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ins_lebenlesen
Wohnort: 
Schleswig-Holstein

Bewertungen

Insgesamt 64 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2023
Das dritte Licht
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Was ist das für ein wunderschönes Buch! Es drängt mich förmlich, diese kleine in Leinen gebundene Schönheit mit dem magnetisch wirkenden Cover an mein Herz zu drücken, es aufzuschlagen, durch das hochwertige Papier zu blättern und es nochmals an mein Herz zu drücken.

Und so geht es mir auch mit dem kleinen Mädchen, der Ich-Erzählerin, das so verloren, introvertiert und schutzlos in mein Leben tritt. Es braucht nur wenige Zeilen und ein paar Sätze, in denen jedes Wort sitzt, um mittendrin zu sein. Sehr schnell entsteht vor meinem Auge ein plastisches, sinnliches Bild von dem Mädchen, den prekären Verhältnissen, in denen es lebt, von den irischen Dörfern, durch die sie mit ihrem Vater zu den entfernten Verwandten ans Meer fährt, wo es für eine Weile bleiben soll, weil die Familie mit der Zahl der Kinder und einer erneut hochschwangeren Mutter überfordert ist. Die Bilder formen sich aus Licht, Gerüchen, Dialekt, der Art wie die Protagonisten sprechen und der Art wie sie tun was sie tun.

Zurückgelassen bei diesen Fremden begegnet das Mädchen der Angst und der Unsicherheit, aber vor allem der Hoffnung. Hoffnung auf Liebe, oder zumindest Zuwendung und Raum für sich und seine Bedürfnisse.

„Aber das hier ist ein anderes Zuhause. Hier gibt es Raum und Zeit zum Denken. Vielleicht bleibt sogar Geld übrig.“ (S.18)

Mr. Kinsellas Worte über das Mädchen: „Sie sagt, was sie zu sagen hat und nicht mehr“ (S. 65) könnten auch für die Erzählung stehen. Die Gefühle, die Zärtlichkeit der entstehenden Verbindung mit diesem Paar, drücken sich durch das Ungesagte aus. So entsteht eine eindringliche verdichtete Geschichte über Zugehörigkeit, Kindheit, Verlust und das komplexe Gebilde FAMILIE. Am Ende bleibe ich sprach- und verständnislos sitzen und frage mich was mit mir geschehen ist. Und fange gleich nochmal von vorn an, weil es nicht schon zu Ende sein darf. Zu viel ist mir vielleicht noch verborgen geblieben. Wunderbar! 🧡🧡🧡

Bewertung vom 09.07.2023
Tangosommer
Baier, Hiltrud

Tangosommer


sehr gut

Kennt Ihr das? Die Luft ist raus, Ihr kommt in die nächste Geschichte einfach nicht rein? Meine Medizin: mit einem Eis in die Hängematte und in eine leichte sommerliche Geschichte voll Liebe, Licht und sympathischen Menschen abtauchen.

Hiltrud Baier kam mit der Geschichte von Riitta und Phil genau im rechten Moment. Was bei Riitta und Phil vor über 30 Jahren als heimliche Liebe zwischen Abiturientin und Referendar begann, hat heute, Riitta ist inzwischen Mitte 50, immer noch Kraft. Doch Phil hat eine Familie mit drei erwachsenen Kindern und Riitta lebt inzwischen allein im Norden Finnlands in einem kleinen Holzhaus am See und hat sich in ihrer Welt sehr gut eingerichtet. Ein Mal im Jahr trifft sie Phil für eine Woche zu einem Festival des Tangos und ihrer Liebe. Inzwischen keine Anrufe, Briefe, Besuche, kein gemeinsamer Alltag. Doch dieses Jahr ist alles anders. Beide machen sich unabgestimmt gleichzeitig auf den Weg. Riitta nach Süddeutschland und Phil mit seiner Tochter Johanna und seiner Enkelin nach Lappland. Werden sie sich finden?

Wie komme ich zu so einer Geschichte? Mich haben die Nächte ohne Nacht wie in Finnland Mittsommer genannt wird, der Tango und die Weite Lapplands mit seinen Seen gelockt. Hiltrud Baier ist es sehr gut gelungen, die Vorstellung davon lebendig zu machen. Ich sah mich selbst im Haus am See mit den Händen den heißen morgendlichen Kaffee umschließend den Vögeln zusehen und in der Stille versinken. Dazu die Melancholie eines finnischen Tangos.

Die Geschichte über Liebe, Familie, Sehnsucht und Schicksal ist spannend mit viel direkter Rede, vielen Wendungen und Perspektivwechseln erzählt. In kurzen Kapiteln wechseln sich Riitta, Phil und Johanna ab, ihren Blickwinkel und ihre Geheimnisse Stück für Stück aufzublättern. Über einige etwas unglaubwürdig und konstruiert wirkende Entwicklungen konnte ich hinwegsehen. Ich hab der Hängematte nochmal einen Schubs gegeben und mich gut unterhalten. Herz, was willst Du mehr?
Falls Ihr noch was Süffiges für den Urlaub braucht, nehmt TANGOSOMMER mit.

Bewertung vom 09.07.2023
Nordstadt
Büsing, Annika

Nordstadt


ausgezeichnet

Wenn Du aus der NORDSTADT kommst, Deine Mutter gestorben ist als Du 8 warst, Dein alkoholkranker Vater Dich bei jeder Gelegenheit verprügelt hat und Du mit 17 vergewaltigt wurdest, ist Deine Zukunft am Rande der Gesellschaft festgeschrieben. So das Klischee. Nene, Mitte 20, schwimmt. Im Wasser zieht sie ihre Bahnen, schöpft Kraft und Lebenswillen. Und wehrt sich gegen das Klischee und ihr Schicksal. Sie schafft es sogar, nach einer Ausbildung als Bademeisterin im örtlichen Stadtbad zu arbeiten. Hier findet sie ein Zuhause. Und Boris, der nach einer Kinderlähmung lahmt und von Schmerzen, Demütigung und Scham gebrochen seine Verzweiflung vor sich herträgt. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Nene versteckt ihre Verletzungen hinter einer lockeren Zunge und einer großen Portion Pragmatismus, während Boris versucht dem Leben aus dem Weg zu gehen. Werden die Mauern aus Wut und Schmerz, die beide so früh um sich errichtet haben, ein WIR zulassen?
Es beginnt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die stark durch die sozialen Verhältnisse, in denen Nene und Boris aufgewachsen sind, geprägt ist.

Was für ein Debüt! In keiner Minute ist dem Text Unsicherheit anzumerken, die Dialoge sind treffsicher und auf den Punkt. Annika Büsing weiß, was sie sagen will, und findet dafür klare Worte ohne Kitsch. Momente der Beklommenheit löst sie mit Nenes ruppigem selbstironischem Humor sofort wieder auf. Nenes Ich-Erzählung wechselt in rasanter Geschwindigkeit von der Handlungsebene in ihre Erinnerungen und Gedanken und wieder zurück.

Manchmal wäre ich gern noch ein wenig länger bei einer Sache geblieben und hätte mir etwas mehr Tiefe gewünscht. Aber auf 130 Seiten ist alles gesagt, was zu sagen ist. Das ist definitiv ein weiteres Debüt-Highlight in meinem Lesejahr 2023 und Annika Büsings KOLLER liegt schon auf meinem Nachttisch.

Bewertung vom 04.07.2023
Noah - Von einem, der überlebte
Würger, Takis

Noah - Von einem, der überlebte


ausgezeichnet

„Noah Klieger hat sie alle überlebt, Mengele und die Nationalsozialisten, die EXODUS und das Meer, die Briten und die Feinde Israels, ein paar Kriege, das Alter, seine Freunde und einen Herzinfarkt. Auschwitz blieb.“ (S. 138)

Noah Klieger ist Franzose, Jude, und schon früh - als Kind eines jüdischen Journalisten und Schriftstellers - in Belgien im Nazi-Widerstand auf gefährlicher Mission. Er hilft dabei, jüdische Kinder in die Schweiz zu schmuggeln. Er ist 17 als die Gestapo ihn erwischt, direkt nach Auschwitz bringt und die Hölle über ihn hereinbricht.

Er überlebte mit viel Glück und dem Traum von zwölf Brötchen auf einem Frühstückstisch. Lebte weiter. Erzählte seine Geschichte immer wieder. Auch in Deutschland, gerade vor jungen Leuten. Er starb 2018 mit 93 Jahren. Takis Würger hat 2017 über mehrere Monate in Tel Aviv Interviews mit ihm geführt und daraus dieses Zeugnis eines Überlebenden geschrieben. Er schreibt über das Überleben, über Terror und Grausamkeit, aber auch über Hoffnung und Freundschaft. Er schreibt über das Weiterleben. Über die Odyssee, die viele überlebende Juden nach den Lagern auf der Suche nach einer Heimat durchlebten. Und über die Unfassbarkeit: „Aber Du hast eine Zukunft. Du hast Deine Zukunft wieder. Was machst Du damit? Was kannst Du? Was willst Du? (S.82) Und er schreibt über vieles nicht, weil Noah es nicht erzählen kann oder will.

Würger erzählt journalistisch, sachlich, nüchtern. Kurze knappe Sätze schildern die Geschichte präzise und entlang harter Fakten aus der Erinnerung von Noah Klieger. Doch wie eine Klinge rammen sich die unbegreiflichen Fakten mitten in die Brust und lassen einen erschüttern. Es ist eine erinnerte Geschichte. Auf 150 Seiten. Kein Epos, kein Geschichtsbuch, auch kein literarisches Ereignis.

Doch es ist ein wichtiges Zeugnis, denn wenn die letzten Überlebenden gestorben sind und davon nicht mehr erzählen können, brauchen wir solche Geschichten, um zu fühlen, was passiert ist. Dass hinter den Millionen Toten und Überlebenden Schicksale stehen. Wäre es nicht doch möglich, dass jedes davon unseres oder das unseres Nachbarn sein könnte? Dem Menschen wohnen beide Anteile inne: die brutalste Grausamkeit und die tiefste Liebe.