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hasirasi2
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Dresden

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Insgesamt 1127 Bewertungen
Bewertung vom 07.08.2019
Das Haus des Kolibris
Lafaye, Vanessa

Das Haus des Kolibris


ausgezeichnet

La Rosita Negra

Was bringt eine 96jährige Frau dazu, während einer Ku-Klux-Klan-Versammlung in Key West einen alten Mann im Rollstuhl zu erschießen? Der ermittelnde Polizist hat nur noch 1 Woche bis zur seiner Pensionierung und wollte die eigentlich ruhig verbringen, aber nun muss er sich mit der berühmt-berüchtigte Alicia Cortez – La Rosita Negra – und ihrer Geschichte auseinandersetzen und erfährt dabei, was sein Vater damit zu tun hat ...

Alles beginnt 75 Jahre zuvor, als Alicia Havanna verlassen muss und nach Key West geht, weil sie sich gegen ihren gewalttätigen Ehemann gewehrt hat. Dort wird sie im Teesalon ihrer Cousine Beatriz arbeiten. Key West ist ein Alptraum nach Havanna – dreckig, rückständig, stinkend und grau: „Nichts hier war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihr kam es so vor, als wäre sie ans andere Ende der Welt gereist und nicht einmal gerade neunzig Meilen weit.“ (S. 42)
Direkt neben dem Teesalon betreibt John Morales, der gerade aus dem ersten Weltkrieg heimgekehrt ist, eine Bar. Als Beatriz kurz nach Alicias Ankunft während einer Grippewelle stirbt, vererbt sie den Salon an Alicia und gibt ihr den Tipp, sich bei Fragen an John zu wenden. Außerdem soll sie „Schießen lernen. Und immer mit dem Rücken an der Wand entlanggehen.“ (S. 51).

Zur gleichen Zeit versucht der Jugendliche Dwayne, seinen Vater (einen Pastor) zu beeindrucken, indem er dessen Arbeit für den Ku-Klux-Klan unterstützt. Er teilt seine Meinung „Die Juden, die Katholiken und die Neger gehören alle zusammen. Sie haben nur ein Ziel: unsere Nation zu Fall zu bringen.“ (S. 200) zwar nicht, aber die Organisation an sich beeindruckt ihn und so lässt er sich zu einer Dummheit verleiten, die er hinterher bitter bereuen wird.

„Das Haus des Kolibris“ von Vanessa Lafaye beruht auf einer wahren Begebenheit, einer verbotenen, leidenschaftlichen Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen verschiedener Hautfarben. Sie schreibt über eine Zeit und ein Thema – das Erstarken des Ku-Klux-Klans und der Beginn der Prohibition – mit dem ich mich bis dato noch nie weiter auseinandergesetzt hatte. Sehr fesseln und rasant erzählt sie, wie Bigotterie und Fanatismus den Alltag bestimmen, wie sich die Menschen in Fremdenhass und Rassentrennung hineinsteigern und Probleme mit Gewalt lösen. „... neben dem, was ich in den letzten 12 Monaten hier erlebt habe, ist die Bronx das reinste Märchenland.“ (S. 335)

Alicia hat eine afrikanische Mutter und einen kubanischen Vater, ihre Haut ist milchkaffeefarben. Nach der damaligen Definition ist sie damit weder weiß noch schwarz, eine Exotin, ein Unikum und unerwünscht. Doch sie erweist sich als echte Kämpferin und setzt sich durch. Erst ihre verbotene Liebe zu John macht sie ängstlich und angreifbar. Sie hat fürchtet die Entdeckung und deren Folgen, aber John verspricht, sie zu schützen. Schließlich hat als Einziger seiner Kompanie den Krieg überlegt und ist noch nie einer Schlägerei aus dem Weg gegangen. Außerdem glaubt er nicht, dass sich er Ku-Klux-Klan und die bigotten Kirchenmänner wirklich durchsetzen können. „Die ganze Stadt ist auf einem riesigen Sumpf aus Lügen und Geheinissen aufgebaut.“ (S. 176) Die Stimmung in Key West schaukelt sich hoch, eine Spirale der Gewalt beginnt und endet im finalen Sch(l)uss.

Alicias Geschichte hat mich sehr berührt und fasziniert. Obwohl man eine ungefähre Ahnung hat, wie sie leider ausgehen muss, hat sie mich bis zur letzten Seite gepackt und ich habe die knapp 450 Seiten an nur 2 Abenden gelesen. Die Autorin schildert die gefährliche Atmosphäre, die Ängste aber auch Hoffnungen der verschiedenen Protagonisten sehr anschaulich.

5 Sterne und meine Leseempfehlung für diesen außergewöhnlichen und hervorragend recherchierten Roman.

Bewertung vom 04.08.2019
Das goldene Palais
Solomons, Natasha

Das goldene Palais


ausgezeichnet

Packende jüdische Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Vorbereitungen des 1. WK

Greta Goldbaum wächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer jüdischen Wiener Bankiersfamilie auf, welche Herrscherhäuser in ganz Europa zu ihren Kunden zählt. In fast jedem Land hat ein Zweig der Familie eine Privatbank gegründet, und obwohl diese jeweils autark agieren, werden täglich Nachrichten ausgetauscht und zusammen Kredite vergeben. Auch geheiratet wird meist innerhalb der weitverzweigten Familie – das festigt die Bande zwischen ihnen. Greta soll ihren englischen Verwandten Albert Goldbaum heiraten „Die Aura ihres Namens folgte ihr überall hin wie ein glänzender Schatten; seinem Schein konnte sie niemals entkommen.“ (S. 20). Ihr Bruder Otto beschreibt Albert als ehrlich, höflich und pünktlich – also langweilig, trotzdem fügt sich sich in die Ehe.

Greta ist eine moderne, junge Frau, impulsiv und unkonventionell. Sie ist gebildet und intelligent, mag z.B. Gustav Klimt und die Kleider seiner Geliebten Emilie Flöge, welche ohne Korsett getragen werden – ein Skandal! Während „Das goldene Palais“ ihrer Eltern in Wien und auch das Anwesen ihrer Schwiegereltern voller unschätzbarer Kunstwerke und kostbarer Dinge ist, mag sie es reduziert und ursprünglich. Albert und Greta haben kaum gemeinsame Interessen „... ich werde aufgezogen, wenn Gäste erscheinen. Ich spiele die Ehefrau, die Schwiegertochter, die Goldbaum.“ (S. 207).
Albert ist ruhig, in sich gesetzt, schwärmt für Schmetterlinge und Falter. Er wäre gern Entomologe geworden, so wie Gretas Bruder Otto gern Astronom und Physiker, trotzdem ist es für die Söhne der Goldbaums selbstverständlich, in der Bank zu arbeiten. „... eine Familie besteht aus Individuen. Was gut für die Familie als Ganzes ist, ist nicht immer gut für uns als Einzelne.“ (S. 285)

Der Tagesablauf der Goldbaums wird vom Auf und Ab der Börsen bestimmt, von Kreditanfragen, Spekulationen und Versicherungen. Kaum ein Fest oder Familientreffen vergeht ohne geschäftliche Absprachen. Selbst auf der Fahrt zu Gretas Hochzeit wird mit Diplomaten darüber debattiert, ob man der österreichischen Regierung einen weiteren Kredit zur Aufrüstung der Armee gewähren soll. Krieg liegt in der Luft.

Natasha Solomons erzählt das Leben einer jungen Frau, das eng mit dem Schicksal ihres Volkes und Europa verknüpft ist. In Russland werden schon zu dieser Zeit 5 Mio. Juden schikaniert und die Goldbaums versuchen, den Zaren über Kredite zu beeinflussen. Man sagt ja, das Geld Macht bedeutet – allerdings nicht, wenn es von jüdischen Banken kommt, zeigt die Autorin hier deutlich. Die Goldbergs dürfen gern ihr Geld geben, sich aus der Politik ansonsten aber raushalten. Ihre Bemühungen, den Frieden zu erhalten, scheitern kläglich und so bangt Greta nach Kriegsausbruch um ihren Mann und ihren Bruder, die jetzt auf gegnerischen Seiten stehen. „Wer immer ihn (den Sieg) davonträgt, wird eine Welt in Trümmern besitzen.“ (S. 469)

Die Autorin hat die historisch relevanten Hintergründe sehr gut recherchiert und geschickt in die Geschichte eingebunden. Obwohl diese sich nicht ausschließlich um Gretas Leben dreht, fand ich sie durchgehend sehr spannend. Gretas Familie gehört zur Oberschicht der jüdischen Bevölkerung, trotzdem führt auch sie kein sorgen- oder kummerfreies Leben, ist auch sie Einschränkungen unterworfen und muss sich an (z.B. an politische und geschäftliche) Spielregeln halten.

Fazit: Packende jüdische Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Vorbereitungen des 1. WK.

Bewertung vom 01.08.2019
Flammen am Meer / Träume von Freiheit Bd.1
Böschen, Silke

Flammen am Meer / Träume von Freiheit Bd.1


ausgezeichnet

Der große Knall

... verändert am 11.12.1875 in Bremerhaven das Schicksal einer ganzen Stadt. Das Auswandererschiff „Mosel“ will noch ein letztes Fass an Bord nehmen, als ein Halteseil reißt, das Fass auf den Boden knallt und explodiert. Über 80 Menschen werden dabei getötet und über 200 zum Teil schwerstverletzt.
Johanne verliert dabei ihre rechte Hand und fast ihre ganze Familie, zum Glück kann sie ihre kleine Tochter Elschen retten.
In Dresden wartet indes Cecilia Thomas, dass ihr Mann William endlich von seiner Geschäftsreise nach Hause kommt. Doch statt ihm kommt am nächsten Tag die Polizei – William wollte die „Mosel“ im Atlantik versenken, um die Versicherungssumme für seine angebliche Fracht zu kassieren, die Bombe hätte erst auf See explodieren sollen ...

„Träume von Freiheit – Flammen am Meer“ ist der Auftakt einer Jahrhundert Trilogie und beruht auf wahren Personen und deren Erlebnissen. Die Journalistin und Moderatorin Silke Böschen hat dafür wahre Begebenheiten (recherchiert z.B. in Archivakten und Zeitungsberichte) und Fiktion geschickt verknüpft und dadurch eine extrem spannenden und aufwühlende Geschichte geschaffen.

Johannes Familie wollte an diesem Tag ihren Bruder Gustav verabschieden und nun steht sie plötzlich fast allein da. Sie kommt nicht über den Verlust ihrer Hand und die unerträglichen Schmerzen hinweg, ist verzweifelt, hat Selbstmordgedanken und hadert mit Gott. Außerdem hasst sie die Frau des Täters, die seltsam unbeteiligt scheint und nur ihrer eigene Haut zu retten versucht.
Cecilia ist erschrocken, als sie von der Tat ihres Mannes erfährt. Sie ist selbst Mutter von 4 Kindern und ziemlich verwöhnt – wovon soll sie jetzt leben?! William hatte ihr ein Jet-Set-Leben ermöglicht, bis die Schulden überhand nahmen. Auch fallen ihr erstmals Unstimmigkeiten auf, die er ihr im Laufe ihrer Ehe erzählt hat. Und statt sich der Situation zu stellen, geht unter falschem Namen zurück nach Amerika.

Silke Böschen erzählt die Geschichte zweier Frauen, die ihren Weg zurück ins Leben, in eine neue Normalität finden müssen.
Johanne ist eine gebrochene Frau, die sich selbst nichts mehr zutraut und denkt, dass sie sich nicht neu verlieben, nie wieder glücklich werden darf. Ich konnte zu jeder Zeit nachfühlen, wie es ihr gerade geht und hatte unglaubliches Mitleid mit ihr. Umso mehr hat es mich gefreut, als sie nach einiger Zeit dann doch neuen Lebensmut und eine neue Perspektive gefunden hat. Aus einer verzagten jungen Frau wurde eine echte Kämpferin.
Cecilia hingegen war mir von Beginn an unsympathisch. Sie hält sich für etwas Besseres und behauptet, von nichts gewusst zu haben. Das glaubt ihr allerdings niemand – sie hat die Hinweise nur ignoriert. Zudem denkt sie stets nur an ihren eigenen Vorteil und versucht in Amerika, an ihr altes Leben anzuknüpfen. Ich habe mich jedes Mal gefreut, wenn wieder einer ihre Pläne schiefgegangen ist oder sie sich verspekuliert hat.

Mein Fazit: Silke Böschen hat es geschafft, aus den wahren Begebenheiten der „Thomas-Katastrophe“ einen sehr fesselnden, unterhaltsamen und hervorragend recherchierten Auftakt ihrer Jahrhundert-Trilogie zu entwickeln. Da die Handlung in sich abgeschlossen ist bin ich schon sehr gespannt, welches Thema ihr nächstes Buch behandelt. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 29.07.2019
Spiel des Schicksals / Das Brauhaus an der Isar Bd.1
Freidank, Julia

Spiel des Schicksals / Das Brauhaus an der Isar Bd.1


ausgezeichnet

Die Freiheit

Bayern, 1897: Antonia lebt mit ihrer Familie auf einem kleinen Hopfen-Hof. Ihre Zukunft scheint vorgezeichnet, sie wird einen der Burschen aus der Gegend heiraten, Kinder bekommen und bis an ihr Lebensende Hopfen verarbeiten. Dabei träumt sie davon, in München eine richtige Ausbildung zu machen und die Enge und Eintönigkeit des Dorfes hinter sich zu lassen. Als ihr Vater stirbt und ihre Mutter den Hof verkauft, nutzt sie ihre Chance und geht heimlich nach München. Antonia hält sich mit Lohnarbeiten über Wasser, bis ihr ein Maler anbietet, ihm nackt Modell zu stehen. Für Antonia eigentlich undenkbar, schließlich will sie ihren guten Ruf bewahren. Aber die Bezahlung ist sehr gut, also probiert sie es aus. Und je länger sie Modell steht, desto freier fühlt sie sich. Zum ersten Mal im Leben ist ihr Körper nicht mehr unter unzähligen Lagen Kleidern versteckt und eingeschnürt. Sie kann endlich Luft und Sonne auf der Haut spüren und tief durchatmen.
Über den Maler lernt sie Melchior Bruckner kennen. Dessen Mutter Franziska führt nach dem Tod des Mannes die Familien-Brauerei mit harter Hand, da Melchior lieber dem Müßiggang frönt und sich für Technik statt fürs Brauen interessiert. Einen Traum allerdings verfolgen sie gemeinsam – ihr Bier soll auf dem Oktoberfest ausgeschenkt werden.
Als Melchior Antonia eine Stellung im Haushalt seiner Mutter versorgt, wird sie von den anderen Bediensteten angefeindet. Dann passieren mehrere Unfälle – will jemand die Brauerei sabotieren? Antonia gerät in Verdacht. Um ihren Ruf und die Brauerei zu retten versucht sie, den wahren Schuldigen finden.

„Das Brauhaus an der Isar“ ist der packende Auftakt einer neuen Reihe rund ums Münchner Brauwesen. Die Bruckner-Brauerei steht dabei stellvertretende für die kleinen Familienbrauereien der damaligen Zeit, die mit- und gegeneinander ums Überleben kämpfen.
Julia Freidank erzählt u.a. von Bigotterie, Engstirnigkeit, Frömmlern und fragwürdiger Moral. Während Antonia sich gegen übergriffige Männer und Vorwürfe wegen ihrer Tätigkeit als Aktmodell wehren muss, kämpft Franziska um Anerkennung in einer Männerdomäne. Zwei starke Frauen, die sich nicht so leicht unterkriegen lassen.
Antonia war mir von Beginn an sympathisch. Ich habe sie für ihren Mut, sich nicht in ihr vorbestimmtes Schicksal zu fügen, sehr bewundert. Franziska hat es mir etwas schwerer gemacht sie zu mögen, da sie nach außen sehr streng, fast schon verbittert wirkt.
Melchior hingegen vertrödelt die Tage. Er scheint nichts mit sich anzufangen zu können. Dabei würde er gern an der neugegründeten Technischen Hochschule studieren, kann sich mit diesem Wunsch aber bei seiner Mutter nicht durchsetzen.

Geschickt lässt die Autorin berühmte Persönlichkeiten jener Zeit in die Handlung einfließen. So haben z.B. Albert Einstein und Johann Strauß einen Gastauftritt. Zudem geht sie auf die neuesten Erfindungen wie die elektrische Straßenbahn, Kunsteis bzw. Kühlaggregate ein und die Entwicklung eines neuen, rein untergärigen Bieres mittels Hefe und die dafür nötigen Verfahren, was sie sehr spannend erzählt hat. Aber auch die Arbeiterbewegung und das Erstarken des „Alldeutschen Verbandes“ (einer nationalsozialistisch geprägten Vereinigung) und die langsame Entwicklung eines neuen, modernen Frauenbildes finden sich im Buch wieder. Damit zeigt sie ein sehr umfassendes Bild von München in der damaligen Zeit.

Mein Fazit: Ein sehr spannender, fesselnder und unterhaltsamer Auftakt der Lust auf die Folgebände macht!

Bewertung vom 24.07.2019
Das Kino am Jungfernstieg / Kino-Saga Bd.1
Jary, Micaela

Das Kino am Jungfernstieg / Kino-Saga Bd.1


ausgezeichnet

„Dieser Streifen war wichtig - und sie meinte, ihn für immer zu verlieren, wenn sie ihn aus den Händen gab.“ (S. 138).
November 1946: Lili Paal (geb. Wartenberg) arbeitet als Cutterin für die neugegründete DEFA in Berlin, als sie von ihrer Halbschwester Hilde erfährt, dass es ihrer Mutter Sophie in Hamburg von Tag zu Tag schlechter geht. Um zu ihr zu reisen, benötigt Lili einen Interzonenpass – den sie sich vom britischen Filmoffizier John Fontaine erhofft. Capitain Fontaine bietet ihr einen Deal an: Lili hat schon einmal einen im Krieg nicht fertiggestellten Film gefunden und geschnitten. Wenn sie ihm das Versteck eines weiteren Films verrät und ihm hilft, diesen aufzustöbern, nimmt er sie mit nach Hamburg. Zufällig hat Lili gehört, dass in Travemünde der letzte Film mit der berühmten Thea von Middendorff versteckt sein soll. Dieser Film ist berüchtigt, weil Theas Mann beim Dreh ums Leben kam und die Todesumstände nie öffentlich gemacht wurden. Und der damalige Regisseur, Leon Caspari, dreht zufällig gerade den ersten Nachkriegsfilm – mitten in Hamburg ...

„Das Kino am Jungfernstieg“ von Micaela Jary ist der Auftakt einer neuen Reihe um die Entwicklung des Kinos nach dem Krieg und beleuchtet dabei die Geschichte der fiktiven Familie Wartenberg. Lilis Vater hatte das Kino in den 30er Jahren gegründet und ihre Mutter Sophie hattte es all die Jahre geleitet. Als Lilis Vater kurz vor Ende des Krieges erschossen und ihr Haus bei einem Bombenangriff zerstört wurde, musste sie zu ihrer älteren Tochter Hilde und deren Mann ziehen.

Lili ist geschockt, als sie im völlig zerstörten Hamburg ankommt und kaum etwas wiedererkennt. Das Lichtspielhaus der Familie steht zwar noch, hat aber im Krieg gelitten: „Es kam ihr vor, als wäre das Lichtspielhaus ein Sinnbild des Zustands ihrer Mutter – noch war nicht alles verloren, aber der Patient war schwer krank und lag im Sterben.“ (S. 105). Ihre Mutter vegetiert nur noch vor sich hin, ist nur selten bei Bewusstsein und spricht nicht mehr. Sie hat allen Lebenswillen verloren. „Ich erkenne sie nicht mehr... Ich weiß nicht mehr, wer meine Mutter wirklich ist.“ (S. 149)
Von ihrer Halbschwester ist Lili sehr enttäuscht. Statt sich um die Mutter zu kümmern, spekuliert Hilde auf deren baldigen Tod, damit sie das Lichtspielhaus endlich schließen können. Hildes Mann hat einen florierenden Schwarzhandel aufgebaut, es fehlt ihnen an nichts, aber Lili muss um jede Scheibe trockenes Brot und jeden Tee für Sophie betteln.
Zum Glück gibt es Hildes 16jährige Tochter Gesa, die ihre Oma über alles liebt und bisher für sie gesorgt hat „Wie sollte sie erwachsen werden mit dem Gedanken, zu wenig für ihre Großmutter getan zu haben, wenn diese starb?“ (S. 273)

Während der Suche nach den Filmrollen kommen sich Lili und Capitain Fontaine näher. Er ist charmant und zuvorkommend, macht ihr Komplimente. Es funkt zwischen ihnen, aber Lili ist verheiratet, auch wenn sich ihr Mann noch in Kriegsgefangenschaft befindet. Zudem stellen sie bei ihren Nachforschungen fest, dass auch Lilis Mutter irgendwie in den Skandal um den Tod von Theas Mann verwickelt gewesen sein muss.

Man merkt dem Buch an, dass Micaela Jary über eine Epoche und Thematik schreibt, die sie von klein auf kennt und liebt, denn ihr Vater war der berühmte Filmkomponist Michael Jary.
Sehr bildlich schildert sie das zerstörte Hamburg, wie die Menschen ums Überleben kämpfen und was der Hungerwinter 1946/47 anrichtete. Sie beschreibt, wie die Besatzer das Gebiet verwalteten und u.a. eben auch die Filmindustrie langsam wieder aufbauten.
Die Zustände in Hildes Familie haben mich erschüttert. Wie können sie und ihr Mann nur so herzlos sein und nur an ihr eigenes Vorankommen denken. Ich hoffe, dass sie im nächsten Band die Strafe dafür bekommen!
Die Suche nach den Filmrollen und die dabei gefundenen Erkenntnisse gestalten sich so spannend, dass es fast schon wie ein Krimi anmutet. Ich bin extrem gespannt, wie es nächstes Jahr in „Der Filmpalast“ we

Bewertung vom 23.07.2019
Die Schwiegertöchter des Monsieur Le Guennec
Valognes, Aurélie

Die Schwiegertöchter des Monsieur Le Guennec


ausgezeichnet

Das Schwiegermonster

„Keine unangemessenen Bemerkungen zu deinen Schwiegertöchtern, kein Handy und du achtest auf dein Cholesterin.“ (S. 14)
Jaques ist nicht nur der Schrecken seiner Frau Martine, auch seine Schwiegertöchter drücken sich nur zu gern um die Besuche bei ihnen. Bisher kam es jedes Weihnachten zum Eklat, weil sich der ewig nörgelnde und stichelnde Despot einfach nicht zusammenreißen konnte.
Die Frauen seiner Söhne machen es ihm aber auch nicht leicht, findet er. Matthieus Stéphanie ist mit dem dritten Kind schwanger noch empfindlicher als sonst, ihre zwei kleinen Söhne stören ihn nur, Alexandres Laura ist eine militante Veganerin und Jeanne, die neueste Eroberung von Nicolas, hat einen schlimmen Marseiller Dialekt – darüber muss er sich in seinem eigenen Haus doch aufregen dürfen!
Dass der auf Arbeit angeblich unersetzliche Bauingenieur sein eigenes Haus nach und nach verkommen lässt, statt endlich die anfallenden Reparaturen zu erledigen, gibt Martine den Rest: Wenn Jaques sich nicht bald ändert, zieht einer von ihnen aus!

Beim Lesen hatte ich immer Christian Clavier als Jaques vor Augen, er und Claude Verneuil aus dem Film „Monsieur Claude und seine Töchter“ könnten aber auch wirklich Zwillinge sein. Egoman, egozentrisch, besserwisserisch, ein echter Patriarch und nervig bis zum Abwinken, tyrannisiert er die ganze Familie.
Martine hat bisher als Puffer fungiert und versucht, die Familie trotz Jaques Eigenheiten zusammenzuhalten, schließlich will sie ihre Enkel regelmäßig sehen. Allerdings gehen sie jetzt beide auf die Rente zu – soll es das schon gewesen sein? Soll sie sich weiter seinen Launen und Ansprüchen unterordnen? Ein Urlaub ohne ihn und vielen Gesprächen mit ihren Schwiegertöchtern öffnet ihr die Augen. So kann und soll es nicht weitergehen. Sie will ihre Rente schließlich genießen können!

Aurélie Valognes Roman ist in Frankreich bereits ein Bestseller. Geschickt hält sie uns allen den Spiegel vor – ich habe mich und meine Familie in einigen Szenen wiedererkannt (ich sage nur „abgelaufene Konserven“) und auch wenn einige Vorfälle wirklich bitterböse oder sogar dramatisch sind, muss man immer wieder schmunzeln. Aber die Autorin schlägt auch ernste Töne an und bringt Jaques und den Leser zum Nachdenken.
„Die Schwiegertöchter des Monsieur Le Guennec“ ist perfektes Kopfkino und ein rundum gelungenes Debüt, das Lust auf weitere Bücher der Autorin macht.

Bewertung vom 22.07.2019
Die Heilerin des Sultans
Stolzenburg, Silvia

Die Heilerin des Sultans


ausgezeichnet

Vom Okzident zum Orient

„Der Harem ist kein friedlicher Ort. Jede einzelne der Frauen ist darauf bedacht, die Gunst des Sultans für sich zu gewinnen. Der Weg zu Macht und Einfluss führt einzig und allein über sein Bett.“ (S. 78)
Jeden Tag hofft Sapphira, dass Sultan Bayezid sie als Konkubine erwählt, schließlich wurde sie extra für seinen Harem gekauft. Er ist ein sehr beeindruckender Mann und sie himmelt ihn an. Ein Kind von ihm, am besten ein Sohn, würde ihr einen besonderen Satus innerhalb des Harems verleihen. Doch Bayezid ist seiner Gattin Maria Olivera hörig und nimmt nur selten eine andere Frau ins Bett.
Auch Maria Olivera träumt von einem Sohn von Bayezid, dadurch könnte sie die nächste Valide (Mutter des Sultans, höchstgestellte Frau) werden. Doch es gilt die Regel, dass seine Ehefrauen keine Kinder von ihm haben dürfen, weil er damit beeinflussbar wäre. Trotzdem hofft sie, dass Bayezid bei ihr eine Ausnahme machen wird.
Inzwischen wird Sapphira der Ärztin des Harems zugeteilt, da schon ihr vorheriger Herr sie in der Heilkunst ausgebildet hatte.

Zur gleichen Zeit lässt sich der junge Falk von Katzenstein von seinem bis dato unbekannten Onkel Otto dazu überreden, ihn auf eine Handelsreise in den Orient zu begleiten, um Araberpferde für seine Pferdezucht zu kaufen. Was Falk nicht ahnt: Otto will ihn bei erster Gelegenheit loswerden, um an seinen Besitz zu gelangen und verkauft ihn im Mittelmeer an Piraten. Falk hat Glück, er ist gerade noch jung genug, um als Janitschar (Elitesoldat) an den Hof des Sultans weiterverkauft zu werden. Falk kann sich mit seinem Dasein als Sklave nicht anfreunden. Er sinnt auf Flucht und Rache an Otto. Als er bei einer Übung verletzt wird, lernt er Sapphira kennen und sie verlieben sich. Doch eine Beziehung zwischen ihnen ist unmöglich ...

Durchsichtige Schleier, verlockende Dürfte, klirrender Schmuck und zuckersüße Naschereien – so stellt man sich das Leben im Harem vor. Aber Sapphiras Alltag sieht anders aus. Die Frauen müssen für ihren Unterhalt arbeiten, auf Liebschaften oder Fluchtversuche steht die Todesstrafe, ständig werden sie bespitzelt und die Favoritinnen des Sultans versuchen sich gegenseitig auszustechen. Zudem muss Sapphira ihre Stellung als Heilerin immer wieder gegen den männlichen Arzt und Neider verteidigen.

Opulent, abenteuerlich, orientalisch – diese drei Attribute beschreiben Silvia Stolzenburgs „Die Heilerin des Sultans“ perfekt. Sehr spannend beschreibt sie Falks gefährliche Reise, die ganzen Widrigkeiten, welche überwunden werden müssen und sein grenzenloses Entsetzen, als er in die Hände der Piraten fällt. Mir hat gefallen, dass er trotz allem nie aufgegeben, sondern immer nach einem Ausweg gesucht hat und auch seine Naivität im Laufe der Handlung überwinden konnte.
Auch Sapphira macht eine starke Wandlung durch. Zu Beginn kann sie sich nichts Schöneres vorstellen, als im Bette des Sultans zu landen. Doch als sie ihn im Rahmen ihrer ärztlichen Tätigkeit näher kennenlernt, sieht sie auch seine dunklen Seiten. Erst durch Falk erfährt sie den Unterschied zwischen Liebe und Schwärmerei.

Ein toller historischer Schmöker mit ganz viel orientalischem Flair, spannenden Abenteuern und einer guten Prise Liebe!

Bewertung vom 19.07.2019
Aufbruch in ein neues Leben / Hebammen-Saga Bd.1
Winterberg, Linda

Aufbruch in ein neues Leben / Hebammen-Saga Bd.1


ausgezeichnet

Drei Frauen auf dem Weg in eine bessere Zukunft, gegen alle Widerstände

Berlin Neukölln, 1917: Drei sehr verschiedene junge Frauen eint ein gemeinsamer Traum: Sie wollen Hebammen werden und besuchen dazu die eben erst eröffnete Hebammenlehranstalt, in der sie in den modernsten Techniken und nach neuesten Erkenntnissen geschult werden.
Es ist das 3. Kriegsjahr. Immer mehr Familien verlieren ihren Ernährer, Lebensmittel und Medikamente sind kaum noch zu bekommen, Seuchen grassieren. Die Ärmsten der Armen kämpfen jeden Tag um eine kleine Ration Lebensmittel, ums nackte Überleben. Trotz dieser Zustände werden weiter Kinder geboren, doch die Sterblichkeit wird immer größer.

Luise, Edith und Margot träumen von einer besseren Zukunft, für sich selbst, aber auch für die Mütter und Kinder, die sie betreuen. Dafür stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse oft hintenan. Die Ausbildung ist hart, Doppel- und auch Dreifachschichten sind üblich, wenn eine Geburt länger dauert oder Personalmangel herrscht.
Luise stammt aus Ostpreußen und ist seit ihrem 4. Lebensjahr Vollwaise. Ihre Großmutter ist Hebamme und hat sie von klein auf mitgenommen, wenn sie die Schwangeren und Wöchnerinnen betreute. Luise hat den Beruf also schon von der Pike auf gelernt, aber ihre Oma möchte, dass sie eine ordentliche Ausbildung nach neuesten Maßstäben und richtiges Zeugnis bekommt und hat dafür lange gespart. Luise träumt davon, nach Ostpreußen zurückzukehren, zu ihrer Oma, dem kleinen Häuschen mit dem idyllischen Garten und natürlich den Freunden und Nachbarn. Sie weiß, dass die alle auf sie zählen. Aber auch Berlin hat seine Reize. „Ich weiß, du willst zurück ... Aber vielleicht ist das nicht der richtige Weg für dich. Familie ist wichtig, aber wir müssen unseren eigenen Weg gehen. Und vielleicht führt deiner nicht zurück.“ (S. 168)
Edith ist die Tochter eines reichen, jüdischen Potsdamer Kaufhausbesitzers, die ihren goldenen Käfig nicht mehr aushält und endlich etwas Nützliches tun will. Für diesen Traum verlässt sie sich die Familie, als sie endlich 21 und damit volljährig ist. „... ich war mein Leben lang finanziell abgesichert, mir fehlte es an nichts. ... Aber mit Geld kann man kein Glück kaufen, kein Leben, das einen erfüllt. Ich ... hatte oftmals das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Jetzt jedoch bekomme ich Luft. ... Ich fühle mich frei ...“ (S. 63) Doch der Preis dafür ist hoch, denn die Familie verstößt sie, will nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Margot ist im 4. Hinterhaus in einer winzigen, nassen, ewig kalten Kellerwohnung aufgewachsen, die diese Bezeichnung kaum verdient. Ihre Ausbildung wird von einem Verein bezahlt. Ihr Vater ist gerade gefallen und ihre Mutter verdient kaum genug für sich und die restlichen 4 Kinder. Margot kämpft immer wieder mit ihrem schlechten Gewissen, weil sie in der Schule gut versorgt wird und nicht hungern und frieren muss, wie der Rest ihrer Familie.

Linda Winterberg hat es wieder geschafft, mich von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln und durch geschickte Wendungen immer wieder zu überraschen. „Aufbruch in eine neues Leben“ besticht durch die faszinierenden und berührenden Schilderungen des Alltäglichen, der Leiden, aber auch der kleinen und großen Freuden. Geschickt lässt sie die sich dauernd ändernde soziale und politische Situation einfließen, die Umwälzungen, das Sehnen nach dem Kriegsende und das Hoffen, dass die Männer lebend und gesund zurückkehren. Dabei vermittelt sie viel historisches, exzellent recherchiertes Hintergrundwissen.
Ich bin schon sehr gespannt, wie die Geschichte der drei Freundinnen im nächsten Jahr bzw. Band weitergeht.

Bewertung vom 17.07.2019
Störtebekers Piratin
Hanke, Kathrin

Störtebekers Piratin


ausgezeichnet

Eine abenteuerliche Reise

Ostfriesland, Ende des 13. Jahrhunderts: Ava ist bei ihrer Großmutter Edda in einer versteckten Höhle im Moor aufgewachsen. Edda wurde zwar christlich getauft, betet aber weiterhin die alten nordischen Götter an, pflegt deren Rituale, singt ihre Weisen und verwendet die alten Heilmittel – und gibt dieses Wissen an Ava weiter.
Bei einem Überfall auf die Höhle kommt Edda ums Leben, Ava kann sich in letzter Minute retten. Sie ist erst 13 und hat noch nichts von der Welt gesehen, kaum Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Aber die Höhle ist nicht mehr sicher und so wagt sie das Abenteuer und begibt sich auf eine Reise, ohne ein Ziel zu haben. Als sie das erste Mal die Küste sieht, ist sie überwältigt und glaubt am Ende der Welt zu stehen, Ebbe und Flut ängstigen sie. Und obwohl Eddas Mörder immer noch hinter ihr her sind, schafft sie es bis nach Wismar. Dort lernt sie durch einen Zufall Klaus Störtebeker kennen und verliebt sich in den älteren, starken, gut aussehenden Mann ...

Eins vorweg, ich finde den Buchtitel „Störtebekers Piratin – Eine Liebe zur Zeit der Hanse“ nicht ganz so glücklich gewählt, aber er ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass dies der Auftakt einer neuen Reihe ist.

Die Autorin Kathrin Hanke hat schon zwei historisch-biografische Romane geschrieben und wagt sich jetzt an den Mythos Störtebeker. Im vorliegenden Buch spielt er allerdings noch keine so große Rolle. Stattdessen erleben wir Avas schwierige Geburt und ihr Aufwachsen abseits der Zivilisation. Sie wird von ihrer Großmutter liebevoll aber streng erzogen und sehr gut ausgebildet. Außerdem warnt sie Ava immer wieder, ihr Muttermal in Form eines Schmetterlings zu verbergen, darauf hatte ihre Mutter eindringlich hingewiesen. Nach Eddas Tod bleibt Ava nur die Flucht, denn die Mörder hatten es eigentlich auf sie abgesehen.

Ich habe Edda und Ava von Beginn an gemocht. Edda geht in ihrer Rolle als Bewahrerin alten Wissens und in der Pflege der Traditionen auf. Trotzdem hat sie Verständnis für ihre Tochter Gesa, die lieber im fernen Hamburg leben will, und zieht deren ungewolltes Kind auf. Ava ist mutig und wissbegierig, allerdings ist auch ihr die Einsamkeit der Höhle manchmal zu viel und sie träumt vom Leben in einer Siedlung. Beide sind starke Persönlichkeiten, die sich ihrem Schicksal stellen und wenn nötig neue Wege suchen, statt alles nur hinzunehmen.
Klaus Störtebeker ist sehr charismatisch, ein Wirtssohn und Frauenliebling. Er ist einer Liebelei oder einem Glücksspiel nie abgeneigt, leidet allerdings darunter, eines Tages das Gasthaus seines Vaters übernehmen zu müssen. Störtebeker ist ein Freigeist und fühlt sich in der Stadt oft eingeengt. Avas Auftauchen bringt endlich Aufregung in sein Leben.

Mein Fazit: Ein sehr spannendes, mystisches und aufregendes Abenteuer, das nach einer Fortsetzung schreit!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.07.2019
Die Malerin des Nordlichts / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.10
Johannson, Lena

Die Malerin des Nordlichts / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.10


ausgezeichnet

Sorge, Schmerz und Tod

... diese drei Laster treiben Edvard Munch und auch seine Nichte Signe um.

Lena Johannson erzählt von einer von Selbstzweifeln geplagten Frau, die lange in einer unglücklichen Ehe gefangen war und auch nach der Scheidung Probleme hat, ihre Fesseln abzustreifen und Neues zu wagen. Signe hat mehrere Stipendien bekommen, wird von Pola Gauguin unterrichtet, ihre stimmungsvollen Landschaftsbilder werden in der berühmten Herbstausstellung gezeigt – doch ihre Kritiker bezeichnen diese als „so schön altmodisch“. Sie verzweifelt. Wann endlich findet sie ihre eigene Stimme, ihren Stil? Wann traut sie sich das zu malen, was ihr schon länger vorschwebt? Sie ringt oft mit sich, und ich konnte ihr Zögern verstehen, jedes Mal. „Signe fühlte sich am sichersten, wenn sie Erwartungen erfüllen konnte.“ (S. 123)
Ihre Kindheit war nicht besonders liebevoll. Die Eltern wurden aufgrund der Untreue ihrer Mutter früh geschieden und Signe wuchs bei ihrem Vater auf. Ihre Mutter gilt als Rebellin, Exzentrikerin, sieht auch jetzt noch immer nur ihre Bedürfnisse. Außerdem weiß Signe nie, wem sie wirklich trauen kann, wer ihr Freund sein oder über sie nur ihren berühmten Onkel Edvard kennenlernen will.
Für ihre Arbeit in der „Vereinigung junger Künstler“ wird sie geschätzt und gewürdigt. Einen neuen Mann, der am Ende nur eine Hausfrau sucht und dem es nur um seine Bedürfnisse geht, will sie nicht. „Nie wieder würde ein Mann über ihrer Kunst stehen!“ (S. 193) Da lernt sie den Musiklehrer Einar Siebke kennen. Sie ist 45 und zum ersten Mal verliebt. Und 9 Jahre älter als er. Aber auch er liebt sie wirklich, hält ihr den Rücken frei und unterstützt sie, ist stolz auf sie. Als die Deutschen Norwegen besetzen, schließt er sich dem Widerstand an und Signe kann ihr Angst kaum bändigen: „Einar, ich habe dich so spät gefunden. Ich will mein Glück nicht schon wieder verlieren.“ (S. 316). Sie entscheidet sich, die Kunst für ihre Liebe einzusetzen ...

Ich wusste bisher nichts über Signe Munch und auch über ihren berühmten Onkel Edvard habe ich in diesem Buch mehr erfahren, als erwartet. Geschickt verknüpft die Autorin beide Schicksale, zeigt ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Dabei schreibt sie so spannend, dass man das Buch kaum aus der Hand legen möchte. Sie schafft die perfekte Balance zwischen Kunst und Liebe, Leidenschaft und Leidensfähigkeit. Die Charaktere sind hervorragend herausgearbeitet – ich konnte ihre Sehnsüchte und Ängste, die innere Zerrissenheit jederzeit mitfühlen. Auch die Gemälde (reale und fiktive) und Örtlichkeiten werden so beschrieben, dass ich sie in meinem Kopf lebendig geworden sind. Signes Schicksal hat mich sehr berührt und betroffen zurückgelassen. Lena Johannson ist gelungen, wovon Signe geträumt hat „Ich will etwas Einzigartiges schaffen, etwas, was die Menschen berührt, vielleicht sogar verändert.“ (S. 171)