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wilde hummel 1
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 69 Bewertungen
Bewertung vom 08.08.2022
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Daniela Dröscher ist hier ein Blick in den inneren Zirkel einer Familie in den 80iger Jahren sehr präzise und empathisch gelungen. Ein Kind beschreibt aus seiner Perspektive die Ehe seiner Eltern. Der Vater kompensiert die eigenen Unsicherheiten und Unzulänglichkeit, indem er der Mutter die Schuld zuweist. Der Körper der Mutter wird zum Synonym des Versagens, weil der äußere Schein und die Anerkennung in einem Dorf im Hunsrück mittels materieller und körperlicher Präsenz erreicht werden soll. Der Mutterkörper ist der sichtbare Beweis, dass das Eheleben weder die Mutter, noch den Vater glücklich macht. Der Vater wirft der Mutter ganz offen vor, zu dick zu sein und das so nachhaltig, dass die Mutter auch kein unabhängiges Selbstbewusstsein entwickeln kann und sich der Gewichtsdiktatur des Vaters unterwirft. Das Kind versucht als erwachsene Tochter in den eingefügten Passagen (fast wie Tagebucheintragungen) die Hintergründe und die Lügen innerhalb des Familienverbundes psychologisch zu durchleuchten. Daniela Dröscher ist hier ein eindringliches Buch über eine Familie im Abhängigkeitsgeflecht gelungen, das mich noch lange zum Nachdenken angeregt hat. Wie wichtig ist heute die Effektivierung des eigenen Körpers, die sichtbare Form und die Abhängigkeit vom 'guten Aussehen'? Dicksein wird heute mehr denn je gedeutet als Unfähigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Körperfixierung und der Abhängigkeit von der Wahrnehmung anderer.

Bewertung vom 08.08.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


ausgezeichnet

Alex Capus ist unbestritten ein genialer Geschichtenerzähler. Diesmal nähert er sich der real existierenden Portraitmalerin Susanna Faesch, alias Caroline Weldon. Doch Alex Capus hat keine Autobiografie über diese Malerin geschrieben, sondern hat sich die Freiheit und die Fantasie erlaubt, Geschichte mit Geschichten zu spicken und daraus einen Bilderreigen einer rasanten Geschichtsepoche zu entwerfen. Susanna wandert als Kind mit ihrer Mutter, die aus einer langweiligen Ehe ausbricht, von Basel nach Amerika aus. Die Dampfmaschine und weitere bahnbrechende Erfindungen verändern in raschem Tempo das Leben der Menschen. In New York wird die Brooklyn Bridge gebaut und neue Propheten versprechen das Paradies. Daneben verlieren die indigenen Ureinwohner ihr Territorium und allzu oft ihr Leben. Susanne reist auf Drängen ihres Sohnes Christie zu Sitting Bull, den sie tatsächlich portraitiert hat. Hier liegt eine Schwäche des Romans, da die Hintergründe der Ausrottung und Verdrängung der indigenen Bevölkerung durch die Zuwanderung sehr knapp gestreift werden. Wer sich auf die Fantasie und den wunderbaren Sprachgebrauch von Alex Capus einlassen kann, wird das Buch am Stück verschlingen und üppige Geschichten innerhalb der Geschichte erfahren. Wie alle Capus Bücher ein Vergnügen.

Bewertung vom 03.08.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


gut

Der Roman von Elena Medel ist wohl in Spanien ein Erfolg. Ob es an der Übersetzung liegt oder an den zu hohen Vorschusslorbeeren - mich hat das Buch eher enttäuscht. Ein Bildungsroman müsste eine Weiterentwicklung, einen Bildungsprozess der Protagonistinnen beschreiben, doch die beiden Frauenleben plätschern so vor sich hin, unterscheiden sich nicht wesentlich von allen Lebensläufen der jeweiligen Zeitepoche. Die schicksalhafte Einbettung in den sozialen Status per Geburt und die geringen Chancen des Aufstiegs bei mangelnder Bildung gelten für Frauen und Männer gleichsam. Warum das Buch 'Die Wunder' heißt, bleibt auch rätselhaft, sind es doch eher die ausbleibenden Wunder, die das Leben der beiden Frauen fixieren. Je knapper der finanzielle background und je niedriger das erreichte Bildungsniveau sind, um so geringer sind die Möglichkeiten des Auswählens, der möglichen Entscheidungsoptionen und Selbstbestimmung. Zum Vorteil des Buches zählt, dass es die Mutterschaft als weichenstellendes Element gut beschreibt und durch beide Generationen laufen lässt. Der Roman springt oft zwischen den Zeiten und den beiden Frauen, so dass der Lesefluss immer wieder unterbrochen ist. Die beiden Frauenleben nebeneinander gestellt, zeigen, dass sich Alicia sich schon einen Zuwachs an persönlichen Freiheiten erarbeiten konnte. Insgesamt hat der Roman leider meine Erwartungen nicht erfüllt, aber er wird sicher seine Leserschaft finden.

Bewertung vom 03.08.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


sehr gut

Eine Frau auf einem Drahtseil balancierend - Absturz oder werden die Schritte hinüber in die Sicherheit glücken. Tamar Noort hat einen Roman über eine angehende Pastorin geschrieben, der plötzlich Gott verloren geht. Elke, die Hauptprotagonistin kann kein Gebet mehr sprechen, kein Bibelzitat erinnern und steckt wohl inmitten einer Glaubenssinnkrise. Nun ist Elke nicht gerade eine Sympathieträgerin, wirkt ich-bezogen, als wäre sie in einer Kindheitsschleife pubertär trotzig hängen geblieben und sie hat wenig Einfühlungsvermögen für ihre Mitmenschen, wie ihren freundliche Partner Jan oder ihren kranken Vater. Mit ihrer Ignoranz verursacht sie einen Unfall einer Steilwandfahrerin und zeigt hier wenig Reue. Der Schreibstil von Tamar Noort ist anfänglich ausgesprochen humorvoll und der flüssige Erzählstil retten über einige Ungereimtheiten und durcheinander gemixte Schauplätze hinweg. Der innerfamiliär nicht verarbeitete Tod des Bruders kann eigentlich nicht plötzlich eine Lebenskrise auslösen, die die Berufswahl der jungen Pastorin in Frage stellt. Überhaupt wünscht man Elke (und damit dem Roman) ein wenig mehr Tiefgang und Reflexion. Tröstlich, dass die Protagonistin letztendlich doch eine gewisse Läuterung und Entwicklung vollzieht.

Bewertung vom 07.07.2022
Violeta
Allende, Isabel

Violeta


ausgezeichnet

100 prall gefüllte Lebensjahre spannend erzählt
Und wieder ein typisches Allende-Werk. Spannend von Anfang an, prall gefüllt mit lebendig erzählter Lebensgeschichte einer Frau am Ende ihres Lebens. 100 Jahre Leben als Brief an den Enkel in Ich-Form, ein Bilderbuch an geschichtlichen und persönlichen Begebenheiten, ein Rückblick auf ein facettenreiches Frauenleben in Südamerika. Die Geschichte beginnt mit der Geburt Violetas 1920 in Chile, inmitten der Pandemie, bekannt als die spanische Grippe. Violeta ist ein Kind des Bürgertums in Chile, geliebt, aber auch verwöhnt. Das ändert sich mit dem englischen Kindermädchen Miss Taylor, die Violeta fördert, aber auch Grenzen setzt. Und schon kommen die nächsten Turbulenzen - die Weltwirtschaftskrise und der Verlust des Vermögens der Familie de Valles. Die Familie emigriert nach Argentinien in eine abgeschiedene, ländlich geprägte Gemeinschaft. Violeta wird erwachsen und ihre ersten Liebesabenteuer beginnen. Violeta, bzw. Isabel Allende erzählt in vier Abschnitten rückblickend dem Enkel Camilo ihre Lebensgeschichte, teils selbstkritisch, meist jedoch als bunter Reigen ereignisreicher Jahre. Der Roman nimmt, wie alle Bücher von Isabel Allende, den Lesenden mit einer ungeheuren Sogwirkung mit hinein in ein erzähltes Leben, parallel laufende Biografien und weltgeschichtliche Episoden. Ein typisches Allende-Buch, fesselnd während des Lesens, aber leicht verdaulich im Nachgang.

Bewertung vom 13.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


sehr gut

Das sehr schön gestaltete Buchcover - zwei sich überlagernde Frauenköpfe in den Farben des Meeres - passt sehr gut zum neuen Roman von Karin Kalisa. Nach ihrem erfolgreichen Roman Sungs Laden sind die Erwartungen natürlich hoch. In Fischers Frau wird an die tatsächliche Geschichte der Fischerteppiche (der Pommerschen Ostseeperser) angeknüpft. Aber nicht nur angeknüpft, sondern Geschichten hineingewoben, an Fäden gezogen und Knoten gelöst und neu eingefädelt. Die Protagonistin Mia Sund ist Faserarchäologin und ihr wird ein 100 Jahre alte Teppich auf den Tisch gelegt, ein Fischerteppich, grün und vielleicht gefälscht. Sie beginnt die Suche, das Forschen nach der Wahrscheinlichkeit und den Geschichten hinter der Geschichte. Und hier beginnt die Geschichte immer facettenreicher zu werden, wo kommt der Teppich her, wer hat den Fischern die Knoten gelehrt und wer ist die Frau, die den grünen Teppich so reich bebildert hat. Die Geschichte springt über Raum und Zeit und wird zu einem Flickenteppich vieler kleiner Geschichten, manchmal verwirrend, letztendlich doch ein fulminanter erzählter Wandteppich, geschickt ineinander verwoben. Ob gefälschte Wahrheiten oder echte Fäden geknüpft sind, wird unwichtig. Für den Roman sollte man sich Zeit nehmen, ihn langsam lesen und sich einfach mitnehmen lassen in alle Erzählstränge.

Bewertung vom 14.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Delphine de Vigan hat in ihrem aktuellen Roman 'Die Kinder sind Könige' erneut ein sozialkritisches Thema in den Fokus genommen. Eine Familie, vor allem die Mutter Mélanie Diore, veröffentlicht in den sozialen Medien ihre beiden Kinder Kimmy und Sammy in kleinen Szenen - scheinbar spontan aufgenommene private Bilder, die jedoch geschickt in Pose gesetzte Inszenierungen sind. Influencer und ihre Follower in einer virtuellen Welt, die neben enormem Geld- und Warenzufluss auch Berühmtheit und Liebe vorgaukelt. Suchtartig kann die Mutter nicht mehr auf ihre virtuelle Community verzichten und filmt und teilt und katapultiert ihre Familie in eine Parallelwelt. Und dann verschwindet die 6-jährige Kimmy plötzlich und Clara, eine Kriminologin beginnt mit der Suche. Delphine de Vigan beschreibt jede Person empathisch, ohne Schuldzuweisung oder einfachen Erklärungen. Teilweise liest sich der Roman wie ein Krimi durch die eingeschobenen Protokolle; ist jedenfalls von der ersten Seite an spannungsreich aufgebaut. Seit den frühen Realityshows, seit Big Brother haben Kinder heute oft schon vor der Geburt eine digitale Persönlichkeit (gepostete Ultraschallbilder während der Schwangerschaft). Im letzten Teil des Romans springt die Geschichte in das Jahr 2031 und beschreibt die psychischen Folgen einer permanenten Exposition der Kinder und eine dystopische Zukunft. Mich hat das Buch sehr nachdenklich gemacht und sensibler für die Grenzen zwischen privater Intimität und öffentlicher Showrooms.

Bewertung vom 17.02.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


gut

Das Buchcover zeigt das Portrait einer ernsten, distanziert blickenden Frau. Das Bild passt auch perfekt zu der Hauptprotagonistin in Julia Schochs neuem Roman. Wobei der Roman eher eine Aneinanderreihung von Gedanken der Ich-Erzählerin ist und als Autofiktion wie ein Tagebuch zu lesen ist. Das Vorkommnis ist das Auftauchen einer Halbschwester bei einer Lesung. Das ist die Aktion und die Erzählerin begibt sich in ihre innere Gedankenwelt, misstraut zunehmend der Wahrheit über die eigene Geschichte und der Ehrlichkeit von Familienvätern (auch des eigenen Gatten). Die Auseinandersetzung bleibt jedoch im Kopf der Protagonistin, die sich nicht real und wirklich auf ihre Mitmenschen einlässt. Schade, denn dem Buch fehlt somit der wichtige Teil, wenn Fiktionen sich in Aktionen auflösen, korrigieren und weitere Sichtweisen und Interpretationen einfließen. Beispielsweise weiß die Ich-Erzählerin von der schweren Erkrankung des Vaters, nimmt jedoch keinen Kontakt auf und belässt es der zweiten Schwester, sich zu kümmern. Auch mit dieser macht sie keinen Versuch, deren Distanziertheit zu ihr zu hinterfragen und eine Veränderung zu initiieren. Das Thema Halbschwester, Adoption, Familienkonstellation wäre ausreichend Stoff für eine vielschichtigen Familienroman. So bleibt die Biografie als Gedankenspiel irgendwie im Kopf der Erzählerin gefangen, literarisch durchaus lesenswert, mich hat sie eher gelangweilt und keinen Nachhall hinterlassen.