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Havers
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Vaihingen an der Enz
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Top100-Rezensent und Buchflüsterer

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 23.05.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


sehr gut

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Hélène das Dorf ihrer Kindheit verlassen hat. Nun ist sie zurück in Bois d'En Haut, dem abgelegenen Dorf im Finistère, das sie Hals über Kopf in jungen Jahren verlassen hat. Um zu verstehen, warum sie gegangen und was damals geschehen ist, lässt uns Claire Léost in Rückblicken in drei Frauenleben eintauchen.

Anfang der neunziger Jahre treffen sie aufeinander: Hélène, die Sechzehnjährige, deren Weg bis dahin vorgezeichnet scheint. Odette, Rückkehrerin und Betreiberin des Dorfladens, die Vater und Mutter während des Zweiten Weltkriegs verlor und in Paris auf einen Neuanfang wagte, der sich allerdings ganz anders als erhofft gestaltete. Und Marguerite, die auf der Suche nach ihren Wurzeln mit Mann und Tochter nach Bois d'En Haut kommt und dort eine Stelle als Lehrerin annimmt.

In drei Zeitebenen erzählt Claire Léost die Lebenswege dieser drei Frauen und entspinnt aus ihren Schicksalen eine bewegende Geschichte. Natürlich drängt sich durch die zentrale Stellung Hélènes die Coming-of-Age Thematik auf, aber die Geschichte hat deutlich mehr zu bieten. Zum einen lässt sie uns eintauchen in die bretonische Kultur, zeigt deren Widersprüchlichkeit zwischen dem Festhalten an Tradition und dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Zum anderen erzählt sie aber auch von generationsübergreifenden traumatischen Erfahrungen, von Verletzungen und Verlust, von der Suche nach Liebe, aber auch nach einem eigenen Leben, vom Weggehen und Zurückkommen. All dies eingebettet in die stimmigen, unsentimentalen Beschreibungen von Landschaft und Strukturen, die die Autorin aus eigenem Erleben kennt.

Eine Empfehlung, nicht nur für den nächsten Urlaub in der Bretagne.

Bewertung vom 20.05.2024
Der Untergang der
Grann, David

Der Untergang der "Wager"


ausgezeichnet

David Grann setzt sich in seinen literarischen Sachbüchern immer wieder mit der Frage des Überlebens in Extremsituationen auseinander. Ganz gleich, ob er uns in den Regenwald des Amazonas, in die weiße Hölle der Antaktis, auf die Ölfelder in Oklahoma oder, wie in seinem neuesten Sachbuch, auf hohe See mitnimmt.

„Der Untergang der Wager“ erzählt, so der Untertitel, eine „wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei“. Aber dieses akribisch recherchierte Buch hat mehr, viel mehr zu bieten, wirft es doch bei näherem Hinsehen einen entlarvenden Blick auf das britische Empire, das skrupellos seinen Einflussbereich mit allen Mittel erweitern und festigen will, sinnlose Kriege führt (siehe War of Jenkins‘ Ear 1739 – 1748) und ohne mit der Wimper zu zucken Menschen in den sicheren Tod schickt.

Anfang 1740 sticht die „Wager“ als Teil einer Flotte von 6 Schiffen in See. Sie ist kein Kriegs- sondern ein umgebautes Handelsschiff, nicht geeignet für die lange Reise bis zur Südspitze Südamerikas und die unter Seeleuten gefürchtete Umrundung Kap Horns. An Bord knapp 200 Mann Besatzung, die meisten zwangsrekrutiert, offiziell mit dem Auftrag, die spanische Flotte zu dezimieren, inoffiziell angewiesen, sich der vermuteten Goldschätze auf den Schiffen der Spanier zu bemächtigen.

Was folgt, ist Geschichte. Vor Patagonien wütet ein Sturm, dem die unterernährte und von zahlreichen Krankheiten gezeichnete Mannschaft nichts entgegenzusetzen hat. Die „Wager“ wird abgetrieben, läuft auf einen Felsen, bricht auseinander, sinkt. Die wenigen Überlebenden retten sich auf eine unbewohnte Insel. Ein halbes Jahr später landet an Brasiliens Küste ein windschiefer, notdürftig zusammengeflickter Segler mit 30 Männern, die sich als die einzigen Überlebenden des Unglücks zu erkennen geben…bis, ja bis ein halbes Jahr später 3 Schiffbrüchige in Chile an Land gespült werden, die eine ganz andere Version der Ereignisse erzählen. Sie erzählen von Meuterei, von Mord und von Flucht. Aussage steht gegen Aussage, wer sagt die Wahrheit? Dies gilt es herauszufinden, und so kommt der Fall nach der Rückkehr nach Großbritannien vor ein Kriegsgericht.

Wie gewohnt wurden von David Grann Unmengen der zugänglichen Materialien verarbeitet, was die Quellenangaben von S. 371 – 430 beweisen. Nach eigener Aussage hat er über fünf Jahre für dieses Buch recherchiert, einen Wust von Dokumenten gesichtet, detailliert geführte Log- und Tagebücher ausgewertet, sich vor Ort an den Originalschauplätzen umgeschaut und all diese Erkenntnisse zu einem höchst lesenswerten Sachbuch verarbeitet, das spannender als so mancher Thriller ist. Er liefert Informationen, ergreift aber keine Partei (höchstens zwischen den Zeilen), sondern überlässt es seinen Lesern, sich eine eigene Meinung zu diesem Fall zu bilden. Was man allerdings nicht vergessen sollte, und das scheint mir auch ein Anliegen Granns und die Kernaussage dieses Buches zu sein: Die offizielle Geschichtsschreibung stützt sich auf die Aussagen der Sieger und die Anweisungen derjenigen, die alle Möglichkeiten haben, damit nur die Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, die ihrem Narrativ dienen. Wen wundert’s?

Lesen. Unbedingt!

Bewertung vom 18.05.2024
Hundswut
Alvarenga, Daniel

Hundswut


sehr gut

Ein abgeschiedenes Dorf im tiefsten Bayern, und obwohl wir das Jahr 1932 schreiben, scheint es, als wäre die Zeit dort stehen geblieben. Was in Stadt und Land vor sich geht, kümmert niemanden, dort macht man sich seine eigenen Regeln. die der Bürgermeister und der Großbauer vorgeben. Doch als eines Tages vier Kinderleichen ermordet und zerfleischt im Wald gefunden werden, ist es vorbei mit der dörflichen Idylle.

Anfangs geht man davon aus, dass ein Wolf in den Wäldern sein Unwesen treibt, dann kommt das Gerücht von einem Werwolf auf, und schließlich gerät der Außenseiter ins Visier. Kein Tier wäre zu solch grausame Taten fähig, das kann nur ein Mensch getan haben. Das Getuschel beginnt, Gerüchte und Vermutungen machen die Runde, und man sich versieht, wird aus einer friedfertigen Dorfgemeinschaft ein grausamer Mob, der seine Menschlichkeit verliert, Blut sehen will und dafür zu archaischen Mitteln greift.

„Hundswut“ ist sowohl Thriller als auch Heimatroman jenseits aller Dirndl- und Lederhosenromantik, düster, brutal und mit beklemmender Atmosphäre. Aber vor allem ist es ein politisches Buch, ein Eindruck, der sich nicht nur durch die zeitliche Einordnung aufdrängt. Es ist ein Buch über Macht, Manipulation und Mitläufertum. David Alvarenga ist Filmemacher und Drehbuchschreiber, vertraut mit Dramaturgie und weiß, welche Mittel er wann einsetzen muss, um Spannung zu erzeugen.

Ständige Perspektivwechsel sorgen zwar für Tempo, vermitteln aber auch in ihrer Fülle ein Gefühl von Oberflächlichkeit und schaffen Distanz. Dazu kommen die reißerischen Beschreibungen der Gewaltexzesse, die gerade Richtung Ende überhand nehmen und meiner Meinung nach so auch nicht nötig gewesen wären. Tja, und der Schluss? Der kann leider wegen der massiven Verwendung von Klischees und dem Fehlen einer zufriedenstellenden Auflösung nicht überzeugen.

3,5 von 5, aufgerundet auf 4 Sterne

Bewertung vom 15.05.2024
Verraten / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.10
Adler-Olsen, Jussi

Verraten / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.10


gut

Die Morde des perfiden Serienkillers aus „Natrium Chlorid“ sind aufgeklärt. Endlich Zeit zum Durchatmen für das eingespielte Ermittlerteam des Sonderdezernats Q, oder? Weit gefehlt, denn aus heiterem Himmel wird Carl Mørck verhaftet. Grund dafür ist ein Überbleibsel aus einem weit zurückliegenden Fall, nämlich der Inhalt eines Koffers, der ihm von einen ehemaligen Kollegen (dieser ist mittlerweile einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen) zur Aufbewahrung übergeben wurde. Zu dumm nur, dass der Koffer noch immer auf Mørcks Dachboden steht, voll mit Drogen und einer beträchtlichen Menge Bargeld. Und zu allem Unglück sind die Scheine auch noch mit Mørcks Fingerabdrücken übersät. Er wird festgenommen und inhaftiert, aber seltsamerweise nicht von den anderen Insassen separiert. Und was das für das Schicksal eines Polizisten hinter Gittern bedeutet, kann man sich nur allzu gut vorstellen, zumal auch noch ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ist.

Unterstützung von seinen Vorgesetzten? Fehlanzeige. Fast hat es den Anschein, als wolle man ihm etwas anhängen, seine Reputation unwiederbringlich ruinieren, ihn aus dem Weg schaffen. Nur gut, dass gegen alle Anweisungen von oben sein Team, alte Freunde und Menschen, die im Laufe der Jahre seinen Weg gekreuzt haben, fieberhaft daran arbeiten, Mørcks Unschuld zu beweisen und sein Leben zu retten.

Es ist vollbracht. Alles hat ein Ende, so auch die zehnbändige Reihe um Carl Mørck und das Sonderdezernat Q. Und das ist auch gut so, denn gerade ab dem fünften Band nahm die Qualität der behandelten Fälle doch spürbar ab. Waren diese zu Beginn noch vielschichtig und spannend komponiert, wurden sie ab diesem Zeitpunkt zunehmend banal, zäh und spannungsarm erzählt, was leider auch auf den Abschlussband „Verraten“ zutrifft. In erster Linie liegt das an den alten Fällen (plus den jeweiligen Repräsentanten), die in epischer Breite aufgewärmt werden, aber kaum etwas zum Fortgang der Handlung beitragen. Langatmige Beschreibungen der komplexen kriminellen Organisationsstrukturen und das Fehlen zufriedenstellender Auflösungen einiger Handlungsstränge verstärken leider diesen Eindruck.

Kann man lesen, wenn man die Reihe verfolgt bzw. sich durchgekämpft hat, aber als Einstieg bzw. Stand alone eignet sich dieser Band eher nicht.

Bewertung vom 03.05.2024
Notizen zu einer Hinrichtung
Kukafka, Danya

Notizen zu einer Hinrichtung


ausgezeichnet

„Es gibt kein Gut oder Böse. Stattdessen haben wir die Erinnerung und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wir alle existieren an unterschiedlichen Punkten des dazwischenliegenden Spektrums. Wir werden geformt durch das, was uns widerfahren ist, aber wir sind auch das Produkt unserer Entscheidungen.“

Schaut man sich das Leben Ansel Packers an, kommt man nicht umhin, darin ein Körnchen Wahrheit zu entdecken. Aufgewachsen in prekären Umständen bei einer Teenagermutter und einem Psychopathen, dessen Erziehungsmethoden in erster Linie aus Nahrungsentzug und Gewalt bestehen, wird er zu einem Menschen ohne Mitgefühl, der später ohne mit der Wimper zu zucken oder Schuldgefühle zu entwickeln, Frauen, die seinen Weg kreuzen, das Leben nehmen wird.

In Danya Kukafkas „Notizen zu einer Hinrichtung“ geht es aber nur am Rande um diesen Serienmörder und die kruden Überlegungen, die er in den letzten Stunden seines Lebens anstellt. Sie stellt die Opfer in den Mittelpunkt, gibt ihnen Raum, um ihre Geschichten zu erzählen, zeigt die Schnittstellen auf, in denen Packer deren Leben streift und unwiederbringlich verändert. Glücklicherweise verzichtet sie dabei auf die in diesem Genre üblichen detaillierten, von Gewalt geprägten Beschreibungen, sondern konzentriert sich auf die Täter-Opfer-Beziehungen aus Sicht der Frauen.

Drei Frauen, die Packers Leben gekreuzt haben, kommen zu Wort: Packers Mutter Lavender, die ohne sich noch einmal umzudrehen aus ihrem Leben voller Missbrauch flüchtet und Packer mit dem Neugeborenen ohne Nahrung zurücklässt. Das Baby überlebt nicht, und Packer kommt in staatliche Obhut, wird in einer Pflegefamilie untergebracht, in der er auf Saffy trifft. Saffy, die ihn beobachtet, sein Verhalten mit Misstrauen beäugt, vielleicht deshalb auch beschließt, Polizistin zu werden, und später die Erste sein wird, die in ihm den Mörder sieht und überführt. Und dann ist da noch Hazel, Zwillingsschwester Packers späteren Frau Jenny, die hilflos mit ansehen muss, wie dessen manipulatives und grausames Verhalten ihre Schwester allmählich zerstört.

Kukafka gibt Denkanstöße. Warum diese Vielzahl von verschwendeten Leben? Sind es die Umstände, die Herkunft oder doch die Entscheidungen, die die Biografie bestimmen? Und was geschieht, wenn man an einer Kreuzung falsch abbiegt? Einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl beschreibt sie diese von männlicher Gewalt und Manipulation geprägte Frauenleben, aus denen es ab einem bestimmten Punkt keinen Ausweg mehr gibt. Und auch für Ansel Packer ist die Möglichkeit eines Exits längst verstrichen. Sein Leben endet auf der Pritsche. Mit der Nadel im Arm.

Bewertung vom 01.05.2024
Das Geflüster
Audrain, Ashley

Das Geflüster


gut

Vier Frauen, vier Leben: Whitney, Mutter dreier Kinder, erfolgreich im Beruf, ein Vorbild in Sachen Perfektion. Blair, die zufriedene Hausfrau und Mutter ist. Mara, die trotz ihrer 82 Jahre noch immer mit dem Tod ihres Sohnes hadert. Rebecca, Ärztin in der Notaufnahme, die sich nichts sehnlicher wünscht, als Mutter zu werden. Alle bemüht, den Erwartungen zu entsprechen und die Illusion ihres perfekten Lebens aufrecht zu erhalten, das bei genauerem Hinsehen in allen vier Fällen Risse offenbart. Risse, die ihren Ursprung in Anpassung und Selbstverleugnung haben. Sie haben sich arrangiert, halten ihre Enttäuschung und Verbitterung im Zaum, verbergen ihre Emotionen, aber geben sich doch die eine oder andere Blöße. Wie Whitney, die bei einer Gartenparty die Fassung verliert und ihren Sohn Xavier mit ihrer unterdrückten Wut überschüttet. Wochen später, Xavier liegt mittlerweile nach einem Sturz aus dem Fenster im Koma, werden sich alle Gäste an diese Schimpftirade erinnern. Und danach wird nichts mehr so sein wie es war.

Beim Lesen von Ashley Audrains Roman hat man sofort die typischen Streaming Serien vor Augen, in denen Vorstadtleben und Frauenfreundschaften thematisiert werden, sich aber die vermeintliche Idylle relativ schnell als ein verlogenes und toxisches Mit- und Gegeneinander entpuppt. Und genau nach diesem Schema funktioniert auch „Das Geflüster“. Audrain schaut genau hin, kriecht in die Köpfe von vier Frauen und demaskiert deren Leben und Lebenslügen in einer Nachbarschaft, in der alles Handeln darauf ausgerichtet ist, den schönen Schein zu wahren.

Keine Frage, die Story ist gut konstruiert - mit der Betonung auf konstruiert - und baut die Spannung bis zum Ende hin kontinuierlich auf. Aber unterm Strich wirkt das in der schieren Menge an Geheimnissen, Affären und Lügen, zumal lediglich auf vier Familien verteilt, leider sehr unglaubwürdig.

Bewertung vom 26.04.2024
Schattenzeit
Hilmes, Oliver

Schattenzeit


ausgezeichnet

Florian Illies und Uwe Wittstock haben es getan, und auch von Oliver Hilmes gibt es mit „Berlin 1936“ bereits eine Veröffentlichung, die sich dieser Methode bedient, nämlich Ereignisse eines klar definierten Zeitraums nicht nur chronologisch zu erzählen, sondern auch durch zahlreiche Perspektivwechsel und Episoden Atmosphäre und Zeitgeist zu veranschaulichen. Doch im Unterschied zu den Vorgenannten richtet Hilmes seinen Blick auf ein individuelles Schicksal und stellt dieses ins Zentrum des erzählenden Sachbuchs „Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe“.

Er erzählt von Karlrobert Kreiten, einem herausragenden Pianisten seiner Generation, gerade einmal siebenundzwanzig Jahre alt, der sich im Gespräch mit einer Freundin der Familie zu unbedachten Äußerungen zur politischen Lage hinreißen lässt. Diese denunziert ihn, Kreiten wird verhaftet, angeklagt, verurteilt und sechs Monate später in Plötzensee gehängt.

Wer nun aber den Autor für die Konzentration auf diesen Fall kritisiert, sollte nicht vergessen, dass Kreiten kein Einzelfall ist, sondern stellvertretend für die namenlosen Gegner des Regimes steht, die ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlen mussten.

Neben zahllosen tragischen Ereignissen wirken einige der Episoden (wie z.B. die Beschreibung der Eröffnung von E. Ardens Schönheitssalon) fast schon banal, und ja, sie sind es auch. Aber sie haben durchaus ihre Berechtigung und den Platz in diesem Buch verdient, denn sie vermitteln in ihrer Gesamtheit ein Gefühl für die Atmosphäre und das, was den Alltag 1943 ausmacht.

Ein fesselndes Mosaik, hervorragend recherchiert und aufbereitet, lebendig erzählt, berührend und passagenweise nur schwer zu ertragen. Ein wichtiges Zeitzeugnis, das ich allen Leserinnen und Lesern nachdrücklich empfehle.

Bewertung vom 23.04.2024
Die Gabe der Lüge / Karen Pirie Bd.7
Mcdermid, Val

Die Gabe der Lüge / Karen Pirie Bd.7


sehr gut

Einmal mehr ermittelt Karen Pirie (DCI der Cold Case Unit Edinburgh) samt Team. Und der aktuelle Fall hat es in sich, nicht zuletzt wegen der stark eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten aufgrund der erzwungenen Einschränkungen durch den Lockdown. Die Stadt steht still, die Straßen wie ausgestorben. Die Menschen ängstlich und verunsichert, was aber das kleine Team um Pirie nicht daran hindert, dem Hinweis einer Archivarin der hiesigen Bibliothek nachzugehen. Diese hat im Nachlass eines kürzlich verstorbenen Autors ein Manuskript mit brisantem Inhalt entdeckt, das Ähnlichkeiten mit dem Fall einer vermissten Studentin aufweist. Sie alarmiert Minzdrops (bitte nennt ihn Mint) alias Jason. Höchste Alarmstufe für Karen, Mint und Daisy.

Mit dem Konzept dieses Buch-im-Buch Kriminalfalls spielt Val McDermid einmal mehr ihre Fähigkeiten als routinierte Autorin aus und plottet aus einer eher unspektakuläre Ausgangssituation, die zudem nur mit einer Covid geschuldeten geringen Anzahl an Personen/Verdächtigen aufwarten kann, einen Kriminalroman mit Hitchcock’schem Touch. Und glücklicherweise vernachlässigt sie nicht den Blick auf die Protagonisten der Reihe, die zwar trotz aller Einschränkungen bemüht sind, ein Mindestmaß an Normalität aufrecht zu erhalten, aber dennoch höchst unterschiedlich mit der veränderten Realität umgehen.

Durch das wiederholte Einfügen recht langer Passagen des Manuskripts leidet bisweilen Tempo und Spannung, zumal sich die Vermutung der routinierten Krimileser(in) als Gewissheit entpuppt. Hier hätte der eine oder andere Twist auf eine falsche Spur führen und für Überraschung sorgen können.

Obwohl die Autorin wesentlich spannendere Krimis im Angebot hat, war „Die Gabe der Lüge“ für mich dennoch eine willkommene Fortsetzung der Reihe. Die ironischen Plaudereien aus dem Nähkästchen über Seelenzustände von Autoren, plus die Insiderstorys über Intrigen aus dem Literaturbetrieb, machen diesen Mangel allemal wett.

Bewertung vom 21.04.2024
Das Nord / Kulinarikthriller Bd.1
Winberg Sääf, Anna;Ekstedt, Katarina

Das Nord / Kulinarikthriller Bd.1


gut

Ein Sterne-Restaurant als Setting ist mir bisher in einem Thriller noch nicht untergekommen, und genau dort ist „Das Nord“ verortet, die erste Gemeinschaftsproduktion des Autorinnenduos Anna Winberg Sääf und Katarina Ekstedt, beide keine Neulinge in der schwedischen Buchszene. Winberg Sääf kennt man als erfolgreiche Romanautorin und Ekstedt als Verlagsleiterin und Autorin von Kinder- und Jugendbüchern.

„Das Nord“ wird als Kulinarik-Thriller vermarktet, und hier wird es interessant, ist Katarina Ekstedt doch mit dem Sterne- und Ausnahmekoch Niklas Ekstedt verheiratet, kann also sowohl ihre eigene Kenntnisse als auch Informationen aus erster Hand in die Story einfließen lassen und Leserinnen/Lesern einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen.

Zum Inhalt: Alex kämpft. Er hat zwar erfolgreich eine Kochausbildung abgeschlossen, aber dennoch findet er keine Arbeit. Niemand will ihn einstellen, denn da ist noch immer die Beteiligung an einem Unfall, die einen großen Schatten auf seine Vita wirft und ihm alle Chancen auf einen Neuanfang verbaut. Deshalb zögert er nicht, als ein alter Freund ihm seine freigewordene Stelle als Hilfskoch im Sterne-Restaurant Nord anbietet. Er sagt zu, ist das doch die Chance, auf die er gewartet hat. Aber die anfängliche Euphorie weicht bald einem unbehaglichen Gefühl, ausgelöst durch das unberechenbare Verhalten der Chefin…

Es dauert lange, sehr lange, bis sich die Story entwickelt. Lange Zeit passiert kaum etwas von Belang, so dass die Protagonisten und ihre Persönlichkeit eher unberücksichtigt bleiben, zur Nebensache degradiert werden. Das Äußere wird mit durchaus atmoshärisch gelungenen Beschreibungen des verschneiten Jämtlands aufgezeigt, das Innere ermöglicht einen detaillierten Blick in die Restaurantküche sowie auf die stupiden Aufgaben, die einen Jungkoch aufgetragen werden (ich sage nur Thymianblätter abzupfen). Was definitiv viel zu kurz kommt, ist die Charakterisierung der Personen und, was für einen Thriller unabdingbar ist, der kontinuierliche Spannungsaufbau.

Von daher wurden meine Erwartungen nur eingeschränkt erfüllt. Die Küchenszenen waren zumindest interessant, die Story leider ziemlich langatmig und vorhersehbar.

Die Fortsetzung „Das Syd“ (gleiche Personen, anderer Ort) erscheint am 23.07.24.

Bewertung vom 18.04.2024
Kretisches Rätsel / Michalis Charisteas Bd.6
Milonás, Nikos

Kretisches Rätsel / Michalis Charisteas Bd.6


sehr gut

In „Kretisches Rätsel“, Band 6 der Michalis Charisteas-Reihe, nimmt uns der Autor einmal mehr in die minoische Vergangenheit der größten griechischen Insel mit. Ausgangspunkt ist Knossos, ein touristischer Hotspot mit Wiedererkennungswert, da diesen wahrscheinlich die meisten Urlauber, so sie denn nicht nur einen reinen Badeurlaub auf Kreta verbringen, schon einmal besucht haben.

Auf dem Palastgelände wird ein archäologischer Mitarbeiter und Kollege Hannahs (Michalis deutsche Verlobte) tot aufgefunden. Die Kopfwunde weckt Zweifel, weshalb Michalis und sein Partner Koronaios zum Fundort der Leiche beordert werden, obwohl Michalis auf Bitten seiner Mutter wegen seiner bevorstehenden Hochzeit nur noch mit Lappalien beschäftigt werden sollte. Es stellt sich heraus, dass der Tote kürzlich ein Kloster auf der Halbinsel Akrotiri besucht und dort Nachforschungen angestellt hat. Der Besuch der beiden Ermittler im Kloster bleibt allerdings weitgehend ergebnislos, da sich die Mönche auf ihr Schweigegebot berufen, aber es scheint, als ob der Tote einem sensationellen archäologischen Fund auf der Spur war. Ein Umstand, der ihn bedauerlicherweise das Leben kostete.

Um Informationen zu sammeln und den Täter dingfest zu machen, beginnt für Michalis und Pavlos die kleinteilige Ermittlungsarbeit, bei der sie neben zahllosen Gesprächen auch noch auf den Spuren der Minoer gefühlt sämtliche Ausgrabungsstätten und Siedlungen besuchen, die dieser Hochkultur zugeschrieben werden. Knossos, Gortys, Phaestos, die Messara-Ebene, Zominthos, Kato Zakros und Kalamaki, alles dabei, was Rang und Namen in der archäologischen Welt hat.

Zwei Punkte sind mir positiv aufgefallen. Weder nehmen in diesem Band die ausufernden und in den Vorgängern permanent wiederholten Schilderungen des familiären Alltags von Michalis und Hannah, noch die detaillierten Beschreibungen ihrer Hochzeitsvorbereitungen über Gebühr Raum ein. Und auch der Wechsel der Handlungsorte weg vom westlichen gelegenen Chania und Umgebung hin zum Süden und Osten hat das geografische Spektrum angenehm erweitert.

Allerdings hatte ich stellenweise das Gefühl, einen Führer für archäologische Rundreisen in Händen zu halten, denn zu jedem minoischen Ermittlungsort gab es von Seiten des Autors ausführliche Hintergrundinformationen, die man, wenn man daran interessiert ist, problemlos im Reiseführer oder Internet findet. Leider geht das auf Dauer zu Lasten von Tempo und Spannung und schafft in einem Kriminalroman unnötige Brüche, die es zu vermeiden gilt.

Alles in allem mit den erwähnten Einschränkungen als Urlaubslektüre empfohlen.

3,5 von 5, aufgerundet auf 4 Sterne