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darkola77

Bewertungen

Insgesamt 72 Bewertungen
Bewertung vom 04.06.2022
Die neue Wildnis
Cook, Diane

Die neue Wildnis


ausgezeichnet

Ein bequemes Bett oder ein Schlafplatz auf dem Waldboden? Der Gang in den Supermarkt oder die Jagd auf wilde Tiere? Das Siechtum Deines Kindes oder eine letzte Chance auf sein Überleben?
Um das Leben ihrer Tochter zu retten, entscheiden sich Bea und Glen zu einem ungewöhnlichen Schritt: Als Teilnehmer*innen einer Studie lassen sie die Stadt mit ihren krankmachenden Lebensbedingungen hinter sich und durchwandern als Teil einer Gruppe die schier endlose Weite des Wildnisstaates. Das Leben als Nomad*innen verlangt ihnen dabei alles ab, und neben Unterernährung, Verletzungen und Todesfällen sind es vor allem die sozialen Konflikte, die den Mitgliedern zusetzen und einen Großteil ihrer Gedanken und Kräfte einnehmen.
Trotz all der Widrigkeiten scheinen Bea und Glen ihr ursprüngliches Ziel erreicht zu haben: Ihre Tochter Agnes wächst zu einem starken, selbstbewussten Mädchen heran, wird Teil der sie umgebenden Natur und Ordnung, emotional dabei verschlossen und abweisend ihrer Mutter gegenüber.
Bestimmt wird das Leben der Gruppe jedoch nicht nur von der Wildnis und den Lebensbedingungen, welche diese ihnen bietet, sondern auch von den Rangern als Vertreter des Staates, die mit Vorgaben, Regelungen und Sanktionen die Menschen sowohl auf deren Wanderungen lenken als auch deren Annehmlichkeiten auf ein absolutes Minimum beschränken – und sie dabei scheinbar zunehmend ihrer Willkür aussetzen.
Der Einbruch der Außenwelt in das abgeschottete Leben der Gruppe lässt zunehmend Fragen nach dem Fortbestand der Studie wie auch nach Vorgängen in dem Wildnisstaat aufkommen, welche darauf hindeuten, dass zentrale Informationen und Entwicklungen deren Mitgliedern vorenthalten werden. Doch wie soll es für die Menschen weitergehen, wenn sie tatsächlich die Wildnis verlassen müssen? Die Ungewissheit über die eigene Zukunft zerrt nicht nur an den Nerven der einzelnen sondern scheint sie in dieser zentralen Frage auch als Gruppe zu spalten.
Dass wir Menschen in den Industrieländern verschwenderisch mit unseren Ressourcen umgehen, ist uns bekannt, die Auswirkungen dessen mögen sich viele von uns aber nur ungern vor Augen führen. Diane Cook scheut sich nicht davor, ein mögliches Szenario aufzuzeigen, wohin uns Klimawandel, Umweltverschmutzung und Überbevölkerung führen können. Das alles gelingt ihr, ganz ohne den „mahnenden Zeigefinger“ zu erheben sondern ausschließlich in Form eines packenden Pageturners – der vielleicht nicht mehr lange im Bereich der Science Fiction bleiben wird.

Bewertung vom 26.05.2022
Amelia
Burns, Anna

Amelia


sehr gut

Ein Krieg auf den Straßen und in den Herzen der Menschen – die Troubles in Nordirland zerreißen ein Land und dessen Bewohner*innen, bilden einen Riss mitten durch die Gesellschaft. Die Folgen für das gegenwärtige Leben aber auch für die Träume, Wünsche und Möglichkeiten auf eine glückliche, selbstbestimmte Zukunft sind erheblich – sowohl für den*die einzelne*n als auch die Gesellschaft als Ganzes.
Das Grauen und die zerstörerische Kraft der Bomben, Straßenkämpfe wie auch dessen Auswirkungen auf Familien und Freundschaften schildert Anna Burns den Leser*innen eindringlich anhand der Figur der Amelia Boyd Lovett. Amelia, 1969 selbst noch ein Kind, erlebt die Kämpfe auf den Straßen und Vierteln Belfasts hautnah – verborgen unter dem Tisch und hinter dicken Holzbrettern vor den Fenstern und zugleich doch schutzlos ausgeliefert. Die Bomben, welche in den Wohngebieten ihrer Stadt detonieren, richten denn auch Verwüstungen in ihrer Seele an – Zerstörungen, von denen sie sich ungeachtet ihrer Kämpfe in ihrem Inneren auch in den folgen Jahrzehnten nicht zu erholen vermag.
Trotz all der Bilder des Schreckens – und davon gibt es zahlreiche in der Geschichte – gelingt es Anna Burns, sich nicht in den Grausamkeiten, der Trauer und Hoffnungslosigkeit zu verlieren. Ihr Tonfall ist oftmals ironisch, sarkastisch, die Handlung voll von teils skurrilen Figuren, Ereignissen und Momenten, dabei sich nach und nach zunehmend von der Realität entfernend – so wie auch Amelia selbst diese immer weniger zu fassen bekommt.
Eine Schwere mag während der Lektüre aus diesem Grunde auch nicht so recht aufkommen. Zugleich sind die innere Zerstörung und die Schäden, welche die jahrzehntelange Bedrohung und das Blutvergießen immer und immer wieder vor den eigenen Augen hinterlassen haben, in ihrer Tragweite nur umso deutlicher und gewaltiger in ihren Ausmaßen sicht- und spürbar. Und auch die Trauer und Betroffenheit über einen Krieg, der Europa geprägt hat und auch heute noch Teil des Lebens der Menschen in Irland und Großbritannien ist, war für mich das, was mich mit Amelia in der Geschichte verbunden hat – und auch nach der letzten Seite für mich geblieben ist.

Bewertung vom 20.04.2022
Singe ich, tanzen die Berge
Solà, Irene

Singe ich, tanzen die Berge


sehr gut

Das Buch ist ein Fest – ein Fest der Worte, Bilder, Ideen! Und vor allem ist es ein ganz einzigartiges Kleinod, das Irene Solà in ihrem Schaffensakt der Natur geradezu entrissen hat und nun ihren Leser*innen zum Geschenk macht. Ein Geschenk, mit welchen sie diesen so einiges an Hingabe, Bereitschaft und Konzentration abverlangt – und auch das eine oder andere zumutet.
Schier ungewöhnlich sind Ansatz und Erzählperspektiven, welche die junge Autorin für ihre Erzählung wählt, kommt hier doch die Natur selbst mit all ihren menschlichen und nicht-menschlichen und auch „dinglichen“ Bewohner*innen zu Wort, um gemeinsam eine große Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte der Pyrenäen selbst, konzentriert und exemplarisch fokussiert auf ein kleines Dorf in eben diesen Bergen.
Alle finden sie hierfür Gehör: die Menschen und ihre Geister, Tiere und Pflanzen und Regen und auch die Pyrenäen selbst. Und all diesen Ich-Erzähler*innen leiht Solà eine ihnen eigene Stimme, ihre eigene Sicht auf die Welt und die Geschehnisse, die sie umgeben. Gleichberechtigt, ob nun Mann oder Frau, Rehbock oder Pilz.
Das ist viel – viel gewollt, viel erwartet, viel umgesetzt. Und ja, es ist auch ein Vergnügen in der Lektüre, aber auch eine Anstrengung, die auf Seiten der Leser*innenschaft erforderlich ist, um möglichst viel zu verstehen und viel zusammenzufügen. Denn gleich Ketten auf einer Schnur reiht sich mit jeder neuen Perspektive, mit jedem weiteren Kapitel Figur an Figur, Puzzlestück an Puzzlestück – und heraus kommt… Ja, was eigentlich? Kunst? Sicherlich! Eine Geschichte, die zu fesseln versteht? Immer wieder. Ein Experiment? Auch das.
Was die Erzählung für mich vor allem ist: ein Ausdruck der schier unbegrenzten Spiel- und Schaffensräume, welche Sprache bietet und Literatur entstehen lässt. Gefällig sollten diese dabei nicht sein, vielmehr vermag Solà es, ihre eigenen Wege zu beschreiten und Bekanntes und Gewohntes konsequent hinter sich zu lassen – um so in Abgrenzung etwas Neuartiges und sehr Individuelles zu erschaffen.

Bewertung vom 11.04.2022
A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1
Brown, Roseanne A.

A Song of Wraiths and Ruin. Die Spiele von Solstasia / Das Reich von Sonande Bd.1


sehr gut

Black Girl Magic und Black Boy Joy – die Worte, die Brown selbst für ihren Roman wählt, klingen für unsere europäischen Ohren wohlmöglich erst einmal fremd und geheimnisvoll. Doch zugleich versprechen sie ein Lesevergnügen, das sich von Bekanntem und Gewohntem unterscheiden mag und uns in jedem Sinne in ferne Welten entführt.
Afrikanische Fantasy! Diese Genrebezeichnung kam mir sofort in den Sinn, als ich Sonande betreten habe, ein Reich mit seinen eigenen Rechten, Gesetzmäßigkeiten und vor allem erfüllt und regiert von Magie und Geisterwesen, die den unterschiedlichen afrikanischen Mythologien und Märchen entsprungen zu sein scheinen. Und gerade diese Mischung und das Verweben von tradierten afrikanischen Motiven, Philosophien und Glaubenssätzen mit Elementen der fantastischen Literatur sind es, was diesen Roman von Genreerzählungen „weißer Autor*innen“ mit europäischen oder US-amerikanischen Wurzeln deutlich unterscheidet – die weiterhin Quelle und Definition des Genres sind.
Und so sind auch die Hauptfiguren von afrikanischer Prägung – für den eurozentristischen Blick zumindest in der äußeren Gestalt leicht auszumachen. Doch was sie letztendlich antreibt, ist das alle Kulturen verbindende und einende Element: Es ist die Liebe zueinander, die Liebe zur Familie und die Liebe für das eigene Volk, die gemeinsame Tradition und Herkunft. Und damit ist neben all den mystischen Elementen, die mich in ihrer Andersartigkeit und Verschiedenheit so begeistert haben, der Roman für mich vor allem eins: eine Liebesgeschichte.
Nnedi Okorafor und Lauren Beukes waren für mich bisher die Autorinnen der afrikanischen Fantasyliteratur, die mir mit beeindruckender Virtuosität immer wieder vor Augen geführt haben, wie eingeschränkt und europäisch gefärbt und ausgerichtet mein Blick auf das Genre, und wohl nicht nur hierauf, ist. Roseanne A. Brown setzt diese Tradition fort, in ihrer ganz eigenen Sprache, mit ihrer ganz eigenen Geschichte. Damit beschenkt sie die Leser*innen mit mehr als nur wundersamen, fantasievollen Lesestunden, wenn diese das Tor nach Sonande durchschreiten – und damit in vielerlei Hinsicht eine neue Welt betreten.

Bewertung vom 31.03.2022
RABBITS. Spiel um dein Leben
Miles, Terry

RABBITS. Spiel um dein Leben


ausgezeichnet

Ein Hase, der uns auf eine rasante Jagd durch Zeit und Raum schickt und dabei neckisch sein Spiel mit uns treibt – das gibt es in der Tierwelt wohl nur selten. Und in der der Fantasy- und Spannungsliteratur sicherlich auch. Und wenn es Meister Lampe dann noch schafft, meine Nacht zum Tag und das Frühlingswochenende zu einem Lesemarathon zu machen, bin ich schwer beeindruckt.
Doch Terry Miles zeigt mit „Rabbits“ nicht nur, dass er es vermag, seine Leser*innen mit seiner intelligent konstruierten, raffiniert verschachtelten Geschichte an das Buch zu fesseln, er besitzt zudem auch eine ganz besondere Fähigkeit: der Logik und Physik zu misstrauen und seinen eigenen Verstand infrage zu stellen. Denn seine Figuren müssen sich auf ihrer Schnitzeljagd in einer Welt mit ihren scheinbar ganz eigenen Naturgesetzen zurechtfinden, und wenn der Zufall durch eine Kette von Hinweisen abgelöst wird, erhält auch die Uhrzeit 4.44 ihre ganz eigene Bedeutung.
Was dem Spaß dann noch die virtuelle Krone aufsetzt, sind die wunderbar nerdigen Figuren, die Miles für seine Hasenjagd geschaffen hat: äußerst verschroben, extrem cool und jetzt schon kultverdächtig. Und ans Herz wachsen sie den Leser*innen zudem – auch, wenn deren Rolle, die sie in dem geheimnisvollen Spiel sowie zueinander einnehmen, teils undurchsichtig und vor allem dem steten Wandel unterworfen ist. Denn: Nichts ist wie es scheint.
Neben all der atemlosen Spannung schafft es „Rabbits“ mit viel Mysteriösem und scheinbar Metaphysischem jedoch auch, Fans von „Akte X“ zu überzeugen, also diejenigen unter uns, welche die Wahrheit hinter dem Offensichtlichen vermuten und sich eben kein Kaninchen für einen Hasen vormachen lassen. Denn wie sagten schon Mulder und Scully so schön: „The truth is out there“. Und bis diese für Rätselraten und zahlreiche Spielrunden als Gewinn und Krönung der Geschichte lockt, erwartet die aufmerksamen Leser*innen ein tierisches Vergnügen, ein schiere Flut an Kreativität und Fantasie und sicherlich auch die eine oder andere durchwachte Nacht. Und pünktlich um 4.44 Uhr klingelt der Wecker.

Bewertung vom 13.03.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Die Armbrust, der Apfel und ein Kopf, der nicht getroffen werden will – vielleicht sind dies die zentralen Bilder der Sage von Wilhelm Tell, die wohl vielen von uns sofort vor dem geistigen Auge stehen. Möglicherweise ist es aber auch der Status als Schweizer Nationalheld, den Tell im Laufe der Jahrhunderte erlangen konnte. Und doch ist die Geschichte deutlich facettenreicher, hat mehr und vor allem mehr Details und Tiefe zu bieten – so ganz besonders in der Neuerzählung von Joachim B. Schmidt.
In kurzen Kapitel, erzählt aus den verschiedenen Perspektiven der einzelnen Figuren, nimmt Schmidt die Leser*innen mit auf einen rasanten Ritt durch das entbehrungsreiche Leben des Bergbauern, Sohnes, Vaters und Ehemanns Tell. Schlaglichtartig beleuchtet er dabei das Denken und Handeln aller Beteiligten, lässt diese – gleich eines vielstimmigen Chors – mit ihrer jeweils eigenen Stimme zu Wort kommen. Und deren Klang ist nicht nur eingebettet und ein Produkt ihrer Zeit, das authentisch und historisch zugleich anmutet, er ist auch den einzelnen Figuren individuell und ganz eigen und macht sie so lebendig und unverwechselbar für die Leser*innen.
Dass Tell dabei nicht als der erwartete Sympathieträger erscheint, sondern seinen Mitmenschen rauh, verschlossen und unzugänglich gegenübertritt, erstaunt dabei fast ebenso wie das hohe Tempo und die erfreuliche Dynamik und Lebendigkeit, mit welchem die Leser*innen durch die Handlung geführt werden. Das Ergebnis ist ein sowohl ungewöhnliches wie auch ungewöhnlich fesselndes Lesevergnügen, ein Pageturner und neues Lieblingsbuch für mich.
Jedoch, und das ist mir noch sehr wichtig: Literatur steht und wirbt für sich selbst – dieser wunderbare Roman ist hierfür das beste Beispiel und ein überzeugender Beweis! Der Vergleich der Erzählung mit einer Unterhaltungsserie eines großen Streamingportals ist daher aus meiner Sicht vollkommen überflüssig und mit Blick auf so einen großen Traditionsverlag wie Diogenes für mich auch sehr überraschend. Aber das ist natürlich meine ganz persönliche Meinung als große Freundin und Liebhaberin von guten Geschichten, begeisterte Leserin – und ja, nun auch glühende Anhängerin des neuen Wilhelm Tells.

Bewertung vom 27.02.2022
So reich wie der König
Assor, Abigail

So reich wie der König


sehr gut

Der Weg aus den Baracken der Armut ist steinig, staubig und mit ungewissem Ausgang – diese Erfahrung muss die junge Sarah machen, die gemeinsam mit ihrer Mutter in den Elendsvierteln Casablancas lebt. Ihr einziges Gut: Ihre Herkunft als Französin und ihr Aussehen, das den Männern reihenweise den Kopf verdreht und ihre Geldbeutel öffnet, so dass Sarah zumindest mit Essen und Kleidung immer wieder am Lebensstil der Reichen teilhaben kann.
Doch Sarahs Pläne sind ehrgeizig: Nicht nur will sie den ärmlichen Verhältnissen dauerhaft entfliehen, auch Wohlstand soll es sein – und zwar im ganz großen Stil. Driss, Sohn eines erfolgreichen Unternehmers und als Fassi mit Geburtsrecht auf eine Führungsposition in der Gesellschaft, ist hierfür das Objekt ihrer Begierde und Instrument ihrer Pläne und Berechnungen. Selbst mit autistischen Zügen als Figur gezeichnet, ist er willenloses Opfer von Sarahs Ehrgeiz und unfähig, die Auswirkungen und Folgen einer möglichen Verbindung einzuschätzen.
Die Geschichte selbst ist nicht neu, neu sind dagegen für mich Schauplatz, Zeit und eine Gesellschaft, die aufgrund ihrer kulturellen und damit auch religiösen Zusammensetzung ihre ganz eigenen Schranken, Fallstricke und auch Abgründe bereithält. Dass das System starr und festgeschrieben und damit bei weitem nicht so durchlässig ist, wie Sarah sich erhofft und in kindlicher Naivität erträumt hat, ist dann auch eine Erfahrung, die sie schmerz- und schamvoll erleiden muss. Die Folgen ihrer Fehlberechnungen sind folglich gravierend: Sarah steht im wahrsten Sinne des Wortes an einem Abgrund, Driss droht mit hinabzustürzen.
Das Märchen von Aschenputtel ist es nicht, was die Leserin und den Leser mit „So reich wie der König“ erwartet. Es ist vielmehr der Traum einer jungen Frau vom sozialen Aufstieg in einer Gesellschaft, welche die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdie) in Auftreten und Lebensstil sehr genau zu deuten vermag und jede und jeden brutal an den angestammten Platz verweist. Dass die Geschichte tatsächlich vor der Kulisse Marokkos der 1900er-Jahren spielt, wirkt aus eurozentrischem Blick anachronistisch und erschreckend – und ist für mich auch das, was nach der letzten Seite noch länger in meinen Gedanken bleiben wird.

Bewertung vom 20.02.2022
Creep
Winkler, Philipp

Creep


ausgezeichnet

Der Rückzug in das Virtuelle und die Verweigerung eines Lebens in der Gesellschaft – in „Creep“ wird uns dieses Phänomen in unterschiedlichen Ausprägungen und auch Zuspitzungen präsentiert, und die Leserin und der Leser sollten dabei nicht zimperlich sein. Oder an der einen oder anderen Stelle zuvor gut gegessen haben.
Denn was soziale Isolation und das Fehlen von unmittelbarer Nähe, Wärme und Zuneigung mit der menschlichen Psyche machen und Folge wessen sie sein können, ist wohl nicht nur bei Philipp Winkler mehr als traurig. Doch hier wird es auch blutig.
Junya hat sein Dasein komplett in das Darknet verlegt, die Außenwelt in Form seiner Mutter nimmt er nur noch durch die geschlossene Zimmertür wahr. Verletzt, gekränkt und innerlich gebrochen verlässt er sein schützendes Zuhause nur für seine gelegentlichen Streifzüge durch das nächtliche Tokio, immer auf dem Weg zu seinem nächsten Opfer, für ihn selbst ein Täter seiner kindlichen Verletzungen. Wenn der schwere Holzhammer dann den Kopf seines ehemaligen Grundschullehrers zertrümmert, verschafft ihm dies Genugtuung und im Darknet jede Menge Aufmerksamkeit und Bewunderung.
Fanni dagegen führt zumindest nach außen ein Leben, das auf den ersten Blick nicht besonders oder auffällig erscheint. Als Mitarbeiterin des BELL-Konzerns verschafft sie dessen Kund*innen eine vermeintliche Sicherheit durch die Überwachung ihres Zuhauses. Und genau hier liegt der Knackpunkt: Ein eigenes soziales Umfeld besitzt Fanni nicht, und auch der Kontakt zu ihren Eltern ist mehr als schwierig und kühl. Eine Ersatzfamilie hat sie in den Naumanns gefunden, BELL-Kund*innen, an deren Leben sie passiv teilnimmt. Und damit scheint Fanni auch erstmal recht zufrieden zu sein.
Winklers Themen und Figuren entspringen dem Zeitgeist. Sie sind eindringlich, ungewöhnlich und extrem. Und ebenso erleben wir sie auch in „Creep“. Winkler gelingt es dabei, den Leser*innen nicht nur den einen oder anderen Schauer über den Rücken zu jagen, sondern sie auch in den Bann dieser beiden Leben am Rande der Gesellschaft zu ziehen – und zugleich mit überraschenden Wendungen und einem großen Finale zu begeistern.

Bewertung vom 05.02.2022
Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1
Deen, Mathijs

Der Holländer / Liewe Cupido ermittelt Bd.1


sehr gut

Atmosphärisch dicht in der schier grenzenlosen Weite des Wattenmeers – Mathijs Deen hat mit „Der Holländer“ einen Kriminalroman geschaffen, dem es gelingt, die Ruhe und kraftvolle Natur dieser einzigartigen Landschaft mit der Spannung und Raffinesse eines tödlichen Verbrechens zu verbinden. Was dabei herauskommt: ein Kriminalroman in ruhigem Ton und intelligent konstruiert, der mich gefesselt und wie der weiche Schlick mit sich in die Tiefe gezogen hat.
Dass das Wattenmeer trügerisch sein kann, ist wohl den meisten von uns bekannt. Das, was gerade noch trocken, fest und gehbar erscheint, ist nur wenige Zeit später Meeresboden, von Wasser umschlossen, mit Wasser geflutet. Weite erscheint nah, Reflektionen gaukeln uns Trugbilder vor, Schönheit verwandelt sich in einen Albtraum. Und genau so verhält es sich auch mit dem Tod des Wattwanderers Klaus Smyrna, der als Unfall erscheint und nach und nach Tragik, Rache und Grausamkeit erkennen lässt.
Der Ermittler Liewe Cupido, genannt „Der Holländer“, ist dabei ebenso ein Produkt wie auch ein Abbild dieser Landschaft mit ihren besonderen Bedingungen und Erfordernissen. Nach außen ruhig und verschlossen lässt auch er eine Raffinesse und Tiefe in Wesen und Denken erkennen, die es ihm erlaubt, dieses Verbrechen als ein solches auszumachen und die verschiedenen Stränge und Hinweise zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Ergänzt und unterstützt wird er dabei von dem jungen Polizisten Xander Rimbach, der mit seinem Eifer und seinem jugendlichen Übermut die Ermittlungen ebenso vorantreibt wie den passenden Gegenpart für ein Ermittlerduo bildet, das sympathisch, liebenswert und von einer kriminalistischen Brillanz ist.
„Der Holländer“ hat alles, um mir die Zeit bis zu meinem nächsten Urlaub im Nachbarland zu verkürzen und mich zugleich neugierig auf die Kriminalliteratur niederländischer Autorinnen und Autoren zu machen: die Liebe zu der einzigartigen Natur, den Menschen und ihren Traditionen sowie eine Sprache, die klar und direkt ist, und einen Aufbau, der es vermag, Atmosphäre und Spannung zu transportieren. Und ganz zum Schluss noch ein Wunsch: Mit Liewe und Xander, so wunderbar sie zusammen sind, würde ich gerne noch das eine oder andere Verbrechen gemeinsam enthüllen.

Bewertung vom 05.02.2022
Das Glashotel
Mandel, Emily St. John

Das Glashotel


sehr gut

Emily St. John Mandel erzählt in „Das Licht der letzten Tage“ eine Geschichte des Weltuntergangs, und auch in „Das Glashotel“ bricht eine Welt zusammen – wenn auch ganz anders.
Vincent und Paul haben denkbar schlechte Startbedingungen in das Erwachsenenwerden: das Verschwinden der Mutter, das zu einer Entwurzelung von der Familie führt, Drogensucht, Tristesse, finanzielle Nöte. Den Wendepunkt bringt für Vincent die Arbeit in dem „Glashotel“ in ihrem Heimatort Caiette, welches zum Ausgangspunkt ihres rasanten sozialen Aufstiegs an der Seite von Jonathan Alkaitis wird.
Das, was dann folgt, könnte der Traum von Cinderella sein, das Leben in der Märchenwelt. Doch Geld täuscht nicht über fehlende Gefühle, die verlorene Freiheit eines Verharrens im goldenen Käfig hinweg. Und, wann war das Sprichwort jemals treffender: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“ – hier im wahrsten Wortsinne.
Bis zu diesem Zeitpunkt könnte der Leserin und dem Leser die Geschichte nur allzu bekannt vorkommen, doch wartet Emily St. John Mandel mit einem Bruch auf, der sich auch in der Erzählung durch einen Sprung in Figurenperspektive und Zeitebene widerspiegelt. Denn hier kommt er nun: der besagte Weltuntergang, eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, die zahlreiche Existenzen vernichtet und auch Vincent aus dem „Königreich des Geldes“ vertreibt.
Doch damit nicht genug, die wohl größte Überraschung erwartet uns im letzten Drittel der Erzählung: Eine metaphysische Ebene erhält Einzug in das Geschehen. Was für ein Kunstgriff, ich bin begeistert! Der Roman sperrt sich so gegen die Einordnung in gängige Kategorien und eröffnet zugleich eine Bedeutungsebene und eine verborgene „Gegenwelt“, die weit über das Offensichtliche und Sichtbare hinausgeht – und mich als Leserin sehr berührt hat.
Damit ist „Das Glashotel“ für mich vor allem eines und zugleich so viel: ungewöhnlich in Aufbau und Inhalt, vielschichtig in Bedeutung und Aussage – und ein Leseerlebnis so kostbar, wertvoll und unerwartet wie ein Luxushotel in den Einsamkeiten der kanadischen Westküste.