird man als Leser mit melancholischer Stimmung, schwankend zwischen Niedergeschlagenheit und vorsichtiger Hoffnung.

Ich gebe eine klare Leseempfehlung mit 4 Sternen für Liebhaber von Dystopien und auch für Leser von klug konstruierten Thrillern und freue mich auf die weiteren Bände.

Bewertung vom 26.04.2016
Des Tauchers leere Kleider
Vida, Vendela

Des Tauchers leere Kleider


gut

KLAPPENTEXT
Eine Amerikanerin reist überstürzt nach Casablanca. Der Grund für ihre Reise ist unklar. Kaum in ihrem Hotel angekommen, wird sie ausgeraubt. Die Polizei und die Hoteldirektion versuchen scheinbar, den Dieb zu fassen, haben sich aber eigentlich gegen die Amerikanerin verschworen. Auf der Polizeiwache wird ihr der Rucksack einer fremden Frau ausgehändigt, deren Identität sie gezwungenermaßen annimmt. Vorübergehend, wie sie denkt, bis sich alles aufgeklärt hat. Doch einmal von der Last des eigenen Ich befreit, beginnt sie, Freude daran zu empfinden, sich von der Frau, die sie einmal war, immer mehr zu entfremden. Bis sie eine berühmte Hollywood-Schauspielerin kennen lernt und einen Schritt zu weit geht.
"Des Tauchers leere Kleider" erzählt das Abenteuer einer Frau, die allen Grund zur Flucht hat – einer Frau, die sich in eine fremde Landschaft begibt, um zu vergessen, und dabei zum ersten Mal zu sich selbst findet. Mit Anklängen von Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith: ein Roman voller extravaganter Vergnügungen.

Das Buch spielt mit Identität und Identitätsverlust und unserer Abhängigkeit oder Unabhängigkeit davon. Der Ansatz ist sehr interessant, dass eine dem Leser unbekannte Frau in einem fremden Land ihrer persönlichen Gegenstände und durch eine Reihe von Zufällen und Verstrickungen auch ihrer Identität beraubt wird, ohne straflose und glaubhafte Möglichkeit, diese wiederzuerlangen.
Man fühlt sich beim Lesen nahe bei der jungen Frau, deren Namen und Identität man nicht kennt, fiebert anfangs mit ihr durch die Verwicklungen, an denen sie selbst teilweise schuld ist, die sich zum Teil auch zufällig ergeben. Nähe wird dadurch aufgebaut, dass die Protagonistin dem Leser sehr vertraulich von ihren Erlebnissen berichtet, indem sie diese nicht in der Ich-Form, sondern in der Du-Form erzählt, so wie man es vielleicht gegenüber einem engen Freund tun würde oder vielleicht auch im Selbstgespräch. Dadurch wird der Leser in die Handlung einbezogen, und auch wenn nicht immer klar ist, ob die Vorgänge tatsächlich so geschehen oder der verdrehten Wahrnehmung der Frau entspringen entspringen fiebert man anfangs um den Fortgang der Ereignisse.

Doch leider ist genau dies auch das große Manko des Romanes. Die Geschichte wendet sich zwar nach rechts und links, aber die ausschließliche Zwiesprache der Protagonistin mit sich selbst bzw. mit dem Leser verhindert den interessanten Wechsel von Blickwinkeln ebenso wie Berichte aus der Vergangenheit und den Aufbau weiterer Charaktere. Auch die Erzählerin selbst ist nicht greifbar und wirkt blass. Dadurch verliert der Roman leider sehr viel Boden, schafft großen Abstand zum Leser, der sich im Laufe der Zeit mehr und mehr ausgeschlossen fühlt und das Geschehen nur noch wie durch ein Fernglas betrachtet, weil irgendwie alles auf Anfang steht. Das Buch wirkt trotz interessanten Ansatzes leider nur oberflächlich, obwohl man aus Neugier immer weiter liest und irgendwann abrupt zum Ende kommt.

Positiv zu werten ist für mich die Kulisse des Romans, Marokko und insbesondere Cassablanca erwachen durch die Augen der unbekannten Erzählerin zum Leben. Die Stadt wirkt bedrohlich und feindlich auf die unbekannte Frau und auf den Leser, man spürt sie Gefahr wie in einem guten Film, insbesondere am Beginn des Romanes.

Fazit:
Eine sehr interessante Grundidee der Erzählweise, die jedoch im Laufe des Romanes zu oberflächlich wirkt und verschiedene Sichtweisen und andere Betrachtungen verhindert. 3 Sterne

Die Autorin Vendela Vida ist eine der Herausgeberinnen des Believer Magazine. Sie lebt mit ihrem Ehemann Dave Eggers in San Francisco und hat bisher vier Romane veröffentlicht.

Bewertung vom 13.01.2016
Die Geschichte des Regens
Williams, Niall

Die Geschichte des Regens


ausgezeichnet

Die Geschichte des Regens ist ein wunderbares Buch über eine irische Familiengeschichte und über die Liebe zur Literatur, zum Ausdruck gebracht von einem todkranken 19jährigen irischem Mädchen, das sich mir erst mit einiger Mühe erschlossen hat.

Ruth Swain ist durch schwere Krankheit an ihr Bett gebunden und lebt im Dachgeschoss ihres Elternhauses umgeben von 3589 Büchern ihres Vaters und dem Regen, der über ihr Dachfenster fließt. Sie spürt den Geschichte ihrer Familie nach, begleitet vom Vermächtnis ihres Vaters, das sie in den sie umgebenden Figuren und Geschichten der Bibliothek findet. Ruth taucht als Erzählerin in die Bücherwelten ein und kann so ihren Krankheit entfliehen. Die Geschichte ist geprägt von vielen skurrilen Gestalten wie zum Beispiel Ruth's Urgroßvater Reverend Absalom, Großvater Abraham, der durch Stabhochsprung versucht zu Gott zu gelangen und von ihrer Mutter Mary und dem als Bauer erfolglosem Vater Virgil, die mit viel Elan und Rückschlägen versuchen, völlig unfruchtbares Land zu bewirtschaften.
An den Rändern der Geschichte erscheint immer wieder der ewige Regen und der Fluß Shannon, der sich sowohl hinter dem Haus der Familie als auch durch die Geschichte schlängelt.

Das Buch ist eine anekdotenhafte Liebeserklärung an viele Literarische Werke, zu der ich nicht von Anfang an Zugang fand. Der mäandernde und in keiner Weise chronologische Stil, die Unterbrechungen für vielen Bezüge auf Bücher und die anfangs für mich schwer überschaubare Personenzahl haben beim Lesen hohe Konzentration erfordert und ich musste mich zunächst an die ungewöhnliche Erzählweise gewöhnen.
Es ist dennoch eine wunderbar komische und zugleich tragische irische Geschichte, für die sich die Mühe lohnt, denn am Ende, als ich das Buch zuklappte, war ich ein wenig wehmütig, Ruth und ihre Familie verlassen zu müssen.

Ich vergebe 4 Sterne für diesen außergewöhnlichen Roman, der mir nach Anlaufschwierigkeiten ein ganz besonderes Lesevergnügen beschert hat.
"Die Geschichte des Regens" stand 2014 auf der Longlist des renommierten Booker-Preises und erhielt viele lobende Kritiken.

Bewertung vom 12.01.2016
Die Flucht der blauen Pferde
Schulze Gronover, Sabine

Die Flucht der blauen Pferde


ausgezeichnet

Kunstraub durch Nazis, ein berühmtes Gemälde, das zuletzt in Göhrings Besitz war und ein Ex-Häftling auf Bewährung, der über Leichen stolpert und eine ungezügelte Neugier auf seine Nachbarn hat ergeben einen raffinierten, überzeugenden und spannenden Kriminalroman.

Der Ex-Häftling Konstantin Neumann ist auf Bewährung entlassen und dank der Vermittlung seiner Schwester bewohnt er eine schöne Altbauwohnung in einer ruhigen Wohngegend in Münster. Er stellt in seinem Haus seltsame nächtliche Aktivitäten fest und findet kurz darauf die Leiche einer jungen Frau im Treppenhaus, die seine Neugier weckt sowie eine korpulente und sehr rabiate Kommissarin auf den Plan ruft.
Bei Nachforschungen stößt Konstantin auf einen verschollenen Vormieter und auf seltsame Verbindungen der übrigen Hausbewohner untereinander, die alle ungewöhnlich wohlhabend sind. Besonders interessant erscheint ihm der Alte im Erdgeschoss, bei dem Konstantin eine sehr dunkle Vergangenheit und merkwürdige Verbindungen zur Kunstszene in der Gegenwart vermutet.
Unterstützt wird Konstantin bei seinen Nachforschungen von einem ehemaligen Mithäftling und Kunstfälscher, der wie viele andere in dieser Geschichte auf der Suche nach während der Nazizeit verschollenen Gemälden ist.

Die Handlung lebt von interessanten, geheimnisvollen und teilweise skurrilen Charakteren und immer wieder überraschenden Wendungen. Der Protagonist und Antiheld Konstantin agiert teilweise recht naiv und stolpert, obwohl er eine kluge Person ist, von einem Malheur zum nächsten. Überwacht und überrascht wird er von Kommissarin Finke, die auf ihn anfangs bedrohlich und einschüchternd wirkt, und das nicht nur wegen ihrer Körperfülle, aber trotz Resolutheit das Herz am rechten Fleck hat und viel Fürsorge und Klugheit und Humor beweist.

Der lockere aber dennoch situativ angepasste Stil des Buches macht das Lesen zum Vergnügen und hat mir sehr gefallen. Die fesselnde Schreibweise der Autorin und das häppchenweise Auflösen der verwickelten Geschichte verbunden mit dem hochinteressanten Hintergrund ergeben einen höchst ausgefeilten und raffinierten Kriminalroman, für den ich volle 5 Sterne vergebe.

Der Prolog der Geschichte beruht übrigens auf Tatsachen:
Das berühmte Bild von Franz Marc "Der Turm der blauen Pferde" verschwand nach dem Krieg angeblich aus dem "Haus Waldsee" und gilt seitdem als verschollen. Ebenso wahr ist die Passage zum Kunstfund aus der Sammlung Gurlitts (Schwabinger Kunstfund). Die im Buch erzählte Geschichte selbst ist zwar fiktiv, aber klug gewürzt mit ein paar reellen Ereignissen liefert dies einen ganz besonderen Reiz.

Bewertung vom 10.01.2016
Der Blogger
Brosi, Patrick

Der Blogger


ausgezeichnet

Dem Autor Patrick Brosi ist mit seinem Buch "Der Blogger" ein unglaublich komplexer, authentischer und realitätsnaher, intelligenter und spannender Kriminalfall mit für mich unerwartetem Ende gelungen. Ein besonderer Reiz des Romanes besteht für darin, dass die Geschichte zum Schluss des Buches zwar für den Leser nach einigen überraschenden Wendungen durchschaubar ist, jedoch einiges offen bleibt und nicht zum klassischen Krimi-Ende führt.

Der Enthüllungsblogger René Berger ist aus einem Ruderboot auf dem Titisee im Schwarzwald verschwunden, wohin er sich nach einer hochbrisanten Enthüllungsstory über einen Schweizer Pharmariesen, die weltweit Aufmerksamkeit erregte, zurückgezogen hatte.
Die junge Journalistin Marie Sommer, die den Blogger für eine Berliner online-Zeitung aufgespürt und interviewt hatte, ist ebenfalls verschwunden. Es war der Auftrag, der sie zu Erfolg und Berühmtheit führen sollte, nachdem ihr Germanistik-Studium durch eine verpatzte Hausarbeit vorzeitig beendet war und ihr Freund sie betrogen hatte. Begleitet in der Schwarzwald wurde Marie von Simon, einem Nerd aus der Technikredaktion des online-Blattes, der ebenfalls unauffindbar ist.
Kommissar Nagel von der Freiburger Kripo, ein einzelgängerischer und schrulliger Ermittler versucht Licht in die Angelegenheit zu bringen, indem er sich nicht seinem dynamischem Vorgesetzten beugt und auf eigene Faust Nachforschungen anstellt.

Das Buch ist in zwei verschiedene Zeitebenen aufgebaut, die sich im Laufe der Geschichte aneinander annähern. Der Strang in der Vergangenheit erzählt die Ereignisse vor dem Verschwinden des Bloggers René Berger aus dem Ruderboot, der zweite Strang beginnt mit den Ermittlungen unmittelbar nach dem Verschwinden von René Berger und verfolgt die Ereignisse danach.
Sehr geschickt werden vom Autor zusätzlich verschiedene Handlungsstränge aufgestellt und in den einzelnen Zeitsträngen verfolgt. Das gibt der Geschichte viel Tempo und Spannung, zumal nicht alle Handlungen geradlinig nachvollzogen werden können und unerwartete Wendungen und Zusammenführen eingebaut sind.
Zu keinem Zeitpunkt entsteht trotz der vielen Verwicklungen beim Lesen Verwirrung, was vom Stil her eine grandiose Leistung ist.

Die Charaktere sind mit vielen Hintergrundinformationen sehr gut nachvollziehbar und teils liebevoll gezeichnet. Ein Sympathieträger ist eindeutig der skurrile, schrullige, eigenbrötlerische und mit Kreislaufproblemen und Übergewicht kämpfende Ermittler Andreas Nagel. Er bevorzugt chaotische Papierhaufen statt Ordner und Mappen, bastelt sich aus Joghurtbechern Kaffeefilter, versucht aus Liebe zu seiner Frau Irene abzunehmen und gräbt vor allem dort, wo andere sich zufrieden mit einer offensichtlichen und angebotenen Lösung schon abgewendet haben.

Ein weiterer Reiz des Buches besteht darin, dass es sich um einen Regionalkrimi aus dem Dreiländereck Deutschland - Schweiz - Frankreich handelt und bekannte Örtlichkeiten des Südschwarzwaldes mit Blick auf die Eigenheiten der Gegend in die Handlung einbezogen werden. Dass der Autor dabei einen kritisch-augenzwinkernden Blick auf deutsche Spießigkeit und die Vorgaukelung einer heilen vor-Alpinen Urlaubswelt wirft hat mir gut gefallen.

Fazit:
Das Buch bekommt von mit 5 Sterne und eine Leseempfehlung für Liebhaber spannender, aktueller, realitätsnaher und kluger Krimis mit Thrillerelementen.

Bewertung vom 19.12.2015
Schwarzes Gold aus Warnemünde
Martenstein, Harald; Peukert, Tom

Schwarzes Gold aus Warnemünde


ausgezeichnet

Harald Martenstein, Redakteur, Journalist und Zeit-Kolumnist und Tom Peuckert, freier Autor, Regisseur und Dokumentarfilmer, lassen die DDR in einer satirischen Utopie wieder auferstehen, indem sie das Fluchtproblem lösen, weil keiner mehr aus diesem mittlerweile reichstem Land der Welt weglaufen will.

Am 9.November 1989 verkündet Günter Schabowski nicht die Öffnung der Grenzen sondern die Entdeckung von Erdöl an der Ostseeküste der DDR, dem weltweit größten Vorkommen, welches ab sofort unverzüglich zur Verfügung steht.
Die DDR wird damit das reichste Land der Welt, Rügen wird Sperrzone und umfunktioniert zum Umschlagplatz zur weltweiten Verschiffung des Öls mit Raffinerien und Häfen, Prora wird der Sitz des Erdölkombinates. Der wahrscheinlich mächtigste Mann im Land: Erdölminister Markus Wolf, der gemeinsam mit Generalsekretär der SED Egon Krenz die Fäden zieht. Allen Bürgern der DDR geht es glänzend dank Bürgergeld und westdeutschen und österreichischen Gastarbeitern, die als Deutsche zweiter Klasse an den Grenzen Schlange stehen.

Es gibt allerdings für DDR-Bürger ein Gesinnungsbarometer mit einer Skala von A (AAA gibt es nur für hohe Parteifunktionäre) bis F (was wahrscheinlich Friedhof heißt). An der Ideologie selbst ändert sich nichts, Andersdenkende werden nach wie vor verfolgt, die Phrasen und Sprüche auf den Parteitagen der SED sind sogar noch inhaltsleerer als vor 1989.
Die Menschen werden durch den Reichtum des Erdölsozialismus nicht besser, im Gegenteil.

Der westdeutsche Martenstein und der DDR-Kritiker Peuckert schlittern durch die Schattenseiten des DDR-Imperiums und verfassen Berichte und Reportagen zu Hintergünden des Systems, machen Interviews mit bedeutenden Persönlichkeiten der DDR und stehen doch irgendwie ständig auf der Beobachtungs- und Abschussliste.

Umgesetzt ist die Geschichte als Sammlung eben dieser Reportagen und Berichte von Martenstein und Peuckert, verknüpft durch eine Rahmenhandlung zum Werdegang und zu den Erlebnissen der beiden investigativen Reporter von 1989 bis 2015.

Die Autoren nutzen das ohnehin vorhanden gewesene komödiantische Potenzial der ehemaligen DDR in ihrer Utopie voll aus. Daneben üben sie auf satirische Art Kritik an bestehenden Zuständen, was allerdings nie brachial geschieht sondern geschickt verpackt wird.
Es ist dennoch kein Buch der leisen Töne, sondern kommt laut polternd und Aufmerksamkeit heischend mit schallendem Gelächter daher.

Die Charaktere um die es in den Reportagen und Interviews geht, überschlagen sich: Karl-Theodor Guttenberg als Wirtschaftsminister, nachdem er Bürger der DDR wurde und den Ehrendoktortitel verliehen bekommt, Kati Witt als männermordende Diva, die das Dschungelcamp zusammen mit Kai Pflaume auf Kuba moderiert, um systemkritische Personen durch Herausforderungen zu läutern, Hartmut Mehdorn als Robotron-Boss, der in der Reportage das Geheimnis des Erfolges von Robotron aufdeckt, Gregor Gysi als Kulturminister in einem 99-Fragen-Interview, Gerhard Schöder als Sprecher des Zentronik-Kombinates, Helene Fischer (eigentlich ist sie die Russlanddeutsche Jelena Fischer), die als Showstar des Ferienheimes Roter Oktober auf Hiddensee gastiert, Angela Merkel, die 1989 verhaftet wird und sich später nach New York absetzt und Sahra Wagenknecht als Yogalehrerin, nachdem sie als Funktionärin abgestellt werden musste.

Ein Interview der beiden Autoren zum Buch findet sich übrigens hier:
http://www.zeit.de/2015/34/ddr-sed-oel-sozialismus

Fazit:
Sehr empfehlenswerte utopische Satire mit geschickt und witzig verpackter Kritik.

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Bewertung vom 18.12.2015
Hanoi Hospital
Frogier de Ponlevoy, David

Hanoi Hospital


ausgezeichnet

Hanoi als lärmende aufstrebende Hauptstadt in Südostasien, eine deutsche Studentin, die in Hanoi den vietnamesischen Teil der Familie besucht, eine junge, zielstrebige vietnamesische Redakteurin und ein armer Tagelöhner, der das Glück in Hanoi sucht, sind die Zutaten zum aufregenden Krimi von David Frogier de Ponlevoy " Hanoi Hospital".

In den Krankenhäusern der vietnamesischen Hauptstadt treten unerklärliche Todesfälle auf, die bei genauerem Hinsehen Parallelen aufweisen.
Persönlich betroffen sind die deutsche Wirtschaftsstudentin Anne, die in Hanoi durch ihren vietnamesischen Vater verwurzelt ist und die Redakteurin des Radiosenders VOV 5 und gleichzeitig Annes Cousine namens Linh. Die jungen Frauen beginnen, Nachforschungen anzustellen und stoßen auf viele Ungereimtheiten, Vertuschungen, Lügen und Schweigen.
Der Tagelöhner Tuân, der mit seiner Gefährtin Yen auf der Suche nach Glück und Geld nach Hanoi kam, ist ebenfalls involviert.

Als Leser verfolgt man die Geschichten der drei Hauptprotagonisten aus deren Sicht, die sich im Laufe der Handlung immer mehr miteinander verflechten, je näher die Lösung der seltsamen Todesfälle rückt. Eine zentrale Frage des Buches ist, was hinter der bröckelnden Fassade des Hanoi Hospital vertuscht werden soll...

Man erfährt neben dem Fortgang der Handlung und der schlüssigen und zufrieden stellenden Auflösung am Ende des Buches viel über das Großstadtleben in Hanoi und im Gegensatz dazu auch Passagen über das Leben auf dem Land inmitten der Reisfelder, über das vietnamesische Gesundheits- und Krankenhaussystem, über in Hanoi agierende ausländische Firmen und deren Vertreter, über Korruption und Behördenwillkür.
Das Buch ist so angelegt, dass die Protagonisten Anne, Linh und Tuân jeweils eine bestimmte Bevölkerungsgruppe verkörpern und damit verschiedene interessante Blickwinkel durch den Erzählerwechsel erlauben.

Die Deutsch-Vietnamesin Anne plagt sich mit Zweifeln zu ihrer Identität und sucht als Wanderin zwischen den Kulturen ihren wahren Platz entweder als Deutsche oder als Vietnamesin, Linh verkörpert die aufstrebende, wissbegierige Journalistin, die sich mit dem System nicht ungefragt zufrieden gibt und neue Wege beschreiten möchte und Tuân lebt als Tagelöhner am Rand der großstädtischen Gesellschaft in Armut und sehnt sich insgeheim nach seiner dörflichen Heimat.

Der Autor David Frogier de Ponlevoy hat selbst acht Jahre in Vietnam gelebt und gearbeitet und bringt sein Hintergrundwissen auf äußerst interessante Weise in das Buch ein. Das Setting wirkt auf mich sehr authentisch und natürlich mit vielen interessanten Aspekten des Lebens in diesem für mich unbekannten Land. Die Verknüpfung der landestypischer Informationen mit der Kriminalhandlung empfinde ich als sehr gelungen.
Am Ende des Buches findet man einen hilfreichen Anhang mit den handelnden Personen und ein Glossar mit einigen Erklärungen.

Fazit:
Mir hat das Buch hervorragend gefallen, sowohl die Krimihandlung als auch die Informationen zu Land und Leuten haben mit grandios unterhalten.