Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ein.lesewesen
Wohnort: 
ZW

Bewertungen

Insgesamt 99 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2023
Die Bücherjägerin
Beer, Elisabeth

Die Bücherjägerin


weniger gut

Vielleicht vorweg, wie erwartet, handelt es sich hier um eine äußerst leichte Lektüre, weshalb ich meine Ansprüche runtergeschraubt habe. Trotzdem konnte mich die »nette« Geschichte nicht erreichen, ebenso wenig wie die Protagonisten. Nun denn, schauen wir mal, woran das liegt.

Zum Inhalt sag ich nichts, der ist überall nachzulesen. Die Autorin hat sich echt bemüht, das ist in jeder Szene spürbar gewesen, denn alles funktionierte nach altbewährten Schreibratgebern. Will sagen, ich spüre zwar, dass sie hier ihr ganzes Herzblut reingesteckt hat, uns aber letztlich zu bemüht, zu verhalten und zu konstruiert eine Geschichte präsentiert, die nichts Neues erzählt. Ich denke, ihr fehlt die Erfahrung und sie sollte sich etwas mehr trauen, denn Talent hat sie.
Was uns hier als Roadtrip angepriesen wird, ist wohl eher eine Kaffeefahrt bei Sonnenschein und freier Autobahn. Allgemein wird etwas zu dick aufgetragen, denn unter einer »Odyssee« (dieses Wort benutzt die Autorin wiederholt) verstehe ich tatsächlich was anderes. Nun gut, dass Benjamin sich in seinem Heimatort London auf dem Weg zu seinen Eltern MIT Navi verfährt, ist schon echt abenteuerlich.
Also, man nehme zwei verpeilte Charaktere, Sara und Ben, und schicke sie nach einiger Diskussion auf eine Reise nach Frankreich. Gut denke ich, jetzt gehts los. Nein, erst mal gehts wieder in die Vergangenheit von Sara. Und das ständig. Irgendwie kam die Geschichte einfach nicht in die Gänge, maximal in den 2. mit angezogener Handbremse. Okay, irgendwann sind sie dort, passiert aber auch nicht wirklich was. Außer dass sie Bonnie und Clyde dort lassen. Ach ja, diese Schildkröten! Stand bestimmt auch im Schreibratgeber, dass sowas immer tierisch gut ankommt bei den Lesern. Ach komm, hauen wir gleich noch nen Uhu in die Story. Hey, was hatten die denn für eine Funktion?
Ihr merkt schon, hier baut sich latenter Frust in mir auf, sorry.

Mit den Figürchen hatte ich auch so meine Problemchen. Sara hat zwar ein Händchen für Bücher aber nicht für Menschen, hatten wir jetzt auch schon reichlich. Da tauchen während der Geschichte einige Ungereimtheiten auf. Und echt jetzt, sie glaubt, dass man mit einem Rechtslenker nicht durch Europa fahren darf? Oh man! Wenn hier ein Witz geplant war, dann hat sie ihn vor die Wand gefahren.
Überhaupt wirken alle Figuren wie auf dem Reißbrett gezeichnet, um in den Plot zu passen. Sara hätte auch jeden x-beliebigen Beruf haben können, denn es geht viel mehr darum, wie sie tickt und von Amalia erzogen wurde. Schade.
Mir ist auch die Zielgruppe noch nicht ganz klar. Teilweise kam es mir vor wie ein Aufklärungsbuch, mit Rätseln für Grundschüler. Dann spickt sie ihren Text wieder mit seltenen Fremdwörtern, aus denen sich nicht mal ein Sinn beim Lesen ergibt. Macht man nicht. (Inkommensurabel – ach ja, wer benutzt das Wort nicht täglich!)
Der Schreibstil ist sonst genregerecht leicht lesbar, bis auf die etwas seltsam anmutenden Genderexperminte, für die sie sich im Nachwort rechtfertigt. Ja, hier wollte die Autorin es wieder allen recht machen. Apropos recht machen: Die Autorin, so kommt es mir vor, will sich hier politisch korrekt am Zeitgeist entlang hangeln. Gefühlt befinden wir uns mehr in der Kindheit der Protagonistin, die von Amalie sowas von überkorrekt erzogen wurde, dass es mir schon unglaubwürdig vorkam. Sie hat wirklich nie, nie einen Fehler gemacht. Und wirklich kein Thema ausgelassen.

Und was ist denn nun mit der Jagd nach dieser Karte? Hab ich mich auch ab und zu gefragt. Das läuft so nebenbei mit. Auch hier ist manches an den Haaren herbeigezogen, wenig abenteuerlich aber mit peinlichen Äußerungen gegenüber den Briten bestückt. Wo die Autorin doch so drauf bedacht ist, keinen zu diskriminieren.

Bestimmt wird das Buch vielen gefallen. Für mich war es ein kurzer Ausflug ins völlig falsche Genre, das mich eher augenrollend zurückgelassen hat.

Bewertung vom 15.08.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird derweil von ihrem Sohn und seiner schwangen Frau auf dem Sperrmüll entsorgt. In den einsamen Stunden drängen nach und nach alte Erinnerungen ans Licht.
Damals in den 60ern lebte sie mit Anfang 20 noch bei ihren Eltern. Eingeengt von deren autoritären Erziehung und konservativen Wertvorstellungen blieb kaum Freiraum für ihre persönliche Entwicklung, geschweige denn für ihre Träume und Wünsche. Dann verliebte sie sich in den verheirateten Otto und wurde trotz aller Vorsicht schwanger – ein absoluter Skandal, vor allem für ihre Eltern.

»Du bist eine ordinäre Schlampe!« … die Worte ihrer Mutter.

»Du musst es zur Welt bringen und danach vergessen.« … die Worte ihres Vaters.

Diese Worte blieben mir beim Lesen fast im Hals stecken. Für mich unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit wohl keine Seltenheit.
Jetzt mit über achtzig Jahren kehren alle Erinnerungen zurück, die sie verdrängt und nie jemandem erzählt hat. Auch nicht ihrem Louis, den sie später geheiratet hat und mit dem sie sehr glücklich war. Doch sie spürt, dass das Erlebte heraus muss, dass sie sich endlich aussprechen muss.

Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. Schon bei Friedas erster Nacht im Heim hatte der Autor mich emotional voll am Wickel. Vielleicht liegt es an meinem Alter und dass mich vielleicht nicht mehr allzu viele Jahre von dem Thema Pflege trennen. Es war fast fühlbar, wie unsicher Frieda war in der neuen, fremden Umgebung, wie sie unwirsch wird, ihr alles zu viel wird. Ihre Scham, auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Die Spannungen zwischen ihr und ihrem Sohn, das Unverständnis füreinander. Langsam reift in ihr der Vorsatz, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und nicht mehr zu schweigen.

Auch die junge Frieda mit ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, nach Freiheit, Liebe und Verständnis, konnte Robben sehr authentisch einfangen. Doch ab dem Moment, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen konnte, hat es mich innerlich zerrissen. Ich war schockiert, weil es sich trotz Fiktion so real angefühlt hat. Robben hat einen sehr einfühlsamen Schreibstil, sehr lebendig und schafft eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Die abwechselnden Zeitebenen in jedem Kapitel treiben die Geschichte in einer Geschwindigkeit voran, dass mancher Krimi daneben verblassen würde. Verschnaufpausen sind kaum drin.

Ich denke, die meisten von uns kennen die 60er Jahre nur aus Erzählungen, zumindest geht es mir so. Dennoch ist uns das Rollenbild der Frau aus der Zeit bekannt. Sittsamkeit, Jungfräulichkeit, Unterordnung werden von der Kanzel gepredigt. Und »ist es doch mal passiert«, schweigt man es tot, löst man es ungesehen vor der Nachbarschaft, ja sogar vor dem Rest der Familie. Und die Lösung hieß in den meisten Fällen, dass die Mutter das Kind wegzugeben hatte. Und die Kirche hatte dabei keinen unerheblichen Anteil.
Mit Frieda hat Robben hier stellvertretend eine Frauenfigur geschaffen, die dieses Schicksal duldsam, schweigsam hinnahm, die ohnmächtig gegenüber der damaligen Moralvorstellungen war. Die aber beeindruckende Stärke zeigte, sich nicht dem Schicksal untergeordnet hat und mit Louis eine zweite Chance auf eine glückliche Beziehung bekam und Mutter wurde.

Bewertung vom 12.08.2023
Meine langen Nächte
Fabiani, Ilva

Meine langen Nächte


ausgezeichnet

»Ich war eine braune Schwester, Dienstnummer 2712207. Ich war die einzige in der gesamten Klinik und die erste in Göttingen.« S.198

»Ich war noch keine dreißig Jahre als, als ich starb, in einer Dezembernacht.« S.8

Anna Alrutz ist jetzt nur noch ein ruheloser Geist. Nach ihrem frühen Tod wird sie immer wieder vom Wind erfasst, nach oben getragen und in die Bruchteile ihres Lebens fallengelassen. Aus dieser ungewöhnlichen und gelungenen Perspektive erzählt Anna von ihrem Leben, das sie nun wieder und wieder durchleben muss.

Anna entstammt einem liberalen, gut situierten Elternhaus in Braunschweig. Sie selbst sieht in sich ein beliebiges blondes Mädchen. In ihrer Kindheit verbringt sie die Sommerferien mit ihrer Familie in Salzgitter. Hier verliebt sie sich als Jugendliche unglücklich in einen verheirateten Pastor.
Sie ist ein freiheitsliebendes, wissbegieriges Kind, ihren Bruder Willi, der ständig isst, wird sie nie richtig verstehen. Ihre Schwester Hedwin kränkelt von Geburt an und ihr Leben findet nur hinter Stickereien und dem Klavier statt. Wie ihr Vater will Anna Ärztin werden und beginnt als eine von vier Frauen ihr Medizinstudium.
Wie wird aus ihr eine NS-Schwester, die gemeinsam mit einem Arzt Frauen mit Erb- und Geisteskrankheiten zwangssterilisiert? Die aus vollster Überzeugung hinter Hitlers Ideen steht?
Diese Fragen versucht Fabiani in ihrem fiktiven Roman – der dennoch eine gewisse Realitätsnähe spüren lässt – zu beantworten. Es fühlt sich wie eine Beichte Annas an, wenn sie versucht zu zeigen, wie unbedarft sie war, enttäuscht von einer unerfüllten Liebe, zurückgewiesen. Wie schnell Propaganda bei Jugendlichen einen sensiblen Nerv trifft.

»Mach den Wald zu einem Ort voller Menschen verschlingender Ungeheuer und halte den verängstigten Mädchen dann deinen starken Arm hin, und sie werden dir folgen.« S.107

Fabiani gelingt es, den Zeitgeist der Zwischenkriegsjahre einzufangen, die Suche nach Ordnung und Struktur einer jungen Frau, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten will. Die sich aber genauso nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt. Annas Geist kommentiert und reflektiert ihre Kindheit und Jugend und allmählich begreifen wir, warum die Nazi-Ideologie in ihr auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Wäre da nicht Thierry, der französische, jüdische Medizinstudent, in den sie sich verliebt. Wäre da nicht ihre Freundin aus Kindheitstagen, die in die Klinik eingeliefert wird. Denn plötzlich gerät ihre Überzeugung ins Wanken.

»Ich würde sie hier gerne noch einmal treffen, hinter einer dieser Türen, all diejenigen, die wir nicht retten konnten. Ich würde ihnen gerne sagen, dass ich von einer ungeheuerlichen Idee besessen war, die ich für richtig und nützlich hielt. Dass ich mich verirrt hatte, vollkommen geblendet war …« S.173

Fabiani hat mich mit ihren poetischen Worten durch ihre bewegende Geschichte getragen, mal humorvoll und leicht, doch zunehmend düster und tragisch. Am Ende lastet es schwer auf der Seele, wenn man versteht, wie leicht Menschen zu manipulieren sind. Natürlich geht es auch nicht spurlos an einem vorbei, wenn man die kruden Theorien hinter der Zwangssterilisation liest und die direkten Auswirkungen von Annas Arbeit sieht.
Ein Buch, das berührt, das nicht leicht zu ertragen ist und lange nachhallt. Ein Roman mit Tiefgang, dem ich sehr viele Leser*innen wünsche.

Bewertung vom 10.08.2023
Der berühmte Tiefpunkt
De Gryse, Amarylis

Der berühmte Tiefpunkt


ausgezeichnet

Mariekes Sommerklamotten stecken in der Maschine im Waschsalon fest und sie lebt mehr oder weniger in einem Mietwagen, nachdem ihr Freund Blok sie aus dem seelenlosen Reihenhaus geschmissen hat. Jetzt läuft sie mit Jeans und Pullover durch die unerträgliche Sommerhitze, muffelt schon vernehmbar und Blok hat auch noch ihr gemeinsames Konto gesperrt. Ist das schon der berühmte Tiefpunkt? Nein, damit nicht genug. Im Altersheim muss sie allein Frühschicht schieben, das Haus ist bis auf ihre Station leer, denn alle anderen Bewohner sind bereits in den klimatisierten Neubau umgezogen. Nur gut, dass die meisten am nächsten Tag vergessen haben, dass es mal wieder Wurst mit Apfelmus gibt, so wie schon am Tag zuvor, und dem davor, und dem davor …
Na und wenn schon das ganze Leben über ihr zusammenstürzt, dann doch gleich richtig. In Mareikes Kindheit gab es einen Vater, an den sie sich nur bedingt erinnert, der ihr aber ausgerechnet jetzt über den Weg laufen muss.

Der niederländische Originaltitel »Varkensribben«, also Schweinerippen, zeigt, dass es hier ganz viel um Essen geht. Und das macht Marieke, alles in sich hineinfressen – im doppeldeutigen Sinn. Wie lange aber kann das gutgehen? Ich tat mich anfangs schwer, mit ihr warm zu werden. Das lag daran, dass ich nicht verstehen konnte, warum sie sich das alles von ihrem Freund, dem verwöhnten Muttersöhnchen und dessen übergriffiger Mutter gefallen ließ. Doch die persönliche Tragödie der nicht immer zuverlässigen Ich-Erzählerin entwickelt sich langsam zu einer Anklage gesellschaftlicher Missstände. Allen voran den Lebens- und Arbeitsbedingungen im Altenheim.

»Gleich geht meine Schicht los. Ich bin allein. Wenn ich meinen Pflegewagen von einem Zimmer ins nächste rolle, weiß ich genau, wie viel Zeit ich pro Person mit Waschen und Anziehen zubringen darf. Und ich weiß genau, vor welchem Zimmer ich erst noch mal tief durchatmen und mir sagen muss: ›Ich werde nicht die Geduld verlieren, weil ich keine Zeit habe für Gemächlichkeit oder Verwirrung oder beides.« S.25

Je mehr ich von Mariekes Leben erfuhr, umso mehr wuchs sie mir ans Herz, ich spürte ihre Verletzlichkeit, ihre Einsamkeit und Hilflosigkeit. Und das eint sie mit den Bewohnern des Heims. Ja manchmal wünscht sie sich, dass auch sie sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnern könnte.
Es ist eine Geschichte über Einsamkeit, Fürsorge und Hilfsbereitschaft und zeigt, dass Essen eben doch nicht die wahren Gefühle ersetzen kann.
De Gryse ist hier ein wirklich beachtliches Debüt gelungen, das ständig zwischen Komik und Tragik schwankt. Ihr Schreibstil ist frisch und schnörkellos mit einem guten, trockenen Humor. Ihre Figurenpalette reicht vom Oberekel Blok bis zum liebenswerten »Opa« Jozef. Und am Ende mochte ich sie alle gar nicht loslassen. Sie hält die Spannung auf einem guten Level, weil man natürlich wissen will, warum sie nun bei ihrem Freund rausgeflogen ist. Dazu kredenzt De Gryse uns noch so manche Wendung, die alles ordentlich »durchrührt« – um jetzt mal beim Essen und Kochen zu bleiben. Ach ja, bitte nicht mit leerem Magen lesen, es könnte Spuren von Appetit enthalten.

Beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit und doch Direktheit sie die Finger in die Wunde unserer Zeit legt, ohne anzuklagen oder zu bewerten. Und nach meinen kurzen Anfangsschwierigkeiten entwickelte sich eine Geschichte, die mir richtig ans Herz ging. Und die zeigte, dass ein Tiefpunkt noch lange kein Grund ist aufzugeben, wenn man die richtigen Menschen in sein Leben lässt und sein Leben selbst in die Hand nimmt.

Bewertung vom 08.08.2023
Mattanza
Fabiano, Germana

Mattanza


ausgezeichnet

»Eleonora war ein nicht eingelöstes Versprechen; sie war das Kind, das als Junge zu Welt hätte kommen sollen, und das war ihr nicht gelungen. … In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die Tonnaroti erkannt, dass selbst Gott nicht unfehlbar war, an Eleonora klebte der Fluch der Insel, und niemand konnte etwas dagegen tun.« S.10

Seit Jahren warten die Bewohner Katrias auf einen neuen Anführer des Thunfischfangs, der seit Jahrhunderten derselben Familie entstammt. Doch es wird kein männlicher Erbe geboren, also beschließt der alte Raìs, seine Enkelin Nora zu seiner Nachfolgerin zu machen. An einem Ort wie Katria, wo Aberglaube die Wahrheit ist und Legenden die Geschichte, ist man mehr als skeptisch. Von klein auf spürt Nora, welche Last auf ihren Schultern liegt, wie hoch die Erwartungen an sie sind und welche Entbehrungen es sie kostet. Denn als letzter Raìs trägt sie die Verantwortung über das Wohlergehen der gesamten Dorfgemeinschaft.
Es ist die Geschichte der sizilianischen Insel Katria, auf der seit ewigen Zeiten der Thunfisch traditionell bei der jährlichen Tonnara gefangen wird. Ein interessantes, orchestriertes wenn auch blutiges Unterfangen, das uns die Autorin eindrücklich schildert. Es sind die Jahre der vollen Netze als Nora mit 19 ihr Schicksalserbe antritt und sie beweist Geschick, weiß, wann die Schwärme in die letzten Netze schwimmen. Es werden rauschende Feste gefeiert, ausgerichtet von den Filangeris, den Besitzern der Tonnaro und der Fischfabrik.
Doch es ist auch die Geschichte des Mittelmeers bis 2012. Es sind die Jahre der Veränderung, der Wasserverschmutzung, der Überfischung, der Flüchtlinge. Kann Nora die Tradition der Insel bewahren? Wie weit ist sie bereit zu gehen?

Wow, unglaublich, was für eine fulminante Geschichte sich hier entwickelt. Und sie hat mich zu Tränen gerührt, so viel vorweg. Vergessen wir aber für einen Moment den archaischen, blutigen Thunfischfang, hier geht es um so viel mehr. Hier geht es um die Auswirkungen von globalen Veränderungen auf eine kleine Insel am Rand von Europa. Auch eine Art Schicksal, das über sie hereinbricht, dem man sich einerseits ergeben kann, aber anderseits gleichen alle Bemühungen, die man unternimmt, einem Kampf gegen Windmühlen. Denn nichts anderes ist es, eine Parabel unserer modernen Welt.

»Nur dreiundzwanzig Thunfische. Sie hat gehört, wie rund um ihre Welt hundert andere Dinge geschehen sind, die der Auslöser für so etwas sein konnten, und dies ist wiederum der nie bewiesene Grund für hundert andere Dinge. Sie hat die perfekte und unergründliche Synchronizität der Ereignisse gespürt, an denen auch sie beteiligt ist, Filter und Katalysator, Priesterin und Opfer einer Welt, die ihr nun nur dreiundzwanzig Thunfische hinterlassen hat und Schulden, die niemand bezahlen kann.« S.152

Fabiana hat hier ein grandioses Werk auf nur 192 Seiten geschaffen, eine Hommage an ihre Heimat, in der sie gekonnt die sizilianische Seele eingefangen hat. Sie erzählt eindringlich und voller scharfer Beobachtungsgabe von Gemeinschaft und Zusammenhalt, Hilflosigkeit und Mut, vom Zusammenbruch einer traditionellen Welt, während man in Brüssel und Tokio Entscheidungen fällt.
Es ist ein aufrüttelndes Buch mit ein wenig Hoffnung am Ende, das ich leider nur durch einen Tränenschleier sehen konnte. Ganz großes Kino.

Wie ich herausgefunden habe, gehört es zu einer Trilogie über Sizilien »Concerto Siciliano«, wobei alle drei Bücher in unterschiedlichen Zeiten spielen. Ich hoffe sehr und wünsche es mir, dass der Mare Verlag die anderen auch noch ins Deutsche übersetzt. Mattanza wird einen Platz in meinem Herzen haben.

Am Ende des Buches befindet sich eine Zeichnung, in der man den Aufbau der Tonnara sehen kann. Sie ist ein raffiniertes Fangsystem aus Netzen, ähnlich einem Labyrinth, durch das die Fische bis in die Todeskammer schwimmen. Dort beginnt das blutige Abschlachten, die Mattanza. (Auch wenn paradox ist, bleibt es doch ein nachhaltiges und faires Fischen.) Für mich steht der Titel »Mattanza« sinnbildlich für das Ausbluten der kleinen Inseln.
Inspiriert zu der Geschichte wurde die Autorin durch einen Besuch der ehemaligen Fischfabrik auf Favignana, die heute als Museum dient.

Bewertung vom 05.08.2023
Treue Seele
Freeman, Castle

Treue Seele


ausgezeichnet

Castle Freemans Bücher haben für mich zwei große Vorteile: Erstens sind sie recht kurz und gleichzeitig kurzweilig und zweitens sind sie einfach zum Schmunzeln. Aber diesmal habe ich sogar laut gelacht – und das passiert bei mir echt selten.

1990 trifft Port Conway zum ersten Mal auf die bildschöne Lucy.

»Wie alt war sie wohl? Dreizehn? Vierzehn? … Wahrscheinlich brachte sie schon die nicht mehr so kleinen Jungs um den Verstand. In ein paar Jahren würde es wehtun, sie anzusehen. Aber sie saß hier fest, in diesem Loch. Eine Blume – ein Krokus, eine Lilie im Schlamm.« S.20

Port ist als Volkszähler unterwegs und wird von Lucys sturem Vater Pop kurzerhand rausgeschmissen. Auch Lucy denkt nicht daran, ihm ein paar Fragen zu beantworten. Aber Port hat Zeit, in 10 Jahren ist die nächste Volkszählung – und Lucy erwachsen.
Und in der Zwischenzeit passiert, was halt so passiert auf dem einsamen Land in Vermont. Port wird zum Einsiedler, Lucy lebt inzwischen bei ihrer großen Halbschwester Connie und verliebt sich – nur leider nicht in Port. Auch wenn der sich nichts sehnlicher wünscht. Connie hält eh nicht viel von Port, aber er ist nun mal der beste Freund ihres Mannes Cliff.
Lucy hingegen weiß genau, was sie will, sie hat Pläne – möglich weit von diesem Dorf und diesem Leben wegzukommen. In puncto Männer lässt sie sich nichts sagen, hat aber irgendwie kein glückliches Händchen. Und ganz langsam gerät über die Jahre so einiges aus den Fugen. Und darüber muss man reden, Port mit Cliff und Cliff mit Connie. Und Lucy will nichts davon hören.
Es reicht ja nicht, dass Freeman mich mit seinen trockenen und lakonischen Dialogen schon überzeugt hat. Nein, er will, dass wir Lesenden mitten drin sind im Dorfleben. Dafür erzählt er abwechselnd aus der Sicht von Cliff, Port und Connie. Dadurch ergeben sich wunderbar vielschichtige Charaktere mit Kanten und Ecken.

Freeman überzeugt durch seine humorvolle und empathische Art zu erzählen, von geplatzten Träumen, Versagern und Verbrechern und ganz normalen Hinterwäldlern, die ihr Leben leben. Hier ticken halt die Uhren langsamer. Sheriff Wing hat diesmal nur einen Kurzauftritt, zeigt aber, dass seine ganz eigene Strategie wieder funktioniert.
Und Freeman hält uns bei aller Kurzweiligkeit zusätzlich bei der Stange, denn im Prolog erfahren wir, dass Port in nur wenigen Minuten vor den Traualtar treten wird. Wie viele Volkszählungen er wohl durchführen musste, bis es so weit war? Nur so viel sei verraten, es lagen einige Stolpersteine im Weg. Zum Glück ist Port ein geduldiger Mann und eine treue Seele.

Bewertung vom 04.08.2023
Erzähl's nicht deinem Bruder
Shalev, Meir

Erzähl's nicht deinem Bruder


sehr gut

Itamar Diskin, der in den USA lebt, und sein Bruder Boas treffen sich seit Jahren in Israel zur sogenannten Brüdernacht, in der sie sich betrinken und über ihre Familie und Itas Frauengeschichten reden. Beide sind inzwischen über sechzig, vertragen auch den selbstgebrannten Feigenschnaps nicht mehr so gut. Ita, der ältere der beiden, ist nicht nur sehr schön, sondern auch sehr kurzsichtig.
Wir Leser*innen begleiten Ita, den Ich-Erzähler, eine Nacht lang, in der er Boas von einer Nacht erzählt, die 20 Jahre zurückliegt. Allein seiner auffallenden Schönheit ist es zu verdanken, dass er sich in ein erotisches Abenteuer mit einer Frau verstrickt, die ihn von der Bar weg in sein Bett schleppt. Und diese Frau, die sich Sharon nennt, nimmt ihm seine Brille weg – in einem ihm fremden Haus, irgendwo inmitten eines Gewirrs aus Feldwegen, zwischen Zitrushainen, Gemüsebeeten und Avocadoplantagen.

Es war mein erstes Buch von Shalev und ich war sehr gespannt, denn seine Erzählkunst wird überall hoch gelobt. Und das zu recht, wie ich festgestellt habe. Man muss sehr aufmerksam beim Lesen bleiben, denn Itas Erzählungen über Sharon vermischen sich mit den direkten Erwiderungen seines Bruders, schweifen ab zu anderen Episoden seines Lebens, um unvermittelt wieder an die seltsame Nacht anzuknüpfen. Denn es gibt noch eine Frau in Itas Leben – oder besser gesagt, es gab sie – die ihm noch immer durch den Kopf spukt und jetzt auch durch seine Geschichten. Das lässt Boas nicht unkommentiert, mal witzig, bissig, mal ungeduldig und spöttisch. Ich mochte das sehr, wie Shalev das liebevolle Verhältnis der Brüder beschrieben hat, und es entlockte mir oft ein Schmunzeln.

Die ganze Unterhaltung wird immer wieder mit Szenen aus ihrer gemeinsamen Kindheit gemischt, ihre schwierige Beziehung zu ihren Eltern und der noch schwierigeren Beziehung zwischen Mutter und Vater. Dadurch entsteht eine komplexe Geschichte mit Zeitsprüngen, die Shalevs großes erzählerisches Talent zeigt, alle Fäden zusammenzuhalten, sodass man nie den Überblick verliert.
Es ist zwar eine Geschichte über einen Mann, der scheinbar unter seiner Schönheit leidet, aber es ist auch eine Geschichte über Beziehungen. Zwischen den Eltern an sich, zwischen den Eltern und Kindern und den Brüdern. Und nicht zuletzt zu seiner großen Liebe Michal.
Alles ist mit allem verknüpft, lässt sich nicht losgelöst voneinander betrachten. Und so greift es ineinander, wie auch Shalevs Erzählstränge.
Leider hatte ich so meine Probleme mit Sharon im Zusammenspiel mit Ita, bei dem mir keiner der beiden sympathisch war und dass die Spannung durch die Abschweifungen immer wieder abflachte. Aber das mag Geschmacksache sein und tut meinem Gesamteindruck keinen Abbruch.

Mein Fazit: Meir Shalev war ein grandioser Erzähler, der sein Handwerk in Perfektion beherrschte. Allein deshalb lohnt sich das Buch. Ich werde mir nun nach und nach seine älteren Werke zu Gemüte führen.

Bewertung vom 02.08.2023
Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art
Gruber, Matthias

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art


ausgezeichnet

Ich schwärme ja selten für ein Cover, aber hey, hier kann ich nicht anders. Wie schön ist das denn bitte? Und ich bin so froh, dass ich es lesen durfte, denn der Inhalt steht dem Cover in nichts nach.

Arielle, 14, ist anders als andere, wäre aber gern wie sie. Denn sie hat kaum Haare auf dem Kopf, nur Stummelchen als Zähne, aber was sie besonders belastet in diesem heißen Sommer, sie kann nicht schwitzen. Sie muss ihren Vater unterstützen, der die Wohnungen von Verstorbenen ausräumt und alles Nichtverwertbare anschließend auf den Müllplatz entsorgt. Von dort bringt er alte Festplatten mit, die sie gemeinsam nach Kryptowährung durchsuchen. Doch Arielle findet viel Spannenderes – das Leben anderer Menschen auf Fotos.

»Ich fand Bruchteile von gelebten Leben, in Nullen und Einsen übersetzt, verloren, vergessen, weggeworfen.« S.37

»Und ich fand Pauline.
Pauline, die beim Eislaufen denselben Strickpullover trug wie ihre Mutter.
Pauline, die ihre rot lackierten Zehen in türkisem Seewasser baumeln ließ.
Pauline, die auf dem Handtuch neben dem Sprungturm lag, das Kinn auf beide Arme stütze …« S. 41

Pauline, ein schönes Mädchen, wie geschaffen für Social Media – das Gegenteil von Arielle. Mit Pauline richtet sie sich einen Fake-Account ein und bekommt endlich etwas Aufmerksamkeit. Auch Arielles psychisch labile Mutter erkennt das Potenzial von Paulines schönem Gesicht und nutzt den Account für ihre Zwecke.
Und da ist noch Aljoscha, ihr bester Freund, der in seinem Studio neben der Müllkippe ausrangierte Schaufensterpuppen mit Lumpen einkleidet. Und Yasmin, ihre beste Freundin, »die für FireFly die hässlichen Stellen aus ihrem Leben schnitt wie matschiges Fruchtfleisch aus einem zu Boden gefallenen Apfel.«

Treffend und oft witzig zeichnet Gruber ein Gesellschaftsporträt. das unser Leben zwischen Realität und Social Media widerspiegelt. Eine Jagd nach Klicks und Aufmerksamkeit mit all seinen Tücken.
Es ist ein trauriges Buch mit einer sehr außergewöhnlichen Hauptfigur und einem Funken Hoffnung. Es geht um Verlockungen, Versprechungen und Fakes im Internet und wie leicht man ihnen erliegen kann. Arielle, die gern so sein möchte wie die anderen Mädchen in ihrem Alter, die sich das Lächeln der Models aus Zeitungen schneidet, um zu sehen, ob es ihr steht. Gruber erzählt von Vereinsamung und Erwachsenwerden irgendwo am Rand der Stadt zwischen Social Media und Müllkippe, wo Träume und Wünsche wie Seifenblasen platzen.
Gruber schreibt sehr unterhaltsam und tiefgründig, findet großartige Bilder und Worte für ein Mädchen, das vielleicht das Erste ihrer Art ist.
Ich hoffe, dass wir in Zukunft noch viel von ihm lesen werden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.07.2023
Intimleben
Ammaniti, Niccolò

Intimleben


sehr gut

»Die majestätische Haltung, die Proportion der Gliedmaßen, die schmalen Fesseln, die … Füße, die Haut, die so zart ist wie das Blütenblatt einer Hundsrose, sind die Inkarnation ewiger Schönheit, die Künstler sämtlicher Epochen, von Phidias bis Picasso, in den Bann geschlagen hat.« S.16

Alles an Maria Cristina Palma ist perfekt und das macht sie laut einer Studie an der Universität in Louisiana zur schönsten Frau der Welt. Und sie ist die Gattin des italienischen Ministerpräsidenten Mascagni, Mutter einer 10-jährigen Tochter und ehemaliges Model.
Immer beobachtet von den Medien, kann sie keinen Schritt gehen, ohne die Reaktion darauf umgehend in der Presse zu lesen. Sie weiß nicht, wann sie zum letzten Mal shoppen war, verlässt das Haus nie ohne Bodyguards, und ihre Assistentin plant jeden Schritt voraus. Und ein ominöser Medienguru namens Raupe weiß genau, was in den sozialen Netzwerken am besten ankommt.
Doch dann begegnet sie Nicola Sarti. Der smarte, braungebrannte, erfolgreiche Unternehmer, mit dem sie ein paar lustvolle, ausgelassene Tage auf der Jacht ihres Bruders vor vielen Jahren hatte. Maria Cristina kann sich kaum erinnern, so tief hat sie diese Zeit in ihrem Inneren vergraben. Doch Nicola schickt ihr Fotos, dummerweise auch ein eindeutiges Video, in dem beide eine Hauptrolle spielen. Dieser Film könnte wie ein Erdbeben ihre schillernde Fassade zum Einsturz bringen und die Karriere ihres Mannes beenden. Es ist aber auch die Chance für eine Veränderung.

Ammaniti fungiert hier selbst als allwissender Erzähler, mischt sich immer wieder ein, sodass es fast aussieht, als halte er eine Lupe auf Maria Cristina. Er enthüllt uns Leser*innen das intime Leben der Protagonistin. Ja, er zeigt uns sogar, wie diese Grazie auf einer Toilette sitzt (ja, nicht mal hier hat sie ein Stück Privatsphäre), während ihre Assistentin sie vor der Kabine verhöhnt: Sie sei oberflächlich, kriege nichts mit, was um sie herum läuft, nicht mal die Fremdgeh-Gerüchte um ihren Mann. Er lässt uns an ihren intimsten Gedanken teilhaben, entblättert sie, entblößt sie, lässt sie kopfüber in einem verstopften Kamin hängen.

Und während er Maria Cristina vom »Make-up« befreit, kommen schmerzhafte Erinnerungen aus ihrer Kindheit zutage. Ihre Depressionen, ihre Einsamkeit neben einem Mann, der nie da ist; niemanden zu haben, dem sie wirklich vertrauen kann. Wer ist sie wirklich hinter ihrer schönen Fassade?
Das Video scheint sie endlich wachzurütteln und ihr jämmerliches Dasein überdenken zu lassen.

»Nichts von all dem, das sie bis heute getan hat, erscheint ihr als freiwilliger Akt, als echtes Bedürfnis oder angestrebtes Ziel, Verwirklichung. Die Männer entscheiden sich für sie wie für einen preiswürdigen Rassewindhund. Sie schwängern sie, um einen Erben zu haben und zu sehen, ob der Chromosomenmix zu einem klugen und obendrein hübschen Wurf taugt.« S.128

Ein einsames Leben zwischen Schein und Sein für eine perfekte Selbstinszenierung. Es geht um Selbstbestimmung, Vertrauen, Wahrheit, Authentizität, Moral und Gewissen. Ammaniti hält uns den Spiegel vor. Was geben wir von uns Preis, was halten wir verborgen – ist das alle nur eine große Täuschung?
Ammaniti schreibt unterhaltsam mit einem guten Humor, und er nimmt kein Blatt vor den Mund, legt den Finger in jede Wunde. Was bleibt, wenn man nackt vor einem Spiegel aus Angst und Lügen steht?

Ich freue mich, dass der Eisele Verlag auch seine älteren Werke wieder als Taschenbuch aufgelegt hat und werde sicher noch etwas von ihm lesen.

Bewertung vom 25.07.2023
Drifter
Sterblich, Ulrike

Drifter


sehr gut

Wenzel und Killer verbindet seit Kindertagen eine tiefe Freundschaft. Beide haben sich aus dem einfachen Milieu, in dem sie aufgewachsen sind, rausgearbeitet. Wobei Killer, der mit bürgerlichen Namen Marco Killmann heißt, eher der smarte Karrieretyp ist, der PR-Direktor werden will anstelle des PR-Direktors, immer ein paar Mädels im Schlepptau hat und Wenzel ihn irgendwie dafür bewundert. So wie an dem Tag, als sie auf der Pferderennbahn unterwegs sind. Doch nach dem Rennen wird Killer vom Blitz getroffen und das hat unübersehbare Auswirkungen.

»So, dachte ich, jetzt ist es amtlich: Bei Killer hatte sich was verschoben. Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.« S.74

Wenzel, der Ich-Erzähler dieser teils skurrilen, manchmal witzigen Geschichte erinnert sich an Vica, die Frau im goldenen Kleid, der sie in der S-Bahn begegnet sind. Hat sie nicht einen Blitz in die Luft gemalt, als sie am Aussteigen waren? Doch das war erst der Anfang von vielen Merkwürdigkeiten, die noch folgen.
Natürlich werden sich vor allem Wenzels Wege mit der ominösen Dame Vica (den vollen Namen samt Adelstitel erspare ich euch hier) wieder kreuzen, denn in seiner Hosentasche ist gleich eine ganze Liste von Fragen, die er ihr stellen will. Zum Beispiel woher sie das Buch »Elektrokröte« von seinem Lieblingsschriftsteller Drifter hatte, das noch gar nicht auf dem Markt ist. Und warum weiß sie sie so viel von ihm?
Nun aber zu dem neu sortierten Geschirr von Killer. Er wird seinen Job hinschmeißen, sein 1000 Euro teures Handy zertreten und zurück an die Peripherie in den Ranunkelring ziehen. Ein halb leerstehender Plattenbau, in dem seine Mutter noch lebt und Vica sich mit ihrer Firma einmietet.

In Vicas Schlepptau treten auf: ein zotteliger Hund, der eine gute Erziehung genossen hat und tanzen kann, eine etwas schrille Assistentin und ein farbenfroher Adjudant namens Heurtebise.
Nun ja, ihr merkt schon, das Ganze klingt nicht gerade nach einem ernstzunehmenden Roman und so ist es auch. Es wird herrlich schräg, Vica stellt nicht nur das Leben der beiden Bros auf denn Kopf, sondern auch den gesamten Wohnblock. Dabei gehts an manchen Stellen doch eher etwas fantastisch zu, im wahrsten Sinne des Wortes. Ulrike Sterblich verteilt einige Seitenhiebe auf die Medienwelt, lässt uns in ein ominöses Online-Forum blicken und verzaubert mit ein paar magischen Darbietungen. Anlagetipps gibst es bei der Vorstellung gratis dazu. Was? Ihr meint, das passt doch nicht? Sorry, ich habe das nicht erfunden, die Autorin war’s.

Also, ich würde sagen, wenn ihr einen freien Nachmittag habt, eine herrlich abgedrehte Geschichte über eine Männerfreundschaft lesen wollt, ein paar mysteriösen Verschwörungstheorien inklusiv bissiger Medienkritik – von einer Autorin, der die Ideen scheinbar nicht ausgehen, dann zieht euch die 286 Seiten Drifter rein, dazu was leckeres Hochprozentiges und der Tag ist gerettet. Nett war’s.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.