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alekto

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Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 01.02.2023
Das Porzellanzimmer (eBook, ePUB)
Sahota, Sunjeev

Das Porzellanzimmer (eBook, ePUB)


sehr gut

Abwechslungsreich erzähltes Familien-Liebes-Drama im ländlichen Indien der 30er Jahre

1929 lebt die junge Mehar nach ihrer Hochzeit mit einem der Söhne der Witwe Mai auf deren Hof. Dort wohnt sie zusammen mit Harbans und Gurleen, die die anderen beiden Söhne von Mai am gleichen Tag wie Mehar geheiratet haben, im Porzellanzimmer. Keine der jungen Frauen weiß, welcher der Brüder Jeet, Mohan oder Suraj ihr Mann ist. Mehar hat nicht nur mit dieser Ungewissheit zu kämpfen, sondern muss sich auch an ihr neues Leben, das von der harten Arbeit auf dem Hof geprägt ist, gewöhnen. Von früh bis abends muss sie an der Seite von Harbans und Gurleen nicht nur in der Küche schuften. Bei nächtlichen Zusammenkünften, deren Termine Mai diktiert, muss sie in nahezu absoluter Dunkelheit ihrem Mann zu Willen sein. Und wenn sie nicht bald einen Sohn bekommen wird, ist ihre Stellung im Haus nicht garantiert.

Abwechslungsreich erzählt Sunjeev Sahota seinen Roman aus Sicht seiner Hauptfigur Mehar und weiterer Personen. Diese umfassen etwa verschiedene von Mais Söhnen, aber auch Mehars Urenkelsohn. So erzählt der Autor seine Geschichte auf mehr als nur einer Zeitebene.
Dabei beginnt das Porzellanzimmer beinahe schon leichtfüßig erzähltes Drama. Erst sträubt sich die junge Mehar, die ein wildes Kind gewesen ist, gegen die arrangierte Ehe. Sie fügt sich dann aber rasch in ihre neue Rolle und lebt sich bald auf Mais Hof ein. Mehars Urenkelsohn ist als indischer Junge in seiner englischen Heimatstadt schlimmen Erfahrungen ausgesetzt gewesen. So erinnert er sich an die traumatischen Erlebnisse, die mit der Einladung zur Geburtstagsfeier eines Freundes einhergingen. Aber nach ein wenig Kuchen und ein paar Runden um den See, bei denen er sich an den gefleckten Fischen erfreute, ist schon wieder alles gut. Auch das Drama, dass die Eltern von Mehars Urgroßenkel ihr Haus verlieren lässt, nachdem sie sich ihr Leben lang in ihrem Laden abgerackert haben, bleibt auf eine skurrile Szene beschränkt, in der der Vater den Rücken der Kaufinteressenten mit der Krücke droht. Zudem beginnt das im Kern dieses Romans erzählte Drama, das um die Liebesgeschichte von Mehar mit einem von Mais Söhnen kreist, als klassische Verwechslungsgeschichte, die sich so auch in jeder RomKom finden könnte.

Obwohl sich dieser Roman von Beginn an für mich flüssig und gut gelesen hat, hätte ich diesen als stärker empfunden, wenn Sunjeev Sahota sich auf die darin enthaltenen Dramen konzentriert und diese auserzählt hätte. Dabei hätte ich mir gewünscht, dass sich dies nicht nur auf das Liebesdrama von Mehar beschränkt hätte, sondern das der Autor den anderen Dramen im Leben von Mehars Urgroßenkel und seinen Eltern mehr Raum gegeben hätte. So sind für meinen Geschmack dessen Kampf gegen die Drogensucht, seine traumatischen Kindheitserlebnisse und der drohende Verlust seines Elternhauses aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten zu schnell abgehandelt worden.
Denn dadurch dass diese problematischen Situationen nach ein oder zwei Kapiteln abgehandelt gewesen sind, wenn der Autor zum nächsten Thema übergegangen ist, hat sich bei mir der Eindruck eingeschlichen, dass das alles nicht so schlimm gewesen ist. Der Roman hätte meiner Ansicht nach aber eine weit stärkere Wirkung entfaltet, wenn sich die darin erzählten Dramen von Episode zu Episode verschlimmert hätten, indem der Autor der Tragödie aus Mehars Leben und auch den anderen Dramen mehr Zeit und Raum in einer intensiveren Auseinandersetzung eingeräumt hätte. Denn so hätte dieser Roman zu einer Abwärtsspirale aus Dramen werden können, die seine Figuren immer weiter in den Abgrund zieht, um eine sogartige Wirkung zu entfalten.

Die junge Mehar, die als Sympathieträgerin dieses Romans angelegt ist, konnte mich zwar mit ihrer lebensfrohen Art für sich einnehmen. Da sie noch so jung ist, hat sie aber auch ziemlich naiv und unbedarft auf mich gewirkt, was ihre Charakterisierung eher eindimensional hat ausfallen lassen. Leider habe ich nicht nur Mehar, sondern auch die meisten der anderen Figuren als recht blass empfunden. Zu Beginn des Romans habe ich Mehars Schwiegermutter Mai noch als interessanteste Figur wahrgenommen. Mai fällt zwar nicht gerade in angenehmer Weise auf. Ich hätte aber gern mehr darüber erfahren, wie Mai zu der durchsetzungsstarken Witwe werden konnte, die ihren Hof so fest im Griff hat, und auch vor brutalen Bestrafungen oder übergriffigem Verhalten nicht zurückschreckt, um ihren Willen durchzusetzen.
Teilweise hat mir die Schilderung von Zeiträumen gefehlt, die die Figuren in Sahotas Roman zu denen haben werden lassen, die sie dann sind. Teils sind Entwicklungen der Charaktere zu rasch erfolgt, so dass diese zwar zu für mich überraschenden Wendungen und unerwarteten Enthüllungen gefüht haben, leider aber auch den eher schwach angelegten Figuren den letzten Rest an Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit ihrer Handlungen genommen haben.

Bewertung vom 01.02.2023
Ein Freund (eBook, ePUB)
Gallagher, Charlie

Ein Freund (eBook, ePUB)


sehr gut

Intensives Thriller-Drama mit Krimi-Elementen und überraschenden Wendungen

Der Fußballspieler Danny Evans steht vor dem Scherbenhaufen, der einmal sein Leben gewesen ist. Seine Tochter Callie liegt seit einem Monat nach einem Selbstmordversuch im Koma, sein Sohn Jamie will nichts mehr von ihm wissen und seine Frau Sharon hat ihn von Zuhause rausgeworfen, so dass Danny ins Hotel ziehen musste. Er lebt nun in einer schäbigen Absteige und verkommt immer mehr zum Alkoholiker. Da setzt sich eines Abends ein kräftiger Unbekannter in schickem Anzug zu ihm an die Hotelbar. Der Fremde behauptet Privatdetektiv zu sein und im Rahmen seiner Tätigkeit an Informationen gelangt zu sein, die Danny Aufschluss darüber geben können, wie es dazu kommen konnte, dass seine Tochter nun im Koma liegt. Obwohl Sharon ihren Mann warnt, dass der Unbekannte wohl nur Geld von ihnen ergaunern will, lässt Danny sich in seiner Verzweiflung doch auf den Fremden ein und ist sogar bereit dessen mysteriösen Anweisungen zu folgen, um mehr über die Hintergründe des Selbstmordversuchs seiner Tochter zu erfahren. Und so beginnt für Danny ein abgründiges Spiel.

Die düstere Grundstimmung dieses Thrillers gibt schon dessen Prolog vor. Im Anschluss daran wird Danny Evans vorgestellt. Danny ist als ehemaliger Innenverteidiger bei Dover Athletics eine lokale Berühmtheit. Nun hat er einen Trainer-Job bei seinem alten Verein in Aussicht. Aber Danny, der von morgens bis abends trinkt, hat sich kaum noch im Griff. Er schafft es nur einmal am Tag seine im Koma liegende Tochter Callie im Krankenhaus zu besuchen. Und obwohl dabei sein Leid greifbar wird, ist Danny doch weniger als Sympathieträger angelegt. Dafür trinkt er nicht nur zu viel, sondern wird auch ständig wütend und kann sich dann kaum beherrschen.
Zu der Perspektive von Danny kommen im weiteren Verlauf dieses Thrillers zusätzliche Perspektiven wie etwa die von Detective Inspector Joel Norris hinzu. Joel wechselt nach seiner Krankschreibung wegen Überlastung in das neue Team von Superintendent Debbie Marsden. Doch da dieses Lieblingsprojekt von Marsden erst einmal nur aus Joel besteht, hat er in seinem ersten Fall gleich die Leitung in einer schwierigen Mordermittlung zu übernehmen.

Zu Beginn wurde für mich in diesem Thriller dadurch Spannung aufgebaut, dass der Handlungsstrang um Danny eine fast schon unangenehme Intensität entwickelt hat. Und durch dessen unerwartete Wendungen, mit denen Charlie Gallagher schon früh auftrumpft und dessen erste bereits ein Faustschlag in die Magengrube für mich gewesen ist, hat der Autor es geschafft, das Spannungslevel im ersten Teil weiter hochzuhalten. Damit meine ich das Rätsel um den mysteriösen Fremden, der Danny in der Bar anspricht, um ihm seine Hilfe anzubieten, das dann immer weitere Kreise zieht.
Über diesen Unbekannten, dessen Identität lange Zeit im Verborgenen bleibt, möchte ich an dieser Stelle nicht zu viel verraten. Aber wie dieser Privatdetektiv das schafft Danny und weitere Personen ob mit ausgeklügelten Verkaufsstrategien oder anderen Tricks zu manipulieren, ist großes Kino und ein unheimliches Spektakel, bei dem es mir eiskalt den Rücken runtergelaufen ist. Seine Opfer haben da gar keine Chance, als sich immer tiefer in dessen raffiniert ausgelegtem Netz zu verstricken.

Nach seiner ersten Hälfte geht dieses bis dahin intensive Thriller-Drama fließend in einen Krimi über. Denn ab diesem Zeitpunkt rückt Charlie Gallagher die Ermittlungsarbeit der Polizei mehr in den Fokus seines Buchs. Zuvor hat der Autor von Joel und seinen ersten Ermittlungsversuchen nur am Rande erzählt, um stattdessen an Danny und weiteren Opfern ganz dicht dran zu bleiben. Dabei hat der Thriller, der trotz seines hohen Blutzolls oft mehr Drama gewesen ist, gerade im Handlungsstrang um Danny eine Sogwirkung erzeugt, der ich mich nur schwer entziehen konnte.
Leider haben sich für mich dann im Mittelteil dieses Thrillers ein paar Längen eingeschlichen. So gelungen ich den Handlungsstrang um Danny empfunden habe, sind gerade im Vergleich dazu weitere Handlungsstränge um andere Opfers des Privatdetektivs schwächer ausgefallen. Und auch die Kapitel, die aus Sicht von Joel geschildert sind, hatten erst ihre Längen, als die Ermittlungen der Polizei Fahrt aufgenommen haben. Denn als Leser hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits einen großen Wissensvorsprung, den Joel und seine Kollegin sich erst mühsam erarbeiten mussten. An diesen Stellen hätte es dem Thriller gut getan, seine eigentliche Geschichte ein wenig gestraffter und fokussierter zu erzählen. Womöglich hätte stattdessen die Tätersicht früher vom Autor eingebaut werden können. Zwar sind für mich mit Ende des Buchs alle Fragen grundlegend beantwortet worden. Zum ausgeklügelten Vorgehen des Täters hätten mich an einigen Stellen aber doch weitere Details interessiert.

Bewertung vom 28.01.2023
In einer dunkelblauen Stunde (eBook, ePUB)
Stamm, Peter

In einer dunkelblauen Stunde (eBook, ePUB)


sehr gut

Gekonnte Beschreibungen bei blassen Figuren und einer sprunghaften Erzählweise geprägt von einer lebhaften Zitierfreude

Die Filmemacherin Andrea und ihr Freund Tom, der meist für die Kamera verantwortlich ist, arbeiten mit Unterstützung der Tontechnikerin Sascha an einem Film über den Schriftsteller Richard Wechsler. Die Idee dazu ist ihnen gekommen, als sie Wechsler bei einer Lesung im Museum kennengelernt haben. Nachdem sie in Paris gedreht haben, wo der in die Jahre gekommene Wechsler lebt, sind sie in sein Heimatdorf gereist. Doch als Wechsler am vereinbarten Tag nicht im Dorf eintrifft, überbrücken Andrea und Tom die Wartezeit damit Jugendfreunde von Wechsler aufzuspüren und diese nach dem Autor zu befragen. So hoffen sie, mehr über den sein Privatleben so geheim haltenden Schriftsteller zu erfahren, um ein wenig Licht in das Rätsel zu bringen, das Wechsler immer noch für sie bedeutet. Welchen von seinen Geheimnissen werden sie auf die Spur kommen? Und weist sein Werk tatsächlich die autobiographischen Bezüge auf, die Andrea und Tom diesem unterstellen?

In einer dunkelblauen Stunde wird aus Sicht von der nicht sonderlich erfolgreichen Dokumentarfilmerin Andrea geschildert. Sie hat bislang nur wenige Filme u.a. Auftragsarbeiten für ein Museum realisiert und lebt so im Wesentlichen von der Entwicklungsförderung, die sie auch für den Film über Wechsler beantragt hat.
Obwohl ich aufgrund der von Stamm gewählten Perspektive eigentlich ganz nah an Andrea hätte dran sein sollen, indem ich Gelegenheit hatte tief in ihre Gedankenwelt einzutauchen, ist sie mir doch seltsam fremd geblieben. Dazu trägt wohl auch bei, dass ich die vom Autor integrierte Meta-Ebene als nicht so gelungen empfunden habe. Andrea betrachtet ihre Umgebung meist wie durch die Linse einer Kamera, die dadurch einer Kulisse in einem Film gleicht. Und in Andreas Gesprächen mit Wechsler, in denen dieser wenig von sich preisgibt, spinnt sie jede Andeutung, die in einem unvollendeten Satz stecken könnte, in umfangreichen Was-wäre-wenn-Szenarien weiter. Da ihr dafür entscheidende Informationen fehlen entwirft sie Alternativen oder ergänzt die Lücken mit Szenen aus Wechslers Büchern und lässt so die in diesem Roman entworfene Wirklichkeit auf die in Gestalt von Wechslers Werk gegebene Fiktion treffen, die dabei verschwimmen. Andrea beschränkt sich in dieser Sichtweise nicht nur auf in Zusammenhang mit ihrem Film stehenden Personen (u.a. Wechslers Jungendfreunde), sondern scheint die Welt im Allgemeinen auf diese Weise zu betrachten, wie ihre zufällige Begegnung mit dem Nachtportier des Hotels, als sie nicht schlafen kann, zeigt. So ergeht sich Andrea in ihren Gedankenspielereien statt ihre Mitmenschen als echte Individuen wahrzunehmen und diese mit einem Mindestmaß an Respekt zu behandeln.

Zu Beginn des Buchs wähnte ich mich noch in einem von seiner meditativen Stimmung geprägten Roman. Denn zunächst stehen die vom Team mit Wechsler in Paris gedrehten Teile des Dokumentarfilms im Mittelpunkt. Und weil Wechsler in den mit ihm geführten Interviews kaum etwas Brauchbares erzählen wollte, beschränken sich die für den Film verwendbaren Szenen darauf, wie der Schriftsteller durch die Straßen von Paris läuft. Diese Spaziergänge von Wechsler werden mit Gedankenfetzen von Andrea und Bruchstücken ihrer Gespräche mit Tom im Hotelzimmer in Wechslers Heimatdorf verknüpft. Dabei wird eine besondere, fast schon meditative Atmosphäre aufgebaut. Leider belässt es Stamm nicht bei diesem ruhigen Erzähltempo, sondern springt bald schon hin und her, was zwar Abwechslung in sein Buch bringt, obwohl an sich wenig passiert, mir aber nicht sonderlich gut gefallen hat.
Zu den Stärken dieses Romans zählen neben seinen gelungenen Beschreibungen auch die vielen, darin enthaltenen interessanten Ansätze. Damit meine ich etwa die Idee die Momente zu schildern, bevor verschiedene Personen zum ersten Mal in ihrem Leben von einem zehn Meter Brett im Schwimmbad springen. Diese Erzählung hätte sich bestens als separate Kurzgeschichte geeignet. In diesen an Stories erinnernden Episoden habe ich den Roman als besonders gelungen empfunden. Insgesamt hätte mir dieses Buch besser gefallen, wenn dessen Kurzgeschichtenartiger Charakter - ähnlich wie in Candy Haus von Jennifer Egan - deutlicher herausgearbeitet und mehr betont worden wäre, indem etwa einzelne Kapitel auch nur für sich als Kurzgeschichten bestehen könnten.
In den Romanen, die ich bisher von Peter Stamm gelesen habe, habe ich die Charakterisierung der Figuren stets als sehr gelungen empfunden, weil ich sogar mit denen gut mitfühlen konnte, mit denen ich wenig gemeinsam hatte. Leider sind die Figuren dieses Romans, die auf mich eher wie Abziehbilder oder Schauspieler in einem Film wirkten, bis zum Schluss schwer greifbar für mich gewesen und deren Handlungen wenig nachvollziehbar geblieben. Nur Pfarrerin Judith, die zugleich als Sympathieträgerin in diesem Roman fungiert, konnte mich da von sich überzeugen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.01.2023
Die Inkommensurablen (eBook, ePUB)
Edelbauer, Raphaela

Die Inkommensurablen (eBook, ePUB)


sehr gut

Ungewöhnliche Kombination aus historischem Setting und übernatürlichen Elementen mit schwachem Schluss

Der junge Hans Ranftler ist ein armer Knecht aus Tirol. Am 30. Juli 1914 kommt er in Wien an und ist erschlagen von der großen Stadt. Trotz seiner Desorientiertheit macht er sich auf die Suche nach der Landesgerichtsstraße. Dabei erhält Hans, als er hungrig ist, ein Stück Brot von den Heizern am Bahnhof. Und da ihm bei seiner ersten Fahrt mit der Straßenbahn das Ticket fehlt, hilft ihm ein vornehm gekleidetes Paar aus. Denn dies ist die Zeit kurz vor der Mobilmachung und alle Fremden glauben, dass Hans sich freiwillig für den Krieg melden will. Doch er möchte zur Psychoanalytikerin Helene Cheresch. Aufgrund der ungewöhnlicher Erfahrungen, die Hans bereits seit seiner Kindheit macht, sucht er Behandlung von ihr.

Raphaela Edelbauer hat für ihren dritten Roman ein interessantes Trio an Hauptfiguren gefunden. Neben Hans zählen die Mathematikerin Klara Nemec und Adam Graf Jesenky von Kezmarok dazu. Die beiden sind nur wenige Jahre älter als Hans und da sie Patienten der Psychoanalytikerin Helene sind, lernt Hans sie dort kennen. Klara und Adam verfügen so wie Hans auch über ungewöhnliche Fähigkeiten, die von Helene analysiert und studiert werden.
Dabei konzentriert sich der Roman neben einigen Rückblicken, die meist die Vergangenheit der zentralen Figuren beleuchten, auf den Zeitraum um die Mobilmachung in Wien im Sommer 1914. Dabei ist die in der Stadt vorherrschende Stimmung gut eingefangen. Und da Hans zu genau dieser Zeit in Wien eintrifft, wird er von jedem für einen eben solchen jungen Mann gehalten.
Dabei habe ich als geschickten Schachzug von Edelbauer empfunden, dass der vom Land stammende Hans so viel für ihn Neues in Wien zu entdecken hat. Denn das gibt der Autorin Gelegenheit, einiges zu erklären. Das reicht vom Lösen des Tickets in der Straßenbahn, über die beeindruckende Gebäude der Wiener Innenstadt bis hin zu Junkers Gasbadeofen. Dabei sind auch die Vergleiche gelungen, die Hans zwischen dem harten Leben auf dem Hof in Tirol und der Lebensweise in der in seinen Augen so modernen Stadt anstellt.

Im Vergleich zu Edelbauers vorigem Roman Dave sind die Inkommensurablen weit weniger sperrig und experimentell. Das ungewöhnliche an den Inkommensurablen ist dessen Kombination aus historischem Setting und mystischen Elementen, die ein kollektives Bewusstsein betreffen. Dabei haben mir die drei grund verschiedenen Hauptfiguren, die diesen Roman prägen, gut gefallen. Denn in diesen hat die Autorin interessante Charaktere gefunden, die zwar nicht unbedingt als Identifikationsfiguren dienen, dafür aber mit ihren umso spannenderen Lebensgeschichten überzeugen.
Stark sind die Abhandlungen über besondere Träume und gemeinsame Erinnerungen geraten. Dazu hat auch deren Überraschungsmoment beigetragen, indem ich mich zuvor in einem historischen Roman wähnte. Weil ich die Passagen das kollektive Bewusstsein betreffend als stärker empfunden habe, hätte mir besser gefallen, wenn die historischen Teile dieses Buchs nicht so ausufernd ausgefallen wären. So schienen sich für mich die Diskussionen über die vor Ablauf des Ultimatums herrschende politische Stimmung ab einem gewissen Punkt zu wiederholen und im Kreise zu drehen. Zwar ist die Kombination aus historischem Setting und der Thematik des kollektiven Bewusstseins, die mal philosophisch erörtert, mal übernatürlich begründet und mal wissenschaftlich analysiert wird, ungewöhnlich. Doch fügen sich die verschiedenen Teile leider nicht zu einem harmonischen Ganzen, so dass diese eher nebeneinander zu stehen scheinen.

Der größte Schwachpunkt dieses Romans ist sein Schluss, d.h. seine letzten beiden Kapitel. Wo Edelbauer mich in ihrem Vorgänger-Roman Dave noch in ihrer Auseinandersetzung mit dem Fachgebiet der Logik an der Grenze zwischen Mathematik, Philosophie und theoretischer Informatik begeistern konnte, kann ich als ausgebildeter Mathematiker mit ihrem Umgang mit der Zahlentheorie, die sie mit philosophischen wie historischen Aspekten verbindet, leider wenig anfangen. Das mögen Leser, die mathematische Laien ebenso wie die Autorin als studierte Philosophin sind, anders sehen.
Und auch der zentrale Twist, mit dem dieser Roman zum Schluss aufwartet, konnte mich nicht überzeugen, weil dieser für mich in der vorliegenden Form nicht schlüssig ist. Denn dieser Twist scheint im Widerspruch zu vorigen Szenen zu stehen und hätte in dieser Hinsicht zumindest weiterer Erklärungen bedurft. Zudem empfinde ich die Charakterisierung der Psychoanalytikerin Helene als wenig stimmig, wenn ich sie über die verschiedenen Kapitel hinweg betrachte, in denen sie aufgetreten ist. Da hätte ich gern mehr über die Leerstellen in Helenes Leben erfahren, die von diesem Roman nicht gefüllt worden sind. Auch fehlt mir ein zeitlich später angesiedelter Epilog, der diesen Roman hätte abrunden können, indem darin erzählt wird, wie es Hans, Adam und Klara weiterhin ergangen ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.01.2023
Die geheimste Erinnerung der Menschen (eBook, ePUB)
Sarr, Mohamed Mbougar

Die geheimste Erinnerung der Menschen (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein großer, mystischer Roman um einen besonderen Autor und sein Werk, der zum Ende hin abfällt

Während der junge Schriftsteller Diégane Latyr Faye eines Abends durch die Pariser Straßen streift, trifft er zufällig auf die berühmte Siga D., die eine radikal ehrliche, senegalesische Autorin ist. Nach der gemeinsam verbrachten Nacht liest Siga Diégane ein paar Seiten aus dem Labyrinth des Unmenschlichen vor, dessen Autor Elimane ihm bekannt ist. Dieser Roman ist das als verschollen geltende Werk, nach dem Diégane bereits seit langem sucht, diesem aber nie auf die Spur zu kommen vermochte. Daraufhin leiht Siga ihm ihren wertvollsten Besitz, damit auch er das Labyrinth des Unmenschlichen lesen kann, nicht ohne ihm kryptische Warnungen mit auf den Weg zu geben. Und so beginnt Diéganes Reise.

Der Protagonist Diégane Latyr Faye dieses Romans, der aus dem Norden Senegals stammt, lebt mittlerweile in Paris und widmet sich seiner Promotion. Nach seinem ersten kurzen Roman "Anatomie der Leere" arbeitet er nun an seinem Opus Magnum. Da stößt er auf das mysteriöse Werk "Das Labyrinth des Unmenschlichen", dessen Autor Elimane nur diesen einen großen Roman geschrieben hat. Danach ist Elimane verschwunden und niemand weiß etwas über seinen weiteren Verbleib. Zum ersten Mal hat Diégane während seiner Zeit auf dem Militärinternat vom Labyrinth des Unmenschlichen gehört. Er konnte aber seitdem keine weiteren Informationen über diesen Roman in Erfahrung bringen, bis er Siga D. kennenlernt.
Mit seinem ersten Teil hat Mohamed Mbougar Sarr einen starken Beginn für seinen Roman gefunden. Denn dieser mysteriöse Einstieg, der um ein verschollenes Buch kreist, das Diégane schließlich in Händen halten wird, hat mich gleich gefesselt. Doch damit, dass Diégane endlich diesen Roman von T.C. Elimane gelesen hat, ist seine Suche nicht zu Ende, sondern hat gerade erst begonnen. An diesem Auftakt der geheimsten Erinnerung der Menschen hat mich die dafür gefundene Kombination aus mythischen Elementen, philosophischen Diskussionen, die im Drogeninduzierten Rausch beginnen und im Zustand absoluter Entspannung enden, sowie Exkursen zur senegalesischen Literatur im Speziellen und dem Schriftstellerdasein im Allgemeinen fasziniert. Denn der Autor hat es geschafft, dass diese ungleichen Teile einander nicht widersprechen, sondern sich zu einem erstaunlich harmonischen, größeren Ganzen zusammenfügen.

Obgleich Mohamed Mbougar Sarr seine Geschichte stets gekonnt erzählt und jede seiner Charakterisierungen gut herausgearbeitet ist, habe ich doch einige Teile als stärker im Vergleich zu anderen empfunden. So ist Siga D. schon bei ihrem ersten Auftritt eine faszinierende Persönlichkeit, über die ich gern mehr erfahren wollte. Ebenso hat mich das große Rätsel um das Labyrinth des Unmenschlichen und dessen mysteriösen Autor Elimane gleich in seinen Bann gezogen. Dagegen sind mir manch andere Handlungsstränge kaum in Erinnerung geblieben und die darin agierenden Figuren wirkten ein wenig blass auf mich. Das schließt etwa die aus Kamerun stammende Autorin Béatrice Nanga mit ein, die so wie Diégane zum Kreis der jungen afrikanischen Schriftsteller in Paris gehört.
Dafür hat mich die rätselhafte Geschichte um das Labyrinth des Unmenschlichen und seinen Autor Elimane, dessen Geheimnisse erst nach und nach enthüllt wurden, fasziniert. Im Verlauf des Romans habe ich mehr über Elimane, seine Familie und Freunde, dessen Vergangenheit und seine Suche erfahren. Dabei erinnerte mich die geheimste Erinnerung der Menschen trotz des experimentellen Schreibstils phasenweise an einen Kriminalroman. Damit meine ich u.a. die Passagen, in denen erzählt wird, wie verschiedene Figuren dem verschwundenen Elimane nachgespürt haben. Und obwohl der Roman so mehr von der Abwesenheit Elimanes als von diesem mysteriösen Autor selbst geprägt ist, ist Mohamed Mbougar Sarr doch in Elimane das einzigartige Porträt einer charismatischen Persönlichkeit gelungen.
Nur im Buch Drei, das das letzte Drittel dieses Romans bildet, fällt diese Charakterisierung von Elimane leider schwächer aus. Da hat das Buch eine unerwartet politische Wendung genommen, die kunstvoll in tatsächliche historische Ereignisse eingebunden ist. Das politische Drama gewinnt dabei schnell eine fast schon unangenehme Intensität auch aufgrund seiner expliziten, an Brutalität kaum zu überbietenden Szenen des politischen Protests. Davon wird die Geschichte um Elimane, der in diesem Teil ungewohnt blass bleibt, sein Werk und Dieganes Suche danach in den Hintergrund gedrängt. Da hätte mir besser gefallen, wenn Mohamed Mbougar Sarr sich auf seine eigentliche Geschichte konzentriert und die politischen Themen außen vor gelassen hätte. Leider ist das schwächer ausfallende Ende dieses zuvor so großen Romans für mich auch nicht von seinem Epilog herausgerissen worden. Da hätte ich einen Schluss, der dem ähnelt, den Raphaela Edelbauer für ihren philosophischen Science-Fiction-Romans Dave gefunden hat, als gelungener empfunden.

Bewertung vom 16.01.2023
Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
Lin, Tom

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu


sehr gut

Ungewöhnliche Kombination aus Western und Thriller mit übernatürlichen Elementen

Da dem Revolverhelden und Hitman Ming Tsu furchtbares Unrecht angetan wurde, sinnt er schon seit längerem auf Rache. Diese vollzieht er als erstes an Judah Ambrose, der als ehemaliger Anwerber der Central Pacific nun zum armseligen Säufer verkommen ist. Doch damit verbleiben immer noch fünf Namen auf Mings Liste. Denn diese haben Ming unter Führung ihres Vaters seine Frau Ada genommen, die er zurückgewinnen möchte. Und so plant Ming seine Reise von der Stadt Corinne entlang des Salzsees und durch die Sierra bis runter nach Kalifornien. Unerwartete Hilfe erhält Ming dabei vom mysteriösen Propheten, der eine besondere Gabe besitzt.

Mit den tausend Verbrechen des Ming Tsu liefert Tom Lin ein starkes Debüt ab. Dabei ist Ming ein interessanter Protagonist. Denn er ist der Mann ohne Schatten, der nicht zum für ihn vorgesehenen Zeitpunkt gestorben ist. Nun wird er nur noch von seinem Wunsch nach Rache und seinem lang ersehnten Wiedersehen mit seiner Liebe Ada angetrieben. Auch ist Ming einfallsreich. So gräbt er etwa unterm Salzgras in der Steppe nach Wasser, das zwar salzig, aber trinkbar ist, um nicht zu verdursten. Zudem ist Ming ein ausgezeichneter Schütze, der keiner Konfrontation aus dem Weg geht, da er keine Schießerei zu fürchten hat, und wenig Probleme damit hat, seine Gegner niederzustrecken. Doch verabscheut er es Pferde zu töten.

Gleich zu Beginn hat der Autor es geschafft die Zeit, in der dieser Western-Thriller spielt, vor meinem inneren Auge lebendig werden zu lassen. Dazu tragen besonders die Details, die nebenher einfließen, bei. So sind etwa Revolver, die nicht mit Bleikugeln und Schwarzpulver, sondern mit Patronen geladen werden, noch neu. Einen solchen Revolver, der in der damaligen Zeit viel Geld wert ist, hat Ming seinem ersten Opfer im Roman abgenommen. Auch das charakteristische Verlegen der Schwellen beim Eisenbahnbau, der bei der Central Pacific durch irische Kolonnen und chinesische Arbeiter erfolgt, hat Tom Lin gut eingefangen. So erinnerte mich dieser Roman am Anfang an die Western-Serie Hell on Wheels, die vom Bau eben dieser Eisenbahn handelt.
Überraschen konnte Tom Lin mich dann mit dem Auftritt des Propheten. Bis zu diesem Zeitpunkt wähnte ich mich in einem klassischen Rache-Western, der um den Bau der Eisenbahn durch die Central Pacific kreist. Vom blinden Propheten erhält Ming unerwartete Hilfe auf seinem Rachefeldzug, als dieser Ming dann auf seiner Reise in den Westen begleitet. Fortan bilden die beiden ein ungleiches Gespann, bei dem doch die Chemie in deren ungewöhnlichen Dialogen stimmt. Denn der Prophet besitzt als blinder Seher besondere Fähigkeiten. So verfügt er über Wissen, dass er eigentlich nicht haben kann. Das schließt auch zukünftige Ereignisse mit ein. Und der Prophet wird nicht die einzige Figur mit einer besonderen Gabe bleiben, der Ming auf seinem Weg begegnet und die ihn auf seiner weiteren Reise begleiten wird. Diese mystischen Elemente, um die der Autor seinen Western-Thriller nicht nur anreichert, sondern diesen erstaunlich viel Raum gibt, verleihen seinem Debüt einen besonderen Touch.

Stark beginnt dieser Roman, da dessen Spannungslevel in seiner ersten Hälfte hoch ist. Denn Ming wird in seiner Erinnerung an den kürzlich begangenen Mord an Judah Ambrose vorgestellt. Auch sein nächstes Opfer lässt nicht lang auf sich warten. Und da auf Ming ein Kopfgeld ausgesetzt wurde, gerät er bald in weitere Schießereien. Zudem benötigen Mings im Verlauf der Handlung hinzugekommene Weggefährten seinen Schutz, wenn diese in Streit geraten, der physische Auseinandersetzungen nach sich zieht. Tom Lin geizt nicht mit actiongeladenen Szenen, die aus Duellen, Schießereien, Überfällen durch Indianer und vielem mehr bestehen. Abwechslungsreich gestalten sich diese durch die verschiedenen Schauplätze, an denen die sich mit anderen Beteiligten zutragen. Und wenn Ming eine Ruhepause während ereignisloserer Tage auf seiner Reise vergönnt ist, wird er von schaurigen Albträumen geplagt, die eher düstere Vorahnungen zu sein scheinen.
Die Spannung vermag der Autor im weiteren Verlauf des Romans jedoch leider nicht zu halten. So gelungen das Buch als Thriller im Western-Setting, der um übernatürliche Elemente angereichert ist, in seinem ersten Teil ist, zeigen sich doch Schwächen, wenn die Handlung in seinem zweiten Teil in ein Drama umschlägt. In diesem Drama fällt es Tom Lin schwer seinen Rhythmus zu finden. Mal dauern Entwicklungen zu lang an und wirken dann langatmig, mal kommen zu schnell daher und werden so wenig nachvollziehbar. Auch bleiben die Figuren dabei seltsam blass, so dass ich deren Leid kaum mitgefühlt habe.
Die tausend Verbrechen des Ming Tsu hätte mir besser gefallen, wenn Tom Lin auf seine ausufernden Drama-Passagen verzichtet hätte und sich stattdessen auf den spannenden Thriller in seinem eigenen ungewöhnlichen Stil konzentriert hätte, in dem er seinen Roman begonnen hat.

Bewertung vom 09.01.2023
Book of Night
Black, Holly

Book of Night


sehr gut

Ambivalente Figuren, brutale Morde und mythische Bücher in einer Welt abgründiger magischer Schatten

Charlie Hall arbeitet als Barkeeperin für die alternde Domina Odette und hält sich schon seit längerem aus allem Ärger heraus. Denn sie führt nun ein geregeltes Leben, bis eines Nachts dann nach einem Streit mit Balthazar, der den Schattensalon im Keller von Odettes Bar führt, ein Charlie Unbekannter in auffälligem Tweed-Anzug aus der Bar rausgeworfen wird. Doch damit haben die dramatischen Ereignisse dieses Abends kein Ende. Denn auf dem Nachhauseweg findet Charlie die grausam zugerichtete Leiche des Unbekannten, den sie nur noch anhand seines Tweed-Anzugs identifizieren kann, und sie wird von einem Wesen, das Schatten anstelle von Händen hat, bedroht.

In Book of Night erzählt Holly Black die Geschichte der ehemaligen Diebin und Trickbetrügerin Charlie Hall. In der Gegenwart führt Charlie ein geregeltes Leben, in dem sie nur noch als Barkeeperin arbeitet und keine zwielichtigen Aufträge von Balthazar mehr annimmt. Ihr ein wenig heruntergekommenes Mietshaus bewohnt sie zusammen mit ihrer Katze, ihrem Freund Vince und ihrer Schwester Posey.
In diesem Roman entwirft die Autorin eine phantastische Welt, die um besondere Schatten und deren Magie kreist. In dieser gehören Gloamisten, die die Schattenmagie beherrschen, zum Alltag. Zu den Gloamisten zählen Alterationisten, die Schatten kosmetisch verändern und deren Dienste somit gern von Influencern in Anspruch genommen werden. Zudem können sie Menschen auf sog. Happy Trips schicken, während derer diese eigentlich nur auf ihren Schatten ins Nichts starren, dabei aber starke, positive Gefühle erleben können. Neben den Alterationisten gibt es noch die Carapacer, die mit Hilfe ihres eigenen Schattens etwa fliegen oder sich in einen Panzer hüllen können, und die Puppeteere, über die am wenigsten bekannt ist, da sie im Verborgenen agieren und die Geschicke der Welt beeinflussen.
Dabei baut Holly Black ihre phantastische Welt in konsequenterweise Weise rund um belebte Schatten und deren Magie auf. Da in der von der Autorin geschaffenen alternativen Realität Schatten nicht nur magisch sind, sondern dieser Umstand auch der breiten Öffentlichkeit bekannt ist, bieten sich so zahlreiche Möglichkeiten, in denen die Magie der Schatten nebenher in die Geschichte mit einfließt. Das beschränkt sich nicht nur auf Schauspieler und Models, die sich ihre Schatten verschönern lassen, sondern reicht bis hin zum historischen Kontext, indem die Autorin eine eigene Geschichte der Schattenmagie und von deren Entdeckung erfindet, und zum College, an dem sich die Schatten-Thematik in eigens dafür geschaffenen Fächern studieren lässt. Eine Stärke dieses Romans ist, wie dieser meine Sicht auf Schatten beeinflusst hat, die ich zuvor als Selbstverständlichkeit kaum wahrgenommen habe und die ich nun nach dem Lesen schon ein wenig mit anderen Augen sehe.

Abwechslungsreich erzählt Holly Black ihre Geschichte auf zwei Zeitebenen, die zum einen im Hier und Jetzt spielt und zum anderen von vergangenen Ereignissen in Kapiteln, die mit Damals überschrieben sind, erzählt. So konnte ich Charlie nicht nur als ehemalige Diebin und Trickbetrügerin, die bereits 28 Jahre alt ist, kennenlernen, sondern konnte aus den in der Vergangenheit angesiedelten Kapiteln erfahren, wie Charlie zu dem Desaster namens Charlartan geworden ist. Dadurch dass ich Charlies Entwicklung in ihrer Kindheit und Jugend miterlebt habe, sind ihr Charakter und die von ihr getroffenen Entscheidungen für mich nachvollziehbar geworden. Zudem hat die Kapitel im Damals für mich interessant werden lassen, dass die Autorin darin viel über die hohe Kunst der Trickbetrügerei verraten hat. Denn Charlie erhält fast so etwas wie eine Ausbildung vom Trickbetrüger Rand, der sie unter seine Fittiche nimmt, als er sie zu seiner jungen Komplizin macht. Dabei hat Holly Black mich mit ihren ambivalenten Figuren überzeugt, die selten einfach nur gut oder böse sind, sondern stattdessen beide Seiten in sich vereinen.
An Book of Night haben mir besonders dessen überraschende Wendungen gefallen, die konsequent von der Autorin vorbereitet und so zuvor schon angedeutet werden, ohne dass ich diese dann meist habe kommen sehen. Der zentrale Twist in der Mitte des Buchs, der von einem weiteren zum Ende hin vervollständigt wird, hat so mehrfach alles zuvor Erzählte für mich auf den Kopf gestellt. Das hat die Intensität dieses phantastischen Romans erhöht, dessen Spannung leider darunter gelitten hat, dass Charlies Selbstzweifel zu viel Raum eingenommen haben. Denn Charlies Gedanken scheinen in Endlosschleife um ihre Selbstwahrnehmung als Desaster zu kreisen, da sie alles zerstören muss, mit dem sie in Berührung kommt. Diese stetige Wiederholung hat leider an manchen Stellen die sonst von der Autorin aufgebaute Spannung herausgenommen, der zugute gekommen wäre, wenn Charlies stete Sicht auf sich als Charlartan ein wenig kürzer ausgefallen wäre.

Bewertung vom 06.01.2023
Der lauernde Tod
Todd, Marion

Der lauernde Tod


sehr gut

Fieberhafte Suche nach einem entführten Baby im beschaulichen St. Andrews

An einem Sonntag Ende September wollen DS Chris West und seine Chefin DI Clare Mackay am Wohltätigkeitslauf in St. Andres teilnehmen. Doch kurz vor dessen Start kommt es zu einem Tumult, als sich Vertreter der NEFEW im Zuge ihrer Protestaktion den startenden Läufern in den Weg legen. Die NEFEW demonstriert auf diese Weise gegen McIntosh Water, einen der Sponsoren des Wohltätigkeitslaufs. Denn McIntosh Water plant eine neue Flaschenabfüllanlage in Priory Marsh zu bauen. Durch das ausbrechende Chaos sind Kevin und Lisa Mitchell abgelenkt, die auch am Lauf teilnehmen wollen. So lassen sie den Kinderwagen kurz aus den Augen und ihre Tochter Abi wird entführt. Die ist erst sechs Monate alt und leidet an einem angeborenen Herzfehler.

Der lauernde Tod ist nach den Nummern des Todes der zweite Fall für Clare Mackay. Clare ist zwar kein DCI, sondern bekleidet "nur" den Rang des DI. Damit ist sie aber vor Ort in St. Andrews die ranghöchste Polizistin und leitet somit die fieberhafte Suche nach dem entführten Baby Abi. Aufgrund von dessen Erkrankung beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, weil das Baby auf ein bestimmtes Medikament angewiesen ist.
Der Fall ist damit zwar nicht so außergewöhnlich wie der des ersten Bandes der Reihe.Das Spannungslevel ist aber wegen der dramatischen Ausgangssituation von Anfang an hoch. Auch für Clare ist es ein Start von 0 auf 100. An diesem Sonntag, der für sie dienstfrei sein sollte, ist sie gerade aus ihrem entspannten Frankreich Urlaub zurückgekehrt. Doch schon das erste Kapitel dieses Krimis endet mit einem vermissten Baby.
Indem der lauernde Tod einen eigenständiger Fall darstellt, lässt sich dieses Buch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen. Am Rande fließen aber Andeutungen zu einigen unerwartet dramatischen Szenen der Nummern des Todes mit ein. So wäre zu empfehlen die Krimis in der richtigen Reihenfolge zu lesen, um sich in diesem ersten Band der Reihe überraschen zu lassen. Zeitlich ist der zweite Fall von Clare wenige Monate nach dem ersten angesiedelt.

An der logisch analytischen Clare mag ich ihre strukturierte Art an die Ermittlung heranzugehen. Denn dabei beschränkt sich Clare auch als Chefin nicht nur auf das Managen und Führen ihrer Mitarbeiter, indem sie Aufgaben verteilt, Ergebnisse zusammenträgt und das weitere Vorgehen bestimmt. Den wichtigsten Hinweisen geht sie stets selbst nach und ist so tief in die tatsächliche Arbeit eingebunden. Wiederholt rekapituliert Clare den aktuellen Stand der Ermittlungen, wenn sie ihre Gedanken sortiert, um alle relevanten Ansätze zu berücksichtigen und keine Spur, die von Bedeutung sein könnte, außer acht zu lassen. Dabei kann Clare sich auf ihren guten Instinkt verlassen, der sie brauchbare Hinweise vom Rest unterscheiden lässt. Als Chefin verdient Clare sich den Respekt ihrer Mitarbeiter durch ihren Einsatz und nicht etwa durch autoritäres Gehabe. Nur manchmal überschreitet sie eine Grenze und behandelt gerade Chris ein wenig zu mütterlich.
Da es in diesem Fall um ein entführtes Baby geht, haben Clare und ihr Team anders als in vielen anderen Ermittlungen kaum mit unkooperativen Zeugen oder mutmaßlich Verdächtigen zu kämpfen. Zwar sind zu den Hausdurchsuchungen, die Clare und ihr Team gerade zu Beginn durchführen, einige nur widerstrebend bereit. Auf Durchsuchungsbefehle oder richterliche Beschlüsse müssen die Polizisten dafür aber nicht warten. Das treibt das Tempo der Ermittlung hoch, weil es so zu wenig Verzögerung kommt. Schließlich ist es aber ein unerwarteter Zeuge, der Clare auf die richtige Spur bringt.


St. Andrews steht in diesem Krimi nicht mehr ganz so sehr im Fokus wie im Vorgänger. Und obwohl St. Andrews in diesem Buch eher eine Nebenrolle spielt, führt die Vielzahl von Hinweisen, denen Clare folgt, sie doch von einem Ende von St. Andrews zum anderen. Und so wurden mir zumindest am Rande auch in diesem Band der Reihe St. Andrews und seine Umgebung von der Autorin ein wenig näher gebracht. Denn Clares Ermittlungen bringen sie vom prekären Brennpunktviertel in die Gegend der Luxusvillen von St. Andrews und von der teuren Privatschule zum Sonnenstudio in der Innenstadt und weiter zum von Touristen überlaufenen Hafen.
Da schon das erste Kapitel mit der Entführung von Baby Abi endete, war die Spannung von Beginn an hoch. So konnte ich dann auch darüber hinweg lesen, dass dieser Fall nicht so ungewöhnlich wie der in den Nummern des Todes behandelte gewesen ist. Obwohl die Autorin Hinweise eingestreut hat, die mich mitraten ließen, konnte mich die Auflösung dieses Krimis überraschen. Nur hätte ich mir da zum Schluss ein wenig mehr Information zu den für mich unerwarteten Tätern gewünscht.

Bewertung vom 05.01.2023
Nur die Asche bleibt / Market of Monsters Bd.2 (eBook, ePUB)
Schaeffer, Rebecca

Nur die Asche bleibt / Market of Monsters Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Starke, düstere Fortsetzung der Market of Monsters-Reihe

Nachdem Nita die Flucht vom Market of Monsters geglückt ist, auf der sie diesen in einem feurigen Inferno hat aufgehen lassen, hat sie Zuflucht bei der INHUP gefunden. Nita möchte nur nach Hause in die Staaten zu ihrem Vater. Aber von der INHUP muss sie erfahren, dass ihr Vater während ihrer Gefangenschaft ermordet wurde und die INHUP einen gefährlichen Vampir der Tat verdächtigt. Glück im Unglück hat Nita mit der sympathischen Agentin Quispe, die sich mit Nita identifizieren kann, da sie selbst in jungen Jahren ihren Vater verloren hat. Doch dann begegnet Nita bei der INHUP unerwartet einem alten Bekannten wieder. Fabricio, der sie auf den Markt verkauft hat. Und das Spiel beginnt von Neuem.

"Nur die Asche bleibt" ist nach "Bis auf die Knochen" der zweite Band der Market of Monsters-Reihe, obwohl der Titel gebende Markt eigentlich am Ende des ersten Buchs bis auf seine Grundfesten niedergebrannt ist. Die Ereignisse des vorigen Bandes werden von Rebecca Schaeffer zu Beginn detailliert zusammengefasst, so dass sich "Nur die Asche bleibt" wohl auch ohne Kenntnis des Vorgängers lesen und verstehen lässt. Jedem, der "Bis auf die Knochen" noch lesen will, möchte ich allerdings die korrekte Reihenfolge der Bände empfehlen, da in diesem Fall sonst der Anfang von "Nur die Asche bleibt" zu viel über die Ereignisse des ersten Bandes der Reihe verrät.
Im zweiten Band der Reihe geht es von Südamerika nach Toronto in Kanada, wo die Autorin ihr phantastisches Universum in konsequenter Weise erweitert. Da Nita zu Beginn unter Schutz der INHUP steht, habe ich mehr über diese Organisation erfahren, die an bzw. von Unnatürlichen begangene Verbrechen verfolgt. Zudem wird dieser Band von mehr gefährlichen Unnatürlichen bevölkert. Neben Zannies und was auch immer Nita und ihre Mutter eigentlich sind, spielen in diesem Roman Ghule und Kelpies zumindest in den Nebencharakteren eine größere Rolle. Diese Nebenfiguren sind eine der Stärken dieses Romans. Denn diese werden von der Autorin mit teils bewegenden, stets tragischen Hintergrundgeschichten ausgestattet, denen sie Raum gibt und so die menschliche Seite der Monster zeigt. In dieser Hinsicht hat mir gut gefallen, dass ich in diesem Buch mehr über das Leben und die Vergangenheit von Nitas treuem Zannie Begleiter und Freund Kovit erfahren habe.

Der Einstieg in "Nur die Asche bleibt" hat sich für mich ein wenig ruhiger gestaltet. Denn Rebecca Schaeffer hatte ihr Setting einzuführen und eine Vielzahl von Ereignissen sowie die Beziehungen der Figuren untereinander, die sich aus dem vorigen Buch ergeben haben, zu rekapitulieren. Danach geht die Autorin aber in die Vollen, sobald Nita in Toronto eintrifft. Die ersten Spannungsschübe, Nahkämpfe und Verfolgungsjagden lassen dann nicht lang auf sich warten, die Nita von einem Ende zum anderen der Stadt führen. Dass der Bewegungsradius in diesem Roman größer ist, trägt dabei zur Spannung bei. Im Vorgängerband noch hatte die Spannung für mich stellenweise unter den darin herrschenden, beengten Verhältnissen des Marktes gelitten, in dem Nita einen Großteil der Zeit in einem gläsernen Käfig verbringen musste. Die kurzen Verschnaufpausen, die "Nur die Asche bleibt" mir zwischen seinen actiongeladenen Szenen gönnte, wurden gut genutzt, um mehr über den oft so tragischen Hintergrund der von der Autorin eingeführten Nebenfiguren zu erfahren.
Angesprochen hat mich auch die Entwicklung, die Nita in diesem Roman durchläuft. Nita ist sich nicht nur ihrer Kräfte bewusster und weiß diese nun gekonnter einzusetzen. Wo sich im ersten Band der Reihe noch die Fragen in Nitas Kopf an einem gewissen Punkt zu wiederholen und im Kreise zu drehen begannen, wirkt sie nun spürbar reifer und reflektierter. Nitas Pläne sind ausgefeilter und raffinierter, obwohl sie das nicht vor schlechten Entscheidungen und Fehlschlägen schützt, die sie letztlich vom Regen in die Traufe kommen lassen.
Da "Nur die Asche bleibt" so spannend und offen wie "Bis auf die Knochen" endet, bin ich schon sehr gespannt auf den nächsten und finalen Band der Reihe. Wird Nita es schaffen ihre Träume zu verwirklichen? Und werden Kovit und sie eine Chance bekommen?