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Benutzername: 
meany
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Seligenstadt

Bewertungen

Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 29.10.2023
Der war's
Zeh, Juli;Hoven, Elisa

Der war's


sehr gut

Auf frischer Tat ertappt

Die erfolgreiche und vielseitige Autorin Juli Zeh hat hier einen spannenden Kinderkrimi mit einem juristischen Lehrstück vereint.

Wer klaut denn Pausenbrote? Das schien mir schon ein bisschen weit hergeholt, aber mit ihrer schriftstellerischen Fantasie fügt sie den Fall so in den Schulalltag ein, dass Kinder das mit Vergnügen lesen können: die Lehrertypen, denen wir alle schon einmal begegnet sind, und die Normalverteilung an Charakteren in jeder Klasse, denen sie aber doch ihre jeweilige Individualität zuschreibt. Der darin verborgene Humor erheitert auch Erwachsene, und an Stelle sensationsheischender Querelen, die sich auf den heute leider üblichen Austausch in sozialen Netzwerken beschränken und dann durchaus noch in einer kleinen Schlägerei eskalieren, lässt sie die jungen Protagonisten (nicht von Pädagogen veranlasst, sondern aus eigenem Antrieb!) vernünftiger agieren als gemeinhin die gereiften Persönlichkeiten.

Wer sich am Ende für die Hintergründe interessiert, mag noch den Anhang studieren, in dem sie kindgerecht den Ablauf eines juristischen Verfahrens erläutert, meines Erachtens geeignetes Material für den Schulunterricht.

Lena Hesses witzige Bilder, teilweise großformatig, tragen erheblich zur Attraktivität des Bands bei.

Ich empfehle dieses Buch deshalb nicht als atemberaubenden Pageturner, aber auch nicht als eine dröge Unterweisung, sondern als eine geglückte Mischung aus beidem.

Bewertung vom 27.10.2023
Mattanza
Fabiano, Germana

Mattanza


sehr gut

Niemand hat mich je gefragt

Die junge Frau auf dem Titelbild blickt die Betrachter sowohl verschlossen als auch entschlossen an. Sie ist das Abbild von Nora, der auf der Insel Katria das schwere Los des ersten weiblichen Raìs in die Wiege gelegt wurde mit dem Auftrag, die alljährliche Thunfischjagd zu leiten, seit vielen Generationen die Existenzgrundlage der Insel.

In melancholischem Tonfall schildert Fabiano, wie Nora ihre Aufgabe stoisch und mit unbeirrbarer Disziplin annimmt, die alte Tradition mit ihren festgelegten Ritualen fortführt und sich im Laufe der Jahre durch Erfolge Anerkennung erwirbt. Im Auf und Ab der Fischerei manifestiert sich der Wandel der Zeiten. Die einstmals autarke Insel überfluten zunächst Touristen, dann die Bootflüchtlinge im Mittelmeer, während die internationale industrielle Fischerei die Ausbeute der Familienbetriebe mehr und mehr schmälert.

Fabiano stellt die gesellschaftlichen Veränderungen, die uns auf der ganzen Welt betreffen, anhand von zu Herzen gehenden Einzelschicksalen dar, die mir als Leser die mentalen Hintergründe plastisch vor Augen führen. Man könnte schier verzweifeln ob der globalen Probleme, aber die Protagonistin zeigt uns eindrucksvoll, wie sie auf ihre Weise damit umgeht.

Bewertung vom 24.10.2023
Wie Sterben geht
Pflüger, Andreas

Wie Sterben geht


ausgezeichnet

Wie die Flügel der Libelle

Wenn ein Agententhriller im Suhrkamp-Verlag erscheint, ist schon mit einem gewissen Niveau zu rechnen. Von Anfang an sind es die kleinen Bemerkungen zwischen den Zeilen, die mich im Bann halten, Anspielungen auf Zeitgenössisches wie die RAF, einen Sternenschweif an Bedeutung hinter sich herziehend. Zu diesem historischen Hintergrund gehört auch die Guillaume-Affäre, die Russen in Afghanistan, der NATO-Doppelbeschluss. Die literarischen Zitate wählt Pflüger derartig treffend, dass einem wahre Kronleuchter aufgehen, Humor und Ironie breitet sich in Metaphern, Vergleichen und Andeutungen aus.

Das Erlernen des Handwerks einer Spionin wird als Ninas erste Herausforderung eingehend beschrieben, aber auch die damit verbundenen mentalen Voraussetzungen entfalten sich vor den Lesern zunächst in beschaulichem Tempo, bevor der Autor mit zunehmend erfolgreichem Training der Heldin auch mit heftigen Action-Szenen aufwartet.

Politisch bezieht er eindeutig Position: die Sowjetunion finanziert und steuert die Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss ebenso wie die RAF - das muss man erst einmal verkraften, wenn man damals besten Willens nach Bonn marschierte.

Wie bei jedem Spionageroman darf man nicht in seiner Konzentration nachlassen, denn Doppelagenten und Maulwürfe verwandeln die Szenerie in ein schlüpfriges Pflaster, aber das ist ja auch immer am Ende der Clou. Meistens ist es der, dem man es am wenigsten zutraute - oder vielleicht auch gerade nicht ...

Spannend liest es sich jedenfalls bis zur letzten Seite, auch wenn mir schließlich ein paar Volten etwas hanebüchen vorkamen. Ninas Wandel von der zarten Lyrikliebhaberin hin zur skrupellosen Verteidigerin ihres Lebens und von allem, was ihr ans Herz gewachsen ist, vollzieht Pflüger in ihrer psychologischen Entwicklung glaubwürdig, gerade weil sie sehr schnell gegen ein Prinzip der Agententätigkeit verstößt: keine emotionale Beziehung zu dem Geführten! Doch ohne solche Verwicklungen wäre das Buch auch nicht so lesenswert.

Wer nach LeCarrés Tod dessen Werken nachtrauert, kann sich trösten: mit Pflüger hat ein Würdiger das Staffelholz ergriffen.

Bewertung vom 14.10.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

All diese Mühe für nichts

Alex schmarotzt sich durch die Gegend, nach allen Regeln der Kunst, und überall wo sie auftaucht, geht etwas zu Bruch, aus reiner Schusseligkeit. Gerne lässt sie auch etwas mitgehen. So fliegt sie raus bei ihrem Sugar Daddy, der plötzlich der Schnauze voll hat von ihr, und um einfach nicht obdachlos zu werden, schmeißt sie sich an die nächste sich bietende Gelegenheit ran. Die Skrupellosigkeit, mit der sie vorgeht, gepaart mit der Naivität der Opfer sorgt für erheiternde Momente.

Dabei muss sie so manchen Abstieg in Kauf nehmen, aber irgendetwas in ihrem 22jährigen Leben hat ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein schlechtes Elternhaus oder eine problematische Kindheit waren es nach ihrem eigenen Bekunden wohl nicht, vielleicht eher etwas mit Drogen, die sie hauptsächlich in Form von zusammengeklauten Schmerzmitteln konsumiert. Zusätzlichen Stress verursachen ihr die Nachrichten des zwielichtigen Dom auf ihrem Handy.

Für die subtilen Codes der Reichen und Schönen entwickelt sie einen feinen Instinkt, die sie dann aber doch nicht als ihresgleichen annehmen und allemal ihr Fremdsein erkennen. Während sie jeden, der sich entlang ihres Weges anbietet, kaltblütig benutzt, geht ihr Stück für Stück die Selbstwahrnehmung verloren.

Mit Hilfe des sechsjährigen Calvin bricht sie in einen Strandclub für Familien ein, lernt dort Margaret kennen, und so hangelt sie sich durch den Tag. Sie sucht bei dem labilen Jack Zuflucht, dann erscheint Dom auf der Bildfläche - und da wird es noch mal richtig spannend.

Diese sarkastische psychologische Gesellschaftsstudie hat mich amüsiert und erschüttert zugleich.

Bewertung vom 10.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Nichts ist in Ordnung. Nichts

Mit einem inneren Monolog eines gebrechlichen, griesgrämigen alten Herrn, der sich im Laufe der Zeit als ehemaliger Regieassistent G.W. Pabsts entpuppt, steigt Daniel Kehlmann ein in die Geschichte. Ganz leicht macht es uns der Autor nicht, der Handlung zu folgen. Sein filmreifes Skript baut das Geschehen aus verschiedenen Facetten auf, die vieles, auch die vollständigen Namen der Akteure, nur andeuten. Stück für Stück kristallisieren sich die Licht- und Schattenseiten der im Berichtszeitraum noch jungen Filmindustrie in Deutschland, den USA und Frankreich heraus, wo der künstlerisch bis heute anerkannte, inzwischen aber ein bisschen in Vergessenheit geratene Regisseur seine Erfahrungen sammelte, getrieben vom Schicksal, das die Weltgeschichte vorgab, aber auch von seinem eigenen Enthusiasmus.

Wie Künstler als Renommiergestalten verbrecherischer Regime vom Staat in die Mangel genommen wurden, hat Julian Barnes ganz großartig in seinem Werk über Schostakowitsch dargestellt - doch hier verhält es sich anders, weil hier anscheinend mehr Freiwilligkeit statt Zwang die Rolle spielt. Pabst ist getrieben durch die Umstände, aber zurück in die sicheren USA zu reisen ist keine Option, denn da konnte er sich in seiner Kreativität nicht wunschgemäß entfalten.

Und so geht er Kompromisse ein, die bald die Grenze der Korrumpierbarkeit überschreiten. Wir begegnen Berühmtheiten wie Greta Garbo, Helmut Käutner, Veit Harlan, Leni Riefenstahl, Bernhard Minetti und anderen. Unter anderem stellt der englische Schriftsteller P.G. Wodehouse eine tragische Figur dar, den die Nazis ebenfalls vor ihren Karren spannten. Daraus entspringt ein wahres Kabinettstückchen in dem Kapitel, in dem dieser voll bitterer Ironie und wahrlich decouvierend eine Filmpremiere in Salzburg rezensiert.

Über die Technik des Filmemachens habe ich so manches Neue erfahren durch die Anteilnahme an Pabsts Überlegungen während seines Schaffensprozesses, in dem er nichts dem Zufall überließ, sondern seinem virtuos eingesetzten Handwerkszeug.

Pabst geht die Kunst über alles, dabei kann sich bei ihm keinerlei Empathie entwickeln, selbst in der Endzeit des Zweiten Weltkriegs nimmt das eine derartige Eigendynamik an, dass er schließlich die Absurdität auf die Spitze treibt.

Inwieweit man alle erwähnten Fakten wirklich beweisen kann, sei dahingestellt. Es liegt hier kein Sachbuch vor, sondern meiner Meinung nach ein literarisches Meisterwerk in Form und Aussage, dessen Lektüre ich nachdrücklich empfehle.

Bewertung vom 04.10.2023
Nincshof
Sebauer, Johanna

Nincshof


sehr gut

Riege der Irrziegenwirte

Wie gut würde es uns gehen, bräche nicht von überallher das Elend der Welt über uns herein. Am liebsten würde man doch die Decke über den Kopf ziehen und nichts mehr sehen und hören.

Dazu drängt es die Nincshofer im Burgenland am Ufer des Plattensees, als der Bürgermeister nach einer misslungenen Auslandsreise glücklich wieder heimatliche Gefilde erreicht. Wäre da nur nicht die Dokumentarfilmerin mit ihrem ziegenhütenden Gatten eingezogen! Es verbünden sich also nun alle möglichen Bewohner des idyllischen Dorfs zum Bund der Oblivisten. Als die Neu-Nincshoferin Isa Bachgasser ihre gesamte Energie darauf richtet, die Geheimnisse des Dorfs zu ergründen, entspinnt sich ein regelrechts Duell mit dem Triumvirat, das genau dieses mit aller Kraft verhindern will. Die Nincshofer Legende lautet: "... keinen Kaiser, keine Steuern, kaum Ärger und nur wenige Regeln."

Ein weiteres wesentliches Handlungselement stellen die Irrziegen dar, die einerseits für einige komödiantische Auftritte sorgen, andererseits aber für unerwünschte Publizität.

Lange erschloss sich mir nicht, was das alles soll und worauf es hinausläuft, aber Sebauer deckt Schicht für Schicht die Wurzeln der speziellen Nincshofer Wesenheit auf, die noch viel weiter in der Vergangenheit liegen. Ihren originellen, an Adjektiven reichen Stil, den sie noch mit einer Portion Humor anreichert, habe ich mit viel Vergnügen gelesen. Erst am Ende wurde mir das allgemein Menschliche in der Gesamtaussage klar, und es gab mir wieder einmal zu bedenken, wie wichtig ein gegenseitiger Respekt, besonders wenn einem die jeweiligen Hintergründe fremd sind, gerade im Zeitalter der unkontrollierbaren Nachrichtenverbreitung in den sozialen Netzwerken ist.

Bewertung vom 29.09.2023
Vom Ende der Nacht
Daverley, Claire

Vom Ende der Nacht


ausgezeichnet

Kein Richtig und kein Falsch

Zwischendurch mal etwas fürs Herz: dieser Gedanke hat mich zu diesem Liebesroman greifen lassen. Das Motiv der Liebenden, die sich finden, verlieren und wieder finden, ist nicht neu und per se spannend. Doch zum Glück gestaltete sich die Lektüre weniger trivial als befürchtet.

Was dieses Buch besonders macht, ist die subtile Zeichnung der Charaktere, besonders der beiden Protagonisten, die aus unterschiedlichen Verlusterfahrungen heraus Traumata und Schuldgefühle mit sich herumschleppen. Aus gravierenden, nachzuvollziehenden Gründen können sie "zusammen nicht kommen - das Wasser ist viel zu tief", aber da ist ein unerklärlicher Magnetismus zwischen den beiden, durch den sie auch nicht voneinander lassen können. Anders als bei seichteren Elaboraten vermochte ich gerade nicht mitzufiebern, das Happy End herbeisehnend, denn alle Wendungen haben mir psychologisch vollkommen eingeleuchtet.

Auch die Nebenfiguren bildet die Autorin in all ihren Licht- und Schattenseiten überzeugend ab, die Dynamik, die durch dieses ganze Gefüge entsteht, hat mich sehr bewegt, besonders durch die glaubwürdigen Dialoge. Bei manchen Eskalationen kam mir der Gedanke, nun wäre es aber langsam genug der Schicksalsschläge, aber es ist ein Coming of Age-Roman, in dem man das Heranreifen der Hauptdarsteller über die Jahre hinweg beobachtet. Ein bisschen wie "Harry und Sally", aber mit mehr Verhängnis und weniger Witz.

Bewertung vom 26.09.2023
Ich, Sperling
Hynes, James

Ich, Sperling


ausgezeichnet

Jüngling, des Mitleids wert

Dieser historische Roman beschreibt wahrhaft "Geschichte von unten", denn in dem großartigen Imperium Romanum der Kaiser, Senatoren und Philosophen gab es einen Bodensatz von Sklaven, deren Arbeit überhaupt erst den Lebensstil der herrschenden Schicht ermöglichte. In dieses Milieu verschlägt ein erschütterndes Schicksal den kleinen Jungen ohne Namen und Herkunft.

In epischer Breite gibt uns Hynes zunächst Einblick in den Alltag der kleinen Stadt in der Provinz Hispania, indem er den Jungen, der sich selbst Sperling nennt, nach und nach seinen Horizont erweitern lässt. Aus der Küche eines Bordells darf er zum Brunnen gehen, der den Frauen zum Treffpunkt dient, erlebt einen Bäcker beim Betrügen und die Flucht eines Mädchens vom Sklavenmarkt im Forum: hier zeichnet sich schon deutlich der Wert dieser Menschen als Ware ab, beim Verkauf dargestellt wie Zuchtvieh und erbarmungslos verstoßen, wenn sie keinen Profit mehr versprechen oder als hübsche Frau Eifersucht bei der Domina hervorrufen. In diesen Schattenseiten des glorreichen Römischen Reichs erleichtern sich die Menschen ihr schweres Los vor allem durch Solidarität, besonders unter den Frauen und durch eine mühsam errungene innere Freiheit "der Unscheinbaren".

Der Schauplatz Bordell impliziert schon von vornherein schwer erträgliche Szenen - die Darstellung der Vergewaltigung eines Kindes kann einen schon schwer triggern. Deshalb wäre eine entsprechende Warnung sinnvoll, denn romantisch geht es hier in der Liebe bei weitem nicht zur Sache. Ich halte dem Autor sehr zugute, dass er derartige Situationen sachlich, respektvoll und bei all den notwendigen realistischen Begriffen einigermaßen dezent beschreibt. Manch harmloser Leser, der sich von dem ästhetischen Titelbild verlocken lässt, könnte einen Schreck bekommen.

Wie bewältigt man als unbedarftes Kind solche Grausamkeiten? Die Fähigkeit, sich imaginär in einen Vogel zu verwandeln, um das Geschehen aus großer Distanz von oben zu betrachten, ist ein psychologischer Ausweg und ein Aspekt, der auch dem Erzähler hilfreiche Möglichkeiten eröffnet, das enge Spektrum der Realität zu erweitern um bedenkenswerte Facetten im Konjunktiv.

Man muss sich auf das Buch einlassen, mit den schwierigen Passagen zurechtkommen, dann wird einem die Lektüre einen Erkenntnisgewinn und emotionale Einfühlung bescheren.

Bewertung vom 19.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

Sie konnte nicht mit den Leuten

Gibt es den eigentlich: den typisch österreichischen Tonfall? Arno Geiger, Robert Seethaler und auch Wolf Haas haben so eine gewisse Lakonie gemeinsam. "Was solls, sie würde voraussichtlich nicht mehr lange leben ...". Ganz Wolf Haas-mäßig erzählt er in keiner aufpolierten Schriftsprache, sondern als würden wir gemütlich zusammen auf einer Bank sitzen - ob es nun O-Ton der Mutter ist oder sein eigener innerer Monolog. Da muss man auch nicht unbedingt die Sätze beenden, wenn eh schon klar ist, wohin der Hase läuft. Ansonsten sind aber immer mal rein assoziativ ein paar philosophische Loopings fällig, bei denen ich zweimal hinschauen muss, bis ich sie kapiere, und dazwischen lugt noch ein verschmitzter Humor hervor. Das erzeugt auch harte Kontraste zwischen den umgangssprachlichen Passagen und total geschraubten Formulierungen ("Einen Wesenskern hinter der Erscheinung zu vermuten, wäre eine etwas überambitionierte philosophische Übung gewesen.")

So entsteht keine lineare Biografie, sondern als Mosaik das Bild einer eigenartigen Frau, vom Schicksal benachteiligt und voller Trotz. Hochdramatisch verläuft eigentlich das Leben der Mutter, aber Haas kreist auch ständig um sein eigenes, das ja wesentlich von dieser Frau geprägt wurde. Dabei flicht der promovierte Linguist durchgehend eine Metaebene ein, da ihn seine geplante Poetikvorlesung über Gebühr beschäftigt, und er denkt laut nach über das Thema "Sprache ist Musik".

Wolf Haas bedient eigentlich nie das vordergründig gewählte Genre, ob Krimi, Liebesroman oder Biografie, sondern benutzt es allemal als Sprungbrett für seine Sprachartistik. Jedermanns Sache ist das natürlich nicht, man muss sich schon für Sprachspielereien unter besonderer Berücksichtigung des Volksmunds begeistern können. Das vorausgesetzt, bereitet auch dieses Buch wieder Vergnügen, aber die Frage "Kann man vom Leben schreiben?" beantwortet dieses kleine etwas konfuse Bändchen nicht abschließend.

Bewertung vom 10.09.2023
Die Erfindung des Lächelns
Hillenbrand, Tom

Die Erfindung des Lächelns


sehr gut

Individuelle Expropriation

Mein Bild von Tom Hillenbrand prägten bisher seine spannenden und von Ideen sprühenden Science Fiction-Romane "Hologrammatica" und "Drohnenland". Das machte mich neugierig auf seine Werke in einem anderen Genre. Ein Krimi wie zunächst angenommen ist das nicht, wie sollte es auch - kann man doch den groben Verlauf des Mona Lisa-Diebstahls in Wikipedia nachlesen.

Was Tom Hillenbrand daraus macht, ist etwas ganz Eigenes: episodenhaft aufgebaut lässt er unter Einbeziehung zeitgenössischer Künstler und anderweitig Prominenter die Belle Époque in Paris wiederauferstehen, meiner Ansicht nach sehr passend zum wimmeligen Titelbild. Die Abschnitte verknüpft er geschickt miteinander unter anderem mit Hilfe des adäquaten Leitmotivs "Bild" (Isadoras Tarotkarten, Schokoladenbildchen des Kommissars), und verflicht die unterschiedlichen Milieus durch eine ausgefeilte Komposition in Form von Parallelen, Kontrasten und Spiegelungen. Dabei ist allen Figuren eine gewisse Doppelbödigkeit gemeinsam.

Die sorgfältig recherchierten Fakten präsentiert er uns stilistisch nüchtern und knapp, ohne den Sprachduktus der beschriebenen Epoche nachzuahmen.

Bei aller Virtuosität des Autors muss ich aber einräumen, dass mich die Lektüre angestrengt hat. Die Zeitsprünge und zahllosen Einzelheiten, deren Bedeutung erst im nachhinein klar werden, erfordern eine immense Konzentration. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, wird Freude haben an diesem Buch.