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Morten
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 76 Bewertungen
Bewertung vom 25.05.2022
Fußball / Wieso? Weshalb? Warum? - Erstleser Bd.7
Noa, Sandra

Fußball / Wieso? Weshalb? Warum? - Erstleser Bd.7


sehr gut

Ausgerechnet heute. Tag 1 nach dem Wiederaufstieg in die Zweite Liga und dieses Buch liegt im Briefkasten. Wieso, weshalb, warum Fußball? Eine Frage, die mir schon häufiger gestellt wurde, von Freunden, der Frau, ja, auch von mir selbst. Und bestimmt auch irgendwann: von der Tochter, die noch glücklich und zufrieden mit der Soundfahne wedelt und das Betze-Lied mitsingt. Ja, vielleicht ist heute, ausgerechnet heute, der richtige Tag für dieses Buch.

Im neuesten Band der Ravensburger Reihe wird erst einmal erklärt, warum Fußball so beliebt ist, wofür die Linien und Punkte auf dem Spielfeld stehen, welcher Spieler welche Position hat und welche Regeln für die 22 Menschen auf dem Feld gelten. Direkt fällt auf: Es sind nicht nur Jungs und Männer die spielen. Endlich. Das Buch ist auf Höhe der Zeit, richtet sich an Jungen und Mädchen gleichermaßen. Einziges Manko, wenn darauf angelegt: Es wird nicht gegendert. Aber gut.

Auch über Schiedsrichter:innen wird gesprochen, selbst über den bei Fans wie Profis beliebten VAR, und dann, fast ein bisschen spät, aber immerhin, auch über die Geschichte und Entwicklung des Sports, bevor die große Frage im Raum steht: Wie werde ich ein Superkicker? Trainingsmethoden und Schusstechniken werden erklärt, der Alltag von Profi-Fußballer:innen, die wichtigsten Wettbewerbe und natürlich auch die Fans.

Zwischendurch wird mit kleinen charmanten Quiz-Fragen das zuvor Gelesene und Gelernte abgefragt, eigentlich eine ganz gute Methode, die Erstleser:innen schon einmal auf den Schulalltag vorzubereiten, eine Doppelseite lädt zum Stickern ein und ein kleines Leselotto ist auch Teil des Buchs.

Offen nur, wie viele Kinder die richtige Antwort auf die Frage „Deutscher Meister wird …“ finden und nach zehn Jahren Bundesliga-Langeweile doch zur Möglichkeit „immer FC Bayern München“ tendieren. Aber vielleicht wird es da einfach Zeit für den nächsten Aufstieg des 1. FC Kaiserslauterns. Schließlich wurden sie so 1998 als erster und einziger Aufsteiger direkt Deutscher Meister. Womit auch die Frage geklärt wäre, welcher Verein eigentlich der beste ist. Olé olé, olé ola, das Buch hier ist schon recht wunderbar. Und Fußball immer noch wichtig. Schön, wenn er so divers und zeitgemäß erklärt wird, wie in diesem Buch von Ravensburger. Danke dafür!

Bewertung vom 23.05.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


gut

Kennt ihr das Gefühl, das so im September langsam angeschlichen kommt, wenn die ersten Herbsttage morgens und abends spürbar sind? Dieses Gefühl, dass der Sommer sich langsam verabschiedet – und nicht das gehalten hat, was er noch im Mai, Juni versprochen hat? Weniger Sonne, weniger Tage im Wasser, weniger bleibende Erlebnisse? Irgendwie schon schön, aber nicht legendär? Das Gefühl hatte ich auf den letzten Seiten von Schallplattensommer. Schade eigentlich.

Maserati lebt bei ihrer Oma und schmeißt mal mit ihr, mal alleine, Omas Imbiss, das einzige Restaurant im kleinen Nest irgendwo auf dem Land, zwischen Seen, Kirsch- und Apfelbäumen. Sie geht nicht mehr zur Schule, geht nicht ins Internet, hat noch ein altes Klapphandy und ist auch sonst nicht der ganz typische Teenager. Am liebsten hat sie ihre Ruhe – bis Casper und Theo auftauchen.

Schallplattensommer ist eine Coming-of-Age-Sommergeschichte und eigentlich bin ich recht anfällig dafür. Der große Sommer, Hard Land, Man vergisst nicht wie man schwimmt – alle auf meiner Favoritenliste. Gefühlvolle, nostalgisch-angekitschte Geschichten, aber auch komplett für Erwachsene geschrieben, was vermutlich am Ende den Unterschied macht, denn Schallplattensommer ist mehr Teenie-Roman, richtet sich mehr an die junge Zielgruppe, die manche Aussagen und Wendungen eher nachvollziehen kann als jemand, der in den 90ern groß geworden ist.

Dabei ist das Buch überhaupt nicht schlecht. Maseratis Lebensgeschichte bleibt angenehm vage, sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft. Es gibt spannende, komplexe Figuren und manche, die nur am Rande auftauchen, aber dennoch eine besondere Präsenz haben. Es gibt kleine Dramen und schöne Momente. Stellenweise etwas Teenie-Kitsch. Aber so der richtige Funke, der den Sommer in Schwung bringt, die Arschbombe in den See bei Nacht quasi, das fünfte Kaktuseis am Nachmittag, den Sommerhit, den alle mitgröhlen, der fehlt.

Und so ist Schallplattensommer eher so ein kleines Sommerhoch im Frühjahr oder Herbst, eine nette, durchaus charmante Lektüre, aber dann doch eher nur so ein Sommer wie 2009, der auch 2008 oder 2010 hätte sein können, ohne richtige Präsenz im Nachklang. Und das ist, noch einmal, schade eigentlich.

Bewertung vom 05.05.2022
Das Leben eines Anderen
Hirano, Keiichir_

Das Leben eines Anderen


ausgezeichnet

„Er spielte nicht bewusst etwas vor, vielmehr hatte er das Gefühl, als würde er, je länger er sprach, mit dem, was er sagte, verschmelzen.“

Ein Mann ist gestorben. Ehemann, Vater, Bruder, Sohn. Doch nur die Hälfte davon ist wahr. Als seine Witwe ein Jahr nach dem Unfalltod die Familie des Verstorbenen kontaktiert, wird schnell klar, dass er nicht Taniguchi Daisuke war. Aber wer war er? Und wie kam er an Taniguchis Identität?

Keiichiro Hiranos Roman „Das Leben eines Anderen“ lebt von seiner Authentizität. Identitätstausch ist hier keine Science-Fiction, kein Face/Off mit John Travolta und Nicolas Cage, sondern ein reales System, bei dem die in Japan gängigen Familienregister und Lebensgeschichten getauscht werden. Ein System, dem Anwalt Akira Kido auf die Spur kommt, als er von Rie, der Witwe des nun namenlosen Gatten, beauftragt wird, die Herkunft ihres Mannes aufzudecken.

Der Klappentext führt dabei ein kleines bisschen in die Irre. Dass Kido selbst in die Rolle Taniguchis schlüpft, dessen Lebensgeschichte übernimmt, „um seinem eigenen Schicksal zu entgehen“, ist etwas hochgegriffen. Im Prolog, der streng genommen eher ein vorgegriffener Epilog ist, was im letzten Kapitel mit Kido deutlich wird, sowie auf einer Geschäftsreise in einer Bar, wechselt Kido seine Identität, gibt sich für jemanden aus, der er nicht ist. Dabei spielt seine scheiternde Ehe und der Alltagsrassismus, dem er als Zainichi – als koreanischstämmiger Japaner – ausgesetzt ist, eine Rolle. Aber er möchte auch mehr herausfinden über die Person, die mit seiner Klientin verheiratet war, und seine Beweggründe, die Identität eines Fremden anzunehmen.

„Das Leben eines Anderen“ ist ein Buch der behutsamen Zwischentöne. Hirano zeichnet wundervolle Figuren, die den Leser:innen mit einer häufig leisen, bewegenden (Vor-)Geschichte begegnen. Der Pfad zur wahren Identität des Verstorbenen ist ein gewundener, der ganz langsam beschritten wird, was dem Roman – neben Einblicken in die japanische Gesellschaft, ihre Bürokratie und den auch hier vorhandenen täglichen Rassismus – eine besondere Tiefe gibt und Hirano zu einem der spannendsten modernen Literaten Japans.

Bewertung vom 25.04.2022
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


sehr gut

Is this the real life? Is it just fantasy?

Eine Frau wandelt durch New York. Weg von ihrer Wohnung, weg von ihrer Ehe, weg von ihrem Leben. Sie sieht Menschen, trifft Menschen, berührt Menschen, die ihr Geschichten erzählen, die ihr etwas geben, die ihr etwas nehmen, bis sie selbst wieder nach Hause findet, zu sich findet.

Jennifer Clements „Auf der Zunge“ ist ein reizvolles Buch. Ein poetisches Werk mit kurzen (Ab-) Sätzen, mit flackernden Momentaufnahmen, mit Beobachtungen dieser niemals schlafenden Stadt und ihrer bunten Mischung aus Menschen, die tagein, tagaus in ihr leben, arbeiten, flanieren.

Kein Roman, kein Gedicht, irgendetwas dazwischen, ganz einfach zu lesen und doch unglaublich komplex und vielschichtig, mit interessanten, verrückten Figuren, die gleichzeitig, wie es zu New York passt, komplett anonym bleiben, selbst die Hauptfigur, über die Leser:innen lediglich ihr Familienleben, ihren Beruf, ihr ungefähres Alter erfahren.

Nicht alle Episoden sind charmant, interessant, freundlich, manche sind gar etwas öde, andere beängstigend, aber „Auf der Zunge“ ist ein unglaublich fesselnder Spaziergang durch Manhattan, der nie klar real, nie klar ein Traum ist, der einen unglaublichen Interpretationsspielraum bietet und dabei doch ein durchaus passendes Bild von New York zeichnet.

Der fast schon surreale Erzählstil, der Aufbau, das alles wird anecken und kontrovers diskutiert werden, aber das macht Clements Werk zu einer der interessantesten Neuveröffentlichungen des Jahres. Not just another New York Story, obwohl dann irgendwie doch, denn die Figuren, die Orte, die Stadt, sie wirken vollkommen vertraut. Und genau das hat New York ja auch gemeinsam mit diesen Träumen, bei denen man nie weiß, ist das jetzt das echte Leben – oder passiert das alles doch nur in meinem Kopf?

Bewertung vom 13.04.2022
Ich lese!
Cassinelli, Attilio

Ich lese!


sehr gut

Lesen ist ein großartiges Hobby. Bei Sonne und Regen. Zuhause und im Park. Morgens und abends. Und das schon das ganze Leben. Schön, wenn so ein Hobby weitergegeben werden kann. Und noch schöner, wenn es auf so wundervolle Weise illustriert wird, wie in Attilio Cassinellis „Ich lese“.

Auf strahlend weißen Seiten lesen knallbunte Tiere. Eine Katze bei Mondschein im Bett. Ein Hase auf Urlaub im Meer. Ein Eichhörnchen ganz ungestört im Baum. Aber auch zusammen, laut und vorlesen ist auf den insgesamt 56 Doppelseiten zu sehen und zu, ja, lesen.

Die kurzen Sätze sind hier zwar nur Beschreibungen der Bilder, die keine Geschichte erzählen, aber dafür gleich die vielen Bedeutungen und Arten des Lesens nennen und so den Wortschatz der sehr jungen Zielgruppe erweitern.

Das Buch ist offiziell ohne Altersempfehlung, quasi ab 0 Jahren, und vermutlich am besten für Kinder zwischen anderthalb und zweieinhalb Jahren geeignet, wenn es um das reine Vorlesen geht. Die Illustrationen dagegen regen auch ältere Kinder an, selbst zu malen oder sich kleine Geschichten zu überlegen, was genau die Tierchen dort lesen und machen.

Ein Kompliment geht auch an den Insel-Verlag: Das Buch hat eine sehr angenehme Haptik, die Seiten sind in der richtigen Stärke und die Druckqualität ist im Vergleich zu vielen anderen Kinderbüchern sehr hoch. Das macht „Ich lese“ zu einem Buch, das nicht nur Spaß macht, zu lesen und anzusehen, sondern auch zu einem tollen Geschenk für junge Familien, die eines besonders gerne tun: für immer lesen.

Bewertung vom 11.04.2022
Gretas Erbe / Die Winzerin Bd.1
Engel, Nora

Gretas Erbe / Die Winzerin Bd.1


schlecht

Eine Geschichte über die Pfalz, das sonnengeküsste Land in Deutschlands Südwesten, Heimat des wundervollsten Fußballvereins der Welt. Eine Geschichte über eine junge Frau, die Teil der noch jungen feministischen Bewegung wird, gegen den Willen ihrer Ziehfamilie, gegen den Mief der frühen 1970er-Jahre. Und natürlich eine Geschichte über den Weinbau, das Leben als Winzer:in in einer der besten Weinregionen dieser Welt. Es hätte so schön sein können. Hätte.

„Gretas Erbe“, der Auftakt der „Die Winzerin“-Trilogie von Nora Engel ist ein unfassbar ärgerliches Buch. Es ist eine papiergewordene Telenovela, eine Schmonzette sondergleichen. Als hätten ein Saarländer und ein Mannheimer beschlossen, der Pfalz den literarischen Todesstoß zu geben. Und das Schlimmste: Es ist von den Autorinnen – Nora Engel ist das Pseudonym von Danela Pietrek und Tania Krätschmar – nicht einmal beabsichtigt.

Fast alle Figuren außer Greta sind tumb bis unsympathisch angelegt, um den großen Unterschied zur Hauptfigur zu schaffen. Ihr „Bruder“ Robert, die unvermeidliche Love Interest, ist eine Blaupause des Helden in Teenie-Romanzen und Groschenromanen. Lediglich ihre Lehrerin, die nur eine kleine, aber nicht unbedeutende Rolle spielt, sowie die von ihrer Ziehfamilie verhassten Winzernachbarn bestärken Greta in ihren Schritten, bleiben dabei aber völlig blass und unausgegoren.

Eine völlig vorhersehbare Geschichte wird auf 400 - immerhin relativ flüssig zu lesende - Seiten ausgerollt, es gibt keinerlei Überraschungen, nicht einmal am Ende, das lediglich Leute zu einem leisen „Huch!“ hinreißen lässt, die im Leben nicht mehr als vier Bücher gelesen haben und „Rote Rosen“ für eine authentische, geistreiche TV-Serie halten. Die Dialoge sind platt und unglaubwürdig, Greta werden Sätze in Kopf und Mund gelegt, die eine junge Frau zwischen 16 und 19 niemals sagen und denken würde, auch nicht in den frühen 1970er-Jahren.

Zwei, drei Zeilen in Mundart, ein bisschen Weinfest-Folklore, ein abgeschriebenes Weinbau-101-Glossar machen noch keinen Heimatroman über die Weinregion Pfalz, ein paar Zeitgeist-Referenzen über Alice Schwarzer, Schwangerschaftsabbrüche und Bildungsaufbruch noch keine Reise in den frühen deutschen Feminismus. Alles ist total bemüht, konstruiert, platt – und in erster Linie: verdammt schade.

Die Autorinnen verschenken hier völlig das Potenzial für eine spannende, interessante Geschichte über das Erwachsenwerden, über das Ende des Patriacharts, über die Modernisierung der Gesellschaft im ländlichen Raum. Dass diese Geschichte über zwei weitere Bücher gestreckt wird, weckt gleichzeitig Hoffnung und Unbehagen. Hoffnung, dass es irgendwie doch noch besser wird. Unbehagen, dass „Die Winzerin“ am Ende wirklich als platte Telenovela verfilmt wird und die Pfalz nicht als die freundliche, weinverrückte Region dargestellt wird, die sie ist, sondern als das dümmlich-rückständige Klischee, das viele von ihr haben. Zum Unwohl. Die Pfalz.

Bewertung vom 07.04.2022
Leo und Dora
Krup, Agnes

Leo und Dora


sehr gut

Wie wohltuend ein Buch sein kann, in dem gar nicht mal so viel passieren sein, während Krieg und Pandemie die Welt da draußen fest im Griff haben. Dabei ist „Leo und Dora“ zeitlich gar nicht mal so unpassend eingeordnet.

Es ist das Jahr 1948. Der Zweite Weltkrieg ist rum, aber in Palästina ist es immer noch unruhig. Einer der Gründe, warum Leo auf dem Weg in die USA ist, auf Einladung seiner alten Freunde Alma und Hugo, in deren Sommerhaus in Connecticut er endlich sein neues Buch schreiben will. Oder soll.

Seit Jahren hat er nichts veröffentlich, der Krieg kam dazwischen, der Geschmack der Leser:innen änderte sich und überhaupt ist Leo innerlich ausgebrannt. Ähnlich wie Almas und Hugos Haus, als Leo endlich ankommt. Stattdessen wird er in ein kleines Provinzhotel einquartiert, zwischen Frauen und Kindern, deren Männer unter der Woche in New York arbeiten, an den Esstisch gesetzt, wo die schwäbische Köchin Frau Kniffel für Leo ungenießbare Speisen auftischt. Und das Miss Dora gehört – die für dem knorrig-knurrigen Leo nach und nach das Gefühl gibt, doch am richtigen Ort gelandet zu sein.

Agnes Krups Geschichte ist wenig überraschend, aber sie ist charmant und humorvoll, voller Anekdoten über die Literaturgeschichte und Eigenheiten der Bewohner an der Grenze zwischen New York und Connecticut, der Region, in der sie selbst lebt, wenn auch Jahrzehnte später. Ihre Figuren erinnern an die liebenswerte Schrulligkeit der Bewohner von Stars Hollow in Gilmore Girls und ähnlich undramatisch geht es in ihrem Buch auch vor.

Der Krieg ist vorbei, Menschen sind gestorben, ein Kind wurde mindestens ohne Einverständnis gezeugt, aber über allem liegt der Schleier der Vergangenheit, eine Mischung aus Verklärung und Akzeptanz. Einzig ein Dammbruch sorgt für eine kurze Aufregung, aber Schaden nehmen auch hier nur die Segelboote. Und die Pläne von Leo, so schnell wie möglich, zurück nach Tel Aviv zu kehren, aber dafür gibt es einzig und allein einen Grund: Dora.

Eine süße, unaufgeregte Liebesgeschichte zweier gar nicht mehr so junger Menschen in den Irrungen und Wirrungen ihrer Zeit ist vielleicht genau das richtige für diese Monate, bis vielleicht selbst einmal Koffer zur Landfrische gepackt werden, in der Eifel, in den Bergen oder doch in Sharon, Connecticut.

Bewertung vom 28.03.2022
Für diesen Sommer
Klönne, Gisa

Für diesen Sommer


sehr gut

Wie viele Geschichten passen eigentlich in ein Leben? Oder zumindest in ein Buch von rund 450 Seiten? In Gisa Klönnes „Für diesen Sommer“ sind es viele: Vater-Tochter-Entfremdung, Geschwisterstreit, Weltkriegsdrama, Umweltbewegung, Kindstod, Depressionen, Suizid, ein bisschen natürlich auch die Liebe. Und zwischen den Zeilen sicher noch ein paar mehr.

Zissy steht vor der Tür ihres Elternhauses, das sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr betreten hat. Ihr Vater und ihre Schwester Monika legten keinen Wert darauf, nachdem sie wenige Stunden zu spät im Krankenhaus eingetroffen war, um sich noch verabschieden zu können, eigentlich eh schon längst nicht mehr da war, aus vielen Gründen, die sie aber eigentlich auch gar nicht so sehr interessieren. Aber jetzt wird sie gebraucht.

Ihr Vater kann den Alltag nicht mehr gut alleine absolvieren, hat die von Monika geplante Kur abgesagt, verweigert den Umbau des Hauses in ein altersgerechtes Domizil, sitzt lieber zuhause und zeichnet Ameisenbären. Zu viel für Monika, die mit Burnout in eine Klinik muss, nachdem ihr Mann Zissy um Hilfe gebeten hat. Eine Klinik, mit der Zissy und „Moka“ mehr verbindet, als sie ahnen.

Gisa Klönne schreibt mal aus der Sicht von Zissy, mal aus der Gedankenwelt des Vaters. Springt immer wieder zwischen dem Zweiten Weltkrieg und heute, der frühen Kindheit der Töchter bis zur Jugendbewegung der 80er-Jahre. Für die Leser:innen ein bisschen fordernd, aber der Geschichte der Familie durchaus angemessen, die Konzentration darf sich nicht einmal einen kurzen Moment ausruhen, ansonsten droht mindestens eine hochgradige Verwirrung und nervöses Zurückblättern.

„Für diesen Sommer“ ist ein langsames, ein leises, ein melancholisches, stellenweise etwas zu pathetisches, aber auch immer wieder hoffnungsvolles Buch. Ein Gespräch mit der Nachbarin, ein Ausflug zum See, ein kurzer Spaziergang ohne Rollstuhl lassen die Entfremdung schwinden, das Geschwisterverhältnis versöhnlicher werden.

Ein Buch, eine Familiengeschichte wie eine Zwiebel, unglaublich vielschichtig, kaum ein Auge trocken lassend, mit wunderlichen und liebevollen, aber auch tieftraurigen Episoden, das keine Generation auslässt – und so vielleicht Leser:innen dazu bewegt, sich nach jahrzehntelangem Stillstand zu bewegen, mit der eigenen Familie auszusprechen und zu versöhnen.

Bewertung vom 14.03.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


gut

"Die Musik fühlte sich für mich wie ein alter Pulli an, der bequem saß, an den richtigen Stellen ausgeleiert war."

Ein schönes Bild. Das eine Lied, der eine Hoodie, beide ein safe space in den eigenen vier Wänden, wenn das Leben, die Welt wieder einmal unbarmherzig auf einen hinein prasselt, wie ein Hagelschauer im März – den Frühling im Blick und doch noch einmal verwehrt.

Wie passend, dass „Unser wirkliches Leben“ weit entfernt vom Frühling im Londoner Herbst beginnt. Und auch emotional steht Anna vor einem Winter. Sie studiert Operngesang, irgendwie reingerutscht zwischen lauter Student:innen, die seit Jahren nichts anderes machen, im Gegensatz zu ihr, der unerfahrenen Erstsemesterin, die nur bei lokalen Aufführungen gesungen und sich auf gut Glück und ohne ernsthafte Hoffnung beworben hatte, bevor sie tatsächlich genommen wurde.

Um über die Runden zu kommen, lebt sie mit ihrer neuen besten Freundin Laurie zur günstigen Untermiete bei einem völlig verrückten, dominanten Ehepaar, das irre Regeln aufstellt, bevor sie die beiden zu Neujahr vor die Tür setzt. Und singt sie Jazz in einer Hotelbar, in der Laurie arbeitet und in der sie von Max angesprochen wird. Max, der Annas Winter beherrschen will.

Sie trifft sich mit ihm zum Abendessen, dann noch mal, irgendwann wird eine Affäre daraus, mit ihm, den noch verheirateten Bänker, der sich immer mal wieder meldet. Und immer wieder Annas Handeln kommentiert, mal subtil, mal mit der Brechstange. Der sie überredet, das Jazzsingen aufzugeben und ihr stattdessen das Geld gibt, das ihr so durch die Lappen geht. Ihr eine neue Wohnung besorgt. Und in ihr Zweifel sät, ob die Zukunft in der Opernwelt das richtige für Anna ist.

Imogen Crimp ist ein latent perfider Gesellschaftsroman gelungen, der nie ganz klar macht, welche Rollen in dieser Londoner Bank- und Opernwelt aufgeführt werden. Ist es eine toxische Beziehung, in der Max Anna immer mehr seinen Stempel aufdrückt, sie aus ihrem geschätzten Umfeld zieht, ihre Freunde für deren Lebensstil kritisiert und sich manchmal für Tage oder Wochen zurückzieht – zu seiner Frau aufs Land oder in andere Betten Englands? Oder ist das nur der von Laurie eingeflüsterte Eindruck, der sich in Anna mehr und mehr verhärtet und genau dann wieder aufweicht, wenn Max beim nächsten Treffen so ganz anders agiert und reagiert wie zuletzt.

Ist es die Stärke oder die Schwäche von „Unser wirkliches Leben“, dass dieses Spannungsfeld nie richtig aufgelöst wird? Diese Entscheidung, müssen die Leser:innen entscheiden. Am schönsten aber ist Crimps Debütroman, wenn Anna alleine ist. Auf der Bühne. An der Uni. Beim Opern-Workshop in Frankreich. Da fühlt sich auch dieses Buch wie der zitierte ausgeleierte Pulli an – gemütlich, freundlich, wie ein Zuhause. Ein echter safe space eben.

Bewertung vom 25.02.2022
Man vergisst nicht, wie man schwimmt
Huber, Christian

Man vergisst nicht, wie man schwimmt


ausgezeichnet

„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“

Wie viele Leute haben wir in unserem Leben getroffen und wieder aus den Augen verloren, mal schnell, mal schleichend? Kurze Festivalbekanntschaften, die Leute aus der Parallelklasse. Das Mädchen von der Kinokasse, der ältere Herr aus Zimmer 102 während des Zivildiensts. Der beste Freund aus Jugendtagen, die erste große Liebe. Wie viele Geschichten wurden nie zu Ende erzählt?

Es ist der 31. August 1999. Der letzte Tag des Sommers. Der letzte Sommer des Millenniums. Vielleicht der letzte Sommer überhaupt, wenn wahr ist, was Esoteriker und Verschwörungswissenschaftler schwurbeln. Krüger ist das egal. Er ist froh, wenn der Sommer vorbei ist. Dieser eine Tag muss noch geschafft werden. Doch der läuft so ganz anders als gedacht. So anders, dass er noch Jahrzehnte später tief in seinem Kopf eingebrannt ist.

Nur kurz seinem Kumpel Viktor helfen, die Zeitung auszutragen, dann im Müller das neue Tony Hawk zocken, dann mal sehen. Das ist der Plan. Doch schnell wird Krüger auf den Boden der Tatsachen geholt. Oder besser: über den Haufen gerannt und zu Boden gerissen, von einem rothaarigen Mädchen, das mit einem neuen Nokia 3210 in der Hand auf der Flucht vor dem Nazi-Chef der örtlichen Müller-Filiale ist. Und die sich direkt auch noch Krügers Eastpak schnappt, in dem sein größter Schatz steckt. Sein Notizbuch. Sein Geheimnis. Seine Vergangenheit. Sein Grund, warum er den Sommer so hasst.

„Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ ist einer dieser Romane über die Sommer der Jugend, die wie geschrieben sind für die Thirty- oder Fourty-somethings. Bei denen die eigene Coming-of-Age-Zeit irgendwo zwischen den Zeilen aufflackert. Der legitime Nachfolger von Ewald Arenz‘ „Der große Sommer“ oder Benedict Wells‘ „Hard Land“. Nur eben: späte 90er statt 80er.

Endlich, denken alle, die zu dieser Zeit in der Pubertät, der Führerscheinprüfung oder der Abi-Zeit steckten. Als das Internet noch nicht wirklich existierte, Snake die einzige App war, die wir brauchten (und hatten), wenn wir überhaupt schon ein Handy besaßen. Als Eastpaks unsere Schuluniform waren, die Red Hot Chili Peppers über Californication sangen und Freundeskreis über A-N-N-A. Auch so eine nicht zu Ende erzählte Geschichte. Bus weg, Regen fällt, was bleibt?

Doch die Geschichte von Krüger fängt gerade an und endet erst 400 Seiten später am nächsten Morgen, so wie einer dieser perfekten Filme aus genau dieser Zeit: „Go“ mit dem komischen deutschen Zusatz „Das Leben beginnt erst um 3 Uhr morgens“ oder „11:14“ oder natürlich „Schule“, diesem fantastischen Film über eine Clique, die ihr Abi feiert im unausgesprochenen Wissen, bald auseinander zu brechen, die gemeinsame Geschichte zu beenden, um neue zu schreiben.

Gemeinsam mit Viktor macht sich Krüger auf die Suche nach dem Mädchen mit dem Nokia und seinem Eastpak und findet sie im Zirkus, der morgen schon weiterreisen wird. Sie lädt ihn ein zur letzten Vorstellung im fränkischen Kaff Bodenstein, bevor sie gemeinsam in den Abend ziehen, auf die Suche nach der Hanfplantage der örtlichen Dealer, auf die große Hausparty der neureichen Zwillinge, deren Eltern übers Wochenende verreist sind, zur Enthüllung von Krügers Geheimnis. Und zu einem Ende, das alles verändern wird – das Leben, die Freundschaft, die Liebe.

Christian Huber hat einen Roman geschrieben, der einen fantastischen, dramatischen, aber niemals kitschigen Sog entwickelt, der Leser:innen mit in den Rausch dieses letzten Sommertages 1999 nimmt und erst am nächsten Morgen ausspuckt, völlig geschafft, völlig überwältigt, voller 90s-Flashbacks. Oder wie es die Figur Jacky wundervoll in Worte fasst:

„Ein Tag wie ein Leben. Und so viele Tage liegen noch vor uns. So viel Leben.“