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Renas Wortwelt

Bewertungen

Insgesamt 157 Bewertungen
Bewertung vom 21.08.2024
Ein mysteriöser Gast / Regency Grand Hotel Bd.2
Prose, Nita

Ein mysteriöser Gast / Regency Grand Hotel Bd.2


ausgezeichnet

Schon als Molly Gray das erste Mal auf die Bühne kam, in dem Roman „The Maid“, war ich gefesselt von dieser Figur, von ihrem Charakter und ihrer ganz besonders eigenartigen Methode der Ermittlung.
Nun also die Fortsetzung und sie ist noch besser. Molly, die nun mit Juan, dem Mann ihres Herzens zusammenlebt, ist inzwischen aufgestiegen zum Chefzimmermädchen, eine Verantwortung, die sie sehr ernst nimmt. Was sich zum Beispiel an ihrer netten und motivierenden Art zeigt, mit der sie mit dem Lehrzimmermädchen Lily umgeht.
Diese gerät ins Visier der polizeilichen Ermittlungen, als im Regency Grand Hotel ein berühmter Schriftsteller zu Tode kommt, just, als er eine ganz große Ankündigung machen will. Molly, mit ihrer sehr ausgeprägten Beobachtungsgabe, ihrem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn und ihrer Begeisterung für Putzen jeder Art, wird beinahe sofort in die Recherchen hineingezogen.
Dabei verschweigt sie, dass sie den Schriftsteller kannte. Als kleines Mädchen ging sie über eine längere Zeit bei ihm ein und aus. Als nämlich ihre heißgeliebte Granny dort als Dienstmädchen arbeitete und Molly die Schule verlassen musste, wo man mit ihrer besonderen Art nicht umzugehen wusste.
Im Haus des Schriftsteller Grimthorpe darf Molly, damals gerade sieben Jahre alt, das Silber polieren und in der reich bestückten Bibliothek lesen. Doch es geschieht etwas, das alles ändert und ihre Granny muss den Haushalt der Grimthorpes verlassen. Dass dort noch mehr Geheimnisse verborgen waren und sind, findet Molly nun nach und nach, auch dank ihrer guten Kombinationsgabe, heraus.
In Rückblicken wird diese Geschichte von Molly als Kind erzählt. Diese Geschichte ist sehr berührend aufgrund ihrer großen Liebe zu ihrer Granny, die mit unerschöpflichen Sprüchen und ihrer innigen Liebe Mollys Leben für immer prägt. Man erfährt auch, warum Molly ohne Mutter und Vater aufwuchs, ein sehr trauriger Aspekt ihres Lebens.
Der Roman erzählt so eine herrliche Geschichte mit tollen Figuren, hoher Spannung, vielen Verwicklungen und ohne, dass man bis zuletzt ahnen könnte, wer den Mord begangen hat.
Ein bisschen Klischee darf es auch geben, das gilt für die Figur des fiesen Zimmermädchens Cheryl, die etwas zu dick und deutlich aufgetragen ist, aber trotzdem Spaß macht. Ein paar zu viele Druckfehler stören dabei nur gering.
Die Figur der Molly ist perfekt ausgearbeitet, mit Tiefe, Empathie, Humor, Verständnis und ein bisschen Bewunderung für ihren Charakter
Das Ende ist ein bisschen süßlich geraten, aber macht unbedingt Hoffnung auf Fortsetzungen. Molly wächst beim Lesen so sehr ans Herz, dass man bedauert, sie verlassen zu müssen.
Nita Prose - Ein mysteriöser Gast
aus dem Englischen von Alice Jakubeit
Droemer, August 2024
Gebundene Ausgabe, 319 Seiten, 21,00 €

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.08.2024
Die Geschichten in uns
Wells, Benedict

Die Geschichten in uns


sehr gut

Benedikt Wells - Die Geschichten in uns
Ein Blick hinter die Kulissen ist immer interessant, ob im Theater, im Film oder in der Buchbranche. So kann ein solches Buch, wie es der Bestsellerautor gerade frisch herausgebracht hat, nur fesseln und viele spannende Einblicke liefern.
Vor allem, weil seine Person und seine Persönlichkeit eben auch sehr fesselnd sind, seine Geschichte, sein Hintergrund und insbesondere sein unglaublicher Erfolg, den er mit seinen Romanen erreicht.
Hier nun legt er also ein Art Biografie vor, er erzählt mit Charme und einiger Offenheit von seiner Kindheit und Jugend, den schwierigen Verhältnissen, den diversen Problemen seiner Eltern und von seiner Zeit in verschiedenen Internaten. Vor allem aber erzählt er von seinem Schreiben, wie es anfing, was es für ihn bedeutet und was er dafür investierte, an Zeit, Inbrunst, Disziplin, Verzweiflung und Freude, Emotion und Geduld.
Das liest sich für diejenigen, die selbst schreiben, noch mal doppelt so spannend, weil man erkennt, dass auch einem so erfolgsverwöhnten Schriftsteller auf dem Weg zu ebendiesem Erfolg nichts in den Schoß fällt. Gerade diesen Aspekt an seinem kurzen biografischen Ausflug mochte ich besonders, klang das für mich doch ehrlich und glaubhaft, so dass man sich sehr gut in ihn hineinfühlen kann. Man fühlt mit, wenn er seinen Text wieder und wieder ändert, wenn er leidet unter den immer wiederkehrenden Absagen, unter den mehr oder weniger wohlmeinenden Kritiken von Testlesern. Man bangt mit ihm, wenn er auf den Anruf seines Agenten wartet, hofft, dass es klappt mit dem Vertrag beim Verlag.
Benedict Wells wird so, in diesem Buch, menschlich, so dumm das hier auch klingen mag. Denn wie oft vergessen wir bei der Lektüre eines Buchs, welche Anstrengungen es den Autor, die Autorin gekostet hat, den Roman derart vollkommen zu machen.
So ist dieser erste Teil des Buchs in meinen Augen auch der bessere, der interessantere. Im zweiten Teil beschäftigt er sich mit all den Themen, die jeder Schreibratgeber aufgreift, zeigt die diversen Probleme und deren Lösungen an seinen eigenen Werken. Auch das ist durchaus interessant, aber vor allem eben nur in dieser Hinsicht. Denn er kann wenig Neues berichten, neue Tricks und Tipps geben, zumal er, wie er selbst schreibt, bis zum Verfassen dieses Buches keine Schreibratgeber las, dies aber nun, um sein eigenes Buch schreiben zu können, nachholte. Insbesondere bezieht er sich oft auf Stephen King und dessen hervorragendes Buch „Das Leben und das Schreiben“ – die Ähnlichkeit zum Untertitel bei Wells ist daher sicher kein Zufall.
Nach der Lektüre dieses Buchs lohnt es sich sicherlich, die Romane von Benedikt Wells noch einmal zu lesen. Man tut dies dann sicher mit anderen Augen.
Für alle, die sich für das Leben von Schriftstellern und ihr Schreiben interessieren, ein empfehlenswertes Buch, ebenso gut und fesselnd geschrieben wie die so erfolgreichen Romane dieses Autors.
Benedikt Wells - Die Geschichten in uns – Vom Schreiben und vom Leben
Diogenes, Juli 2024
Gebundene Ausgabe, 398 Seiten, 26,00 €

Bewertung vom 16.08.2024
Willkommen auf Tuga
Segal, Francesca

Willkommen auf Tuga


ausgezeichnet

Die gute Nachricht zuerst: Laut Klappentext ist dies der erste Band einer Trilogie, wir dürfen uns also auf ein Wiedersehen mit den Tuganern freuen.
Denn sie zu treffen, ihre Gemeinschaft zu beobachten, ihr Leben und ihren Umgang miteinander zu verfolgen, das ist Genuss pur. Das lernt auch Charlotte Walker, die – fast wie auf einer Flucht – für ein Forschungsjahr auf die abgelegene Insel reist. Ihr Forschungsgebiet sind die Goldmünzenschildkröten, die nur dort zu finden und vom Aussterben bedroht sind.
Charlotte, ein bisschen verklemmt, ein bisschen schüchtern, mit sehr wenig Selbstvertrauen ausgestattet, sucht auf Tuga vor allem Abstand zu ihrer dominanten Mutter. Und sie sucht dort nach ihrem Vater, über den sich ihre Mutter beharrlich ausschweigt. Außer der mehr als vagen Vermutung, dass er aus Tuga stammen könnte, weiß Charlotte so gut wie nichts über ihn.
In der Inselgemeinschaft wird sie mit offenen Armen aufgenommen, hält man sie doch vor allem für eine Tierärztin, die hier sehnsüchtig gebraucht wird. So muss Charlotte sich unversehens um Schafe, Lämmer, sehr alte Riesenschildkröten und auch anderes Getier kümmern. Dabei wird sie immer mehr Teil der durch besonders starken Zusammenhalt geprägten Einwohnerschaft. Deren Zahl ist zwar begrenzt, ihre Charaktere aber sehr unterschiedlich.
Es treten auf: The sexiest man of Tuga, Levi, Barkeeper und Vermieter von Charlottes Unterkunft; die elfjährigen Teufelszwillinge (die nicht verwandt, aber unzertrennlich sind) Annie und Alex; der Inselarzt Saul und seine verständnisvolle Frau Moz; der miesepetrige Inselgeistliche Garrick und seine schwerkranke Ehefrau Joan, die Charlottes Aufenthalt auf Tuga organisiert hatte; Taxi, der taxifahrende Radiomoderator und Elsie, Zollbeamtin und Handwerkerin für alles. Dazu noch viele andere Inselbewohner, wie die älteste Einwohnerin, immer schlecht gelaunt und tyrannisch. Sowie der mit Charlotte auf dem gleichen Schiff zur Insel zurückkehrende Dan, Neffe des derzeitigen Arztes, dessen Nachfolge er antreten soll.
All diese Figuren wirken so lebensecht, so natürlich und authentisch, dass man sie geradezu leibhaftig vor sich zu sehen meint. Es gibt viele große und kleine Ereignisse, reichlich Herzensverwirrung, Sorgen und Freuden, Streit und tiefe Freundschaft. All das wird in beschaulicher, fast betulicher Weise von Francesca Segal erzählt.
Es dauert eine Weile, bis sich die Geschichte entwickelt, die Autorin nimmt sich viel Zeit, die Insel, ihre Fauna und Flora und ihre Bewohner vorzustellen. Einige wenige, locker eingeflochtene Rückblicke erläutern die Geschicke dieser Menschen, erklären, wie es zu mancher überraschenden Konstellation oder Beziehung kam. Ein besonders interessanter Aspekt dieser Geschichte ist die Abgelegenheit der Insel Tuga, die nur 6 Monate im Jahr erreichbar ist und somit während der anderen Monate auf sich allein gestellt und vom eigenen Anbau und den Lagervorräten abhängig ist. Man lernt, was es ausmacht, so abgeschieden und aufeinander angewiesen leben zu müssen.
Am Ende kommt es dann schließlich zu genau dem Happy End, dass ich mir gewünscht habe. Und trotzdem bleiben noch ein paar lose Handlungsfäden, noch ein paar offene Fragen, so dass es in den Folgebänden ganz sicher noch viel zu erzählen geben wird.
Dieser Roman ist wie für mich geschrieben, denn er vereint alles, was eine fesselnde Geschichte braucht: Interessante Schauplätze, eine in sich geschlossene Gemeinschaft, sympathisches Personal, sachter Handlungsaufbau, eine subtile Spannung, Humor, Gefühl und ein bisschen Liebe. Es geschieht fast nur Alltägliches, keine Dramen, keine Action, kein Klamauk, alltägliche Kleinigkeiten, Zwists, Liebe, Trauer, Freude, Verlust, Eifersucht, alles, was wir aus dem eigenen Leben kennen.
Was die Freude an diesem Buch - wie auch an anderen aus dem Kein & Aber Verlag – noch einmal besonders erhöht, ist die schöne Aufmachung der Bücher. Das Format liegt perfekt in der Hand, die Covergestaltung ist absolut gelungen und die Haptik sowie die Schrifttype und -größe sind ausgesprochen angenehm. So macht Lesen Spaß.
Und so kann ich diesen Roman uneingeschränkt empfehlen, während ich von nun an ungeduldig auf die Fortsetzung warten werde.
Francesca Segal - Willkommen auf Tuga
aus dem Englischen von Verena Kilchling
Kein & Aber, Juli 2024
Gebundene Ausgabe, 494 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 14.08.2024
Im Netz der Lügen / Die Detektivinnen von Nachtigall & Co. Bd.2
Printz, Charlotte

Im Netz der Lügen / Die Detektivinnen von Nachtigall & Co. Bd.2


gut

Der zweite Band in der Reihe um die Detektei Nachtigall, die von Carla und ihrer Halbschwester Wally mehr schlecht als recht geführt wird. Die beiden jungen Frauen versuchen mehrere Fälle gleichzeitig aufzuklären, verzetteln sich dabei aber zusehends.
Der erste „Fall“ verlangt von Carla, einen verschwundenen Ehering zu finden. Irma, die Frau, die den Ring verlor, hat große Angst vor ihrem derzeit verreisten Ehemann, einem Bestatter, und so beauftragt sie die Detektei mit der Suche. Empfohlen wurde ihr die Detektei Nachtigall von ihrer Schwägerin Bertha, die noch eine größere Rolle spielen wird.
Zusätzlich soll Carla einer Freundin ihrer Tante Lulu helfen, die plötzlich zu Reichtum kam durch eine Erbschaft. Erblasserin war eine Jüdin, die während des dritten Reichs ein Lehrbuch für Hebammen geschrieben hatte, welches dann aber unter dem Namen einer deutschen Nazihebamme veröffentlicht wurde. Henny, Lulus Freundin, möchte, dass die eigentliche Verfasserin posthum zu ihrem Recht kommt und der Verlag und die Betrügerin sich öffentlich entschuldigen. Bevor es aber soweit kommt, wird Henny ermordet und Lulu als Hauptverdächtige verhaftet.
Parallel zu all diesen Ereignissen hat Wally so ihre Geheimnisse. Sie kooperiert mit Spionen der DDR und soll einen geflüchteten Wissenschaftler ausliefern. Doch sie hadert mit diesem Auftrag, weiß aber, dass sie sich bei Verweigerung selbst in Gefahr bringt. Dass sie so offensichtlich etwas vor Carla, ihrer Halbschwester, die sie erst im letzten Band kennenlernte, verbirgt, sorgt für erhebliche Missstimmung zwischen den beiden jungen Frauen.
So sympathisch die diversen Protagonistinnen dargestellt sind, so flott der Schreibstil des Romans ist, so verwirrend und verwickelt ist die Handlung. Hier scheint die Autorin ein bisschen zu viel gleichzeitig gewollt zu haben, der Plot ist dadurch etwas überladen, es gibt zu viele Handlungsstränge, zu viele unklare Andeutungen, so dass man recht bald den Faden verliert.
Schon der Beginn des Romans ist fast zu hektisch, man wird in die Ereignisse hineingeworfen, bekommt mit ein paar wenigen Brocken Verweise auf die Handlung des ersten Bands. Die Dialoge sind ebenfalls oft etwas hektisch, wirr und verlieren sich im Nebensächlichen.
Dabei ist das Thema bzw. die Themen durchaus interessant und hätten für einen Krimi ausreichend Stoff geboten. Doch hier werden sie ein bisschen zu oberflächlich, zu leichtfüßig abgehandelt. Dazu gab es einige unschöne Fehler, wie z.B. die Verwechslung von Queen Mary und Queen Elizabeth II. Schade, dass das Lektorat das übersah.
Insgesamt mag ich diese Reihe aufgrund der Protagonistinnen und der Zeit, in welcher die Handlung angesiedelt ist. Gerade der Schauplatz Berlin bietet hier spannende Themen und interessante Örtlichkeiten ebenso wie viele historische Figuren dieser Zeit. Daher hoffe ich trotz der leisen Kritik an diesem Band auf Fortsetzungen, die dann vielleicht an die Qualität der ersten Folge anschließen können.
Charlotte Printz - Im Netz der Lügen
dtv, Juli 2024
Taschenbuch, 399 Seiten, 13,00 €

Bewertung vom 12.08.2024
Scheue Wesen
Chambers, Clare

Scheue Wesen


ausgezeichnet

Schon allein auf dieses wunderschöne Cover könnte man Hymnen singen. Es passt perfekt zum Inhalt dieses genialen Romans, ebenso wie der Titel. Denn die Protagonisten der Geschichte sind in der Tat sehr scheue Wesen.
Was sich aber im Laufe der Zeit ändert. Zu Beginn ist die im Mittelpunkt stehende Helen, Anfang dreißig und ledig, sehr schüchtern und zurückhaltend. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist, dass sie mit einem verheirateten Kollegen eine Affäre hat. Sie arbeitet als Kunsttherapeutin in einer psychiatrischen Klinik in London, es ist das Jahr 1964.
Da wird sie eines Tage zusammen mit Gil, ihrem Liebhaber, der einer der leitenden Ärzte der Klinik ist, zu einem alten Haus gerufen. Nach Beschwerden der Nachbarn hatte die Polizei in diesem Haus eine verwirrte alte Dame gefunden und einen völlig verwahrlosten jungen Mann. William Tapping, so sein Name, spricht nicht, sein Bart reicht ihm bis zu den Knien, er hat offensichtlich seit Jahrzehnten das Haus nicht verlassen, keinen Kontakt zu anderen Menschen als seiner Tante gehabt.
Helen findet später in dem Haus Zeichnungen von William und erkennt sein fulminantes Talent, integriert ihn in ihre Therapiegruppe. Irgendwann entlockt sie ihm auch wieder Worte, beginnt er zu sprechen. Sie findet Menschen, die ihn von früher kennen und nach und nach stellt sich seine Geschichte heraus.
In rückwärts laufenden Rückblicken, die zwischen die aktuelle Handlung eingeschoben sind, erleben wir William während der Kriegsjahre, zuerst als junger Mann, dann als Teenager, dann als Kind. Wir lernen seine drei Tanten kennen, bei denen er aufwuchs und erfahren, warum er irgendwann nicht mehr aus dem Haus gehen durfte.
Die Erfahrungen mit William haben auf Helen einen großen Einfluss, sie beginnt ihre Beziehung zu Gil zu hinterfragen, ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Langsam lernt sie sich zu emanzipieren, ebenso wie ihre Nichte, die wiederum unter dem Verhältnis zu ihrer Mutter leidet.
Der Roman ist ganz wunderbar sanft, fast zärtlich geschrieben. Man gleitet durch die Seiten, verfolgt atemlos die spannende Geschichte Williams, möchte Helen anschubsen, sich von ihren Fesseln und (noch) zeitgemäßen Dünkeln zu befreien. Und neben der eigentlichen Romanhandlung greift die Autorin, deren voriger Roman „Kleine Freuden“ mich genauso begeistert hatte, noch das Thema der damaligen Entwicklungen in der Psychotherapie und dem Umgang mit deren Patienten auf.
Der Schreibstil von Clare Chambers ist unglaublich warmherzig, voller Empathie, immer mit ganz leisem Humor, als wolle sie die Schrullen ihrer Figuren zeigen, aber nie verurteilen. So erschafft sie liebenswerte, lebensechte Charaktere, deren Handlungen stets folgerichtig sind. Man kommt diesen Figuren so nah, kann sich so gut in sie hineinfühlen, dass man am Ende des Buchs ein großes Bedauern verspürt, sie nun verlassen zu müssen.
Ein ganz und gar wunderbares Buch, uneingeschränkt und nachdrücklich empfehlenswert.
Clare Chambers - Scheue Wesen
aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Eisele, Juli 2024
Gebundene Ausgabe, 510 Seiten, 26,00 €

Bewertung vom 05.08.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


gut

Dieser Roman ist nicht nur wegen des Themas schwierig, sondern für mich auch wegen der Protagonistin. Wenn ich die Hauptfigur eines Roman nicht mag, wenn sie mir unsympathisch ist, hat es der Roman schwer, mich zu erreichen. Daher wurde ich nicht nur mit Pia, die diese Geschichte in Ich-Form erzählt, nicht warm, sondern eben auch mit dem ganzen Roman.
Pia und ihr Mann Jakob werden in die Schule ihres siebenjährigen Sohnes Luca gerufen, es sei „etwas vorgefallen“. Doch niemand, weder die Direktorin noch das beteiligte Mädchen und noch viel weniger Luca selbst erzählen, was denn genau vorgefallen ist.
So steigert sich Pia nach und nach immer mehr in diesen Vorfall hinein, mal glaubt sie, die anderen Beteiligten übertreiben, denkt, die Eltern der anderen Schüler:innen schneiden sie, schließen sie aus. Mal misstraut Pia ihrem eigenen Sohn, beginnt ihn zu beobachten, interpretiert in alles, was er tut, sagt oder eben nicht sagt oder tut, einiges hinein, traut ihm irgendwann auch das Schlimmste zu.
Ganz anders ihr Mann Jakob, der all das viel entspannter angeht, der sich nicht getrieben fühlt von der Meinung anderer, sondern seinem Sohn vertraut, der Luca glaubt, was immer dieser auf die insistierenden Fragen antwortet.
Zwischen die Beschreibung der aktuellen Ereignisse, der Gefühle und Zweifel Pias sind eingewoben Rückblicke auf ihre eigene Kindheit, auf ihr Aufwachsen mit zwei jüngeren Schwestern. Eine, Romi, war adoptiert, die andere, die jüngste, Linda, starb mit vier Jahren. Diese Ereignisse haben auf Pia nachhaltige Wirkung gehabt, verfolgen sie bis heute. Sie hat nie erfahren, nie verstanden, was damals geschah, wie Linda starb und ob Romi damit etwas zu tun hatte oder nicht. Mit Romi selbst hat sie seit langem keinen Kontakt mehr, auch mit ihren Eltern versteht sie sich nicht ohne Probleme.
Die Vermischung aus Vergangenheit und Gegenwart machen es zu Pias eigener Geschichte, mehr als dass es eine Geschichte um ihr Muttersein und ihrem Umgang mit ihrem Sohn ist. Es wird nicht klar, ob sie anders mit den aktuellen Geschehnissen, mit den Vorwürfen gegen Luca umgehen würde, hätte sie selbst eine andere Kindheit erlebt. Wie sehr wurde sie durch den Tod ihrer kleinen Schwester und vor allem durch den Umgang der damaligen Erwachsenen damit geprägt, wie sehr beeinflusst das ihr Handeln heute?
Was mir aber Pia so gänzlich unsympathisch machte, war ihre Empathielosigkeit, ihre Unfähigkeit mit ihrem Sohn altersgerecht umzugehen, ihn als Kind zu sehen und zu behandeln. Mal scheint er fast ihr Feind zu sein, dann wieder drängt sie ihm regelrecht ihre Liebe auf. Ich konnte mich in Pia nicht hineinfühlen, mich stieß ihr Verhalten manchmal sogar ab. Das machte es mir wirklich schwer, den Roman zu mögen. Der im Übrigen schon wieder das Thema Mütter und ihren Umgang mit der Mutterschaft thematisiert, was derzeit ein sehr aktuelles und immer wieder in neuen Romanen ausgeschöpftes Thema zu sein scheint.
So kann ich den Roman zwar wegen des wirklich guten Schreibstils, der Fähigkeit der Autorin, die Zerrissenheit der Protagonistin plastisch und nachvollziehbar in Worte zu fassen, einerseits empfehlen. Andererseits sollte man nicht erwarten, eine nette, sympathische Hauptfigur anzutreffen, zumal die aufgestellte Problematik schließlich auch nicht einfach ist.
Jessica Lind - Kleine Monster
Hanser Berlin, Juli 2024
Gebundene Ausgabe, 251 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 02.08.2024
Ein Mann zum Vergraben
Casale, Alexia

Ein Mann zum Vergraben


ausgezeichnet

Dieser Roman, den ich binnen weniger Stunden verschlungen habe, ist längst nicht so witzig, wie Titel, Klappentext und Werbung andeuten. Denn vorrangig behandelt er ein sehr ernstes, sehr schlimmes Thema, nämlich Gewalt gegen Frauen.
Dieses schwere Thema verpackt die Autorin geschickt in eine halbwegs leichtfüßige Geschichte, ohne dabei zu leichtgewichtig zu werden. Ich-Erzählerin Sally erschlägt im Affekt ihren Mann Jim, als der sie wieder einmal mit kochendem Wasser verbrühen will. Nun steht sie da, einerseits befreit von einer jahrelangen Quälerei, andererseits konfrontiert mit der Frage: Wohin mit dem toten Ehemann?
Während sie über diese Frage grübelt, entdeckt sie immer mehr, was sie glücklich macht. So beispielsweise Gartenarbeit, für die sie sich Tipps bei der Nachbarin Edwina holt. Diese ältere Dame spielt in der Siedlung die Corona-Polizei. Denn wir befinden uns im Lockdown und strenge Abstandsregeln und Vorschriften für Einkaufen oder Spaziergänge gelten. Was zwar manchen Vorteil mit sich bringt, aber auch viele Schwierigkeiten verursacht.
So ist es ein wirklich enormer Zufall, dass Sally bei ihren nächtlichen Streifzügen auf der Suche nach einem Entsorgungsplatz für die Leiche einer Frau begegnet, die vor dem gleichen Problem steht. Ruths Ehemann starb, gerade als er sie wieder einmal verprügeln wollte. Damit nicht genug, treffen sie schließlich auch noch Samira, die sich ebenfalls ihres Ehemanns entledigte. Vierte im Bunde wird dann Janey, die ehemals beste Freundin Sallys, deren Mann gleichermaßen das Zeitliche segnete.
Damit stehen nun vier Damen mit vier Leichen da, die entsorgt werden müssen. Unter Zeitdruck, mit kuriosen Methoden zur Geruchsverhinderung und immer wieder gestört von besuchenden Kindern oder Handwerkern, suchen die Frauen nach Lösungen, verzweifelt erwägen sie, sich zu stellen, wollen aber andererseits genau dies nicht ihren Kindern antun.
Vor allem aber erkennen sie sich selbst jeweils in den anderen wieder. Nur sie können verstehen, warum eine Frau bei einem Mann bleibt, der sie regelmäßig schlägt, nur sie können nachempfinden, wie es jenen Frauen ergangen ist und wie sie sich nun fühlen.
Das Ganze ist mit viel Humor erzählt, ohne dass es in Klamauk abrutscht. Immer wieder blitzt der Ernst des Themas durch, aber viel Witz und etliche Pointen sorgen für Tempo und einen hohen Unterhaltungswert des Romans. Die letzte Pointe allerdings erahnt man zwar früh, aber auch sie ist sehr geschickt gestaltet und gelingt absolut.
Dass Titel und Klappentext (außer der Formulierung „tyrannische Ehemänner“) wenig auf diesen ernsten Hintergrund hinweisen, empfinde ich als gewisses Manko, denn die Erwartung, die geweckt wird, ist eine gänzlich andere. Dieses Manko aber tritt in den Hintergrund durch die temporeiche und sehr unterhaltsame Erzählweise, durch die erhebliche Spannung um die Frage, welche Entsorgungslösung die Damen denn finden werden und durch den einfühlsamen Stil der Autorin, die sich in dem Thema, wie sie im Nachwort erklärt, auskennt.
So ist zu erklären, dass ich das Buch am selben Tag, als es bei mir ankam, bereits nach ein paar Stunden ausgelesen hatte. Es fesselt, es ist interessant, es berührt und erschüttert und es macht Hoffnung. Denn neben der Ernsthaftigkeit singt es vor allem ein Loblied auf die Freundschaft.
Sehr empfehlenswert.
Alexia Casale - Ein Mann zum Vergraben
aus dem Englischen von Christine Blum
dtv, Juli 2024
Taschenbuch, 428 Seiten, 13,00 €

Bewertung vom 31.07.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


ausgezeichnet

Dieses Buch in einer Rezension zusammenzufassen ist nicht einfach. Dabei wäre die Handlung schnell und in einem Satz gesagt: Im Jahr 1899 fährt ein Zug von Peking nach Moskau und benötigt dafür 20 Tage.
Doch das, was während dieser Reise im Zug und in dem Land, durch der er braust, geschieht, das ist so spannend, so mystisch und geheimnisvoll, dass man es in einer Buchbesprechung nicht erwähnen kann, da man sonst viel zu sehr spoilert.
An Bord des Zuges befinden sich neben vielen anderen der Naturforscher Henry Grey, der seinen beschädigten Ruf retten will durch die Entdeckung der Tierwelt des sogenannten Ödlands, eine Frau mit geborgtem, fremden Namen, die den Ruf ihres Vater wiederherstellen möchte, ein junges Mädchen, das nie woanders lebte als in diesem Zug, in dem es geboren wurde.
Der Zug ist, zumindest für die Passagiere der ersten Klasse, sehr luxuriös. Doch vor allem achtet man sehr auf die Sicherheit der Mitfahrenden. So sind die Fenster vergittert, um die Türen öffnen zu können, benötigt man mehrere Schlüssel und Codes. Und die Beauftragten der Companie, die den Zug betreibt, beobachten alles und sind stets zur Stelle, um jemanden zur Ordnung zu rufen. Nicht umsonst nennt Weiwei, das im Zug geborene Mädchen, sie die Krähen.
Die Reise, auf die der Zug sich begibt, ist keineswegs ungefährlich. Das mussten schon die Besatzung und die Passagiere der letzten Fahrt erleben, während der unbeschreibliches geschah. Doch es scheint sich keiner der damals Mitgefahrenen an das Geschehene zu erinnern. So sah es lange so aus, als würde nie wieder ein Zug das Ödland durchqueren, bis eben jetzt zu dieser Fahrt.
Sozusagen als Hilfestellung, als Anleitung oder Benimmbuch, gibt es ein Handbuch eines seither spurlos verschwundenen Autors, ein „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“, in welchem vor den Gefahren gewarnt wird und Hinweise für den Umgang mit dem, was einem auf der Reise begegnen kann, gegeben werden.
Und da begegnet den Menschen, die sich trauen, aus den Fenstern zu sehen während der Fahrt, ganz Ungewöhnliches, Fremdes, Geheimnisvolles und Gefährliches. Seltsame Pflanzen und Tiere, merkwürdige Phänomene und bedrohliche Angriffe gegen den Zug, all das erleben die Fahrgäste und schließlich wird auch noch das Wasser knapp, ein Umweg muss gefahren werden. Schließlich taucht auch noch eine blinde Passagierin auf.
Die prosaische Leserin versucht zu entschlüsseln, was wohl in dieser Ödland genannten Region vor sich geht, versucht zu verstehen, was die Menschen, die aus dem Zug hinausschauen, sehen und erleben. Die an Magie glaubende Leserin genießt diese Reise einfach und hofft, wohlbehalten anzukommen.
Auch wenn der Roman durchaus ein paar Längen hat, etliches sich oftmals wortgleich wiederholt, manchmal binnen weniger Seiten oder gar Zeilen, so ist das Buch dennoch ungemein fesselnd, hochspannend und emotional. Insbesondere der psychische Aspekt, was die Reise mit den Figuren macht, wie sie agieren und reagieren, wie sie mit Gefahr und Herausforderung umgehen, das ist wunderbar geschildert. Man mag kaum glauben, dass es sich um den Debütroman einer Autorin handelt, für den sie jedoch völlig zu Recht mit Preisen ausgezeichnet wurde.
Erwähnen muss man auch die gelungene Übersetzung, die den fast poetischen Text geschickt ins Deutsche übertragen hat, ohne die Wirkung, die die Worte haben, zu verlieren.
Sarah Brooks - Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
aus dem Englischen von Claudia Feldmann
C. Bertelsmann, Juli 2024
Gebundene Ausgabe, 415 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 29.07.2024
Never Been Better
Simpson, Leanne Toshiko

Never Been Better


gut

Dee, Matt und Misa, deren Alter man leider im Roman nicht erfährt, haben sich in einer psychiatrischen Klinik kennengelernt, in der sie alle drei wegen bipolarer Störungen Patienten waren, alle nicht zum ersten Mal.
Dee hat sich in dieser Zeit in Matt verliebt, der für sie damit nicht nur zu ihrem besten Freund wurde, sondern auch der Mann, von dem sie träumt. Dabei ist Matt, wie Dees Schwester Tilley nicht müde wird zu betonen, keineswegs attraktiv.
Doch statt Dee wird Matt nun Misa heiraten. Die drei waren ein eingeschworenes Team, doch nachdem Dee die Klinik hatte verlassen müssen, waren ihre Wege auseinandergegangen. Jetzt aber erhält Dee die Einladung zur Hochzeit, die auf einer exklusiven Inselgruppe stattfinden soll.
Zusammen mit Tilley reist Dee zu den sich über etliche Tage hinziehenden Feiern, obwohl sie es im Grunde gar nicht will. Sie glaubt, dem ganzen Rummel nicht gewachsen zu sein, aufgrund ihrer psychischen Störung. Und vor allem natürlich, weil es sie schmerzt, zu sehen, wie sehr Matt und Misa sich lieben.
Dennoch gibt es auch zwischen den Beiden Probleme, unter anderem weil Misa ihrer in japanischen Traditionen verfangenen Familie nie von ihrer Krankheit erzählt hat und deswegen nun permanent eine Rolle spielen muss. Währenddessen ist Tilley die einzige, die wirklich Spaß hat an diesen Veranstaltungen, findet doch all das in sündhaft teuren Hotels statt, mit Pomp und allem Schnickschnack.
Immer wieder treffen Matt und Dee oder Misa und Dee zusammen und führen lange Gespräche, weil sie gegenseitig jeweils die einzigen sind, die nachempfinden können, wie sich ihre Krankheit auswirkt, wie es ihnen geht, was sie fühlen und wie sie damit umgehen können oder müssen.
So brechen auch immer mehr Konflikte auf, zwischen Misa und ihren Eltern, zwischen Matt und Dee und auch zwischen Matt und Tilley, die ihm nicht verzeiht, dass er Schuld trägt am damaligen Rauswurf Dees aus der Klinik.
In dieser Form geht es das ganze Buch hindurch, ein Gespräch reiht sich an das nächste, die Gespräche drehen sich im Kreis, die Aussagen, Gedanken und Gefühle wiederholen sich permanent. Die gesamte Geschichte trägt sich während dieser Hochzeitsfeier zu – abgesehen von den ersten paar Seiten – das heißt, über 300 Seiten schildern jedes Event und eben jedes Gespräch in aller Ausführlichkeit.
Das führt dazu, dass bei aller Sympathie für die Figuren, die mit viel Empathie gezeichnet sind, bei allem Mitempfinden und Mitgefühl für ihre psychische Krankheit und deren gelungene Darstellung, dass trotzdem dem Roman das Tempo, die Handlung fehlt.
Die Autorin, wie ihre Figur Misa mit japanisch-kanadischen Wurzeln, lebt selbst auch mit einer bipolaren Störung, weiß also, wovon sie berichtet. Das merkt man, denn sie beschreibt sehr einfühlsam und verständnisvoll, was die Krankheit für die Betroffenen bedeutet.
Dennoch steht das zu allein im Mittelpunkt, um aus der Geschichte einen fesselnden Roman zu machen, so locker und leichtfüßig der Schreibstil auch ist. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, vor allem dank Tilley, der einzigen Figur, die sich ungezwungen benimmt.
So lässt mich der Roman mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Zum einen lernt man sehr viel über bipolare Störungen, was als sehr interessantes Thema geschickt in einen Unterhaltungsroman verpackt wurde. Andererseits hat der Roman eben auch etliche Längen, die die Lektüre etwas zäh werden lassen.
Leanne Toshiko Simpson - Never been better
aus dem Englischen von Silke Jellinghaus
Rowohlt polaris, Juli 2024
Taschenbuch, 335 Seiten, 18,00 €

Bewertung vom 26.07.2024
Der Bademeister ohne Himmel
Pellini, Petra

Der Bademeister ohne Himmel


sehr gut

Im Mittelpunkt der Geschichte, die anrührend ist und nachdenklich macht, steht die fünfzehnjährige Linda. Sie erzählt in Ich-Form von ihrer Freundschaft zum sechsundachtzigjährigen Hubert, den sie lieber besucht als die Schule.
Linda wächst bei ihrer Mutter auf, der Vater ist verschwunden, doch beide weinen ihm nicht nach, denn er schlug auch schon mal zu. Doch zwischen Linda und ihrer Mutter fehlen oft die Worte, sie scheinen nicht dieselbe Sprache zu sprechen. Als ein neuer Mann in das Leben der Mutter tritt, wird es nicht besser.
So ist es auch eine Art Flucht, wenn Linda so oft wie möglich zu ihrem Nachbarn Hubert geht. Der immer mehr seiner Demenz verfallende Mann wird von Ewa versorgt, einer Polin, die mit Fachkenntnis, Akribie und Liebenswürdigkeit ihre Arbeit versieht. Beauftragt wurde sie von Huberts Tochter, die Linda nur den „Nachtfalter“ nennt. Denn die Tochter ist überfordert mit dem zunehmenden Verfall des Vaters, ist hilflos im Umgang mit dem Mann, der nie so reagiert, wie man es erwartet.
Linda hingegen scheint einen Draht zu ihm zu haben, sie geht völlig unverkrampft mit ihm um, spricht mit ihm, als erwarte sie Antworten von dem ehemaligen Bademeister, geht auf ihn ein, ohne ihn zu irgendetwas zu zwingen. Dabei wächst ihr der alte Mann immer mehr ans Herz und rettet ihr in gewisser Weise sogar das Leben. „Und mit einem Mal stehe ich vor Huberts Fotowand und vor meinen Augen verschwimmt das Bild des Babys. Und im selben Moment weiß ich, dass keine Mutter ihr Kind verlieren will, und sogar, wenn wir krass Streit hätten, würde Mama wollen, dass ich lebe.“ (S. 205)
Denn eigentlich wollte sich Linda vor einen Bus werfen, Selbstmord begehen. Doch Hubert und vor allem auch ihr Freund Kevin halten sie davon ab. Kevin ist ein Nerd, er hat genauso wenig Freunde wie Linda, ist überzeugt davon, dass die Menschen den Planeten zerstören und beschäftigt sich fast ausschließlich mit Fragen des Klima- und Umweltschutzes. Auch er wächst ohne Vater auf und seine Mutter braucht immer wieder Lindas Hilfe, um ihren Sohn überhaupt zu erreichen.
Die Sprache, in der die österreichische Autorin diese Geschichte erzählt, ist wunderbar leicht, sanft, sehr empathisch und vor allem trifft sie perfekt den Ton eines Teenagers. Das aber, ohne sich anzubiedern, ohne penetrant Jugendsprache zu verwenden oder ähnliche Klischees, sondern locker, humorvoll, doch gleichzeitig einfühlsam, melancholisch, sehr berührend.
Dennoch fehlt der Geschichte ein wenig das Tempo, über lange Strecken dümpelt die Handlung ein wenig vor sich hin, es geschieht wenig, man ist als Leserin eher Beobachterin als das der Roman einen in die Ereignisse hineinzieht. Wobei es im Grunde bis kurz vor dem Ende so gut wie keine Ereignisse gibt. So ist der Roman einerseits ergreifend sowohl wegen der sehr anschaulichen Schilderung der Demenzerkrankung wie auch wegen der authentischen Beschreibung der jungen Protagonistin. Andererseits aber ein ganz klein wenig handlungsarm.
Davon unbenommen, vor allem wegen der gelungenen Sprache, unbedingt zu empfehlen.
Petra Pellini - Der Bademeister ohne Himmel
Kindler, Juni 2024
Gebundene Ausgabe, 317 Seiten, 23,00 €