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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 743 Bewertungen
Bewertung vom 17.06.2016
Glück
Kisch, Robert

Glück


sehr gut

Perspektivwechsel in Richtung Glück

„Streng genommen gibt es unentwegt solche Momente, denke ich, von denen jeder einzelne das Potenzial in sich trägt, Glück zu machen.“ (219)

Autor Robert Kisch erzählt seine Geschichte, er ist Protagonist und Ich-Erzähler. Ob bzw. inwieweit es sich um einen Tatsachenroman handelt, ist für den Leser nicht verifizierbar. Die geistige Entwicklung des Protagonisten einschließlich seiner Ängste und Sorgen ist glaubhaft dargestellt.

Das Buch besteht aus mehreren Teilen mit auffallend kurzen Kapiteln. Überschriften wie „Ich und du“, „Geist und Wahrheit“ oder „Leben und Tod“ deuten bereits darauf hin, dass der Autor hier einen Selbstfindungsprozess beschreibt. Protagonist Kisch wird im Möbelhaus gekündigt, ist desillusioniert und begibt sich auf eine Pilgerreise durch Deutschland.

Er beobachtet sein Umfeld und ist nachdenklich. Auf seiner Reise trifft er Menschen, die ihm Erkenntnis und Orientierung bieten. Es handelt sich nicht um eine utopische Reise wie die des Ibn Fattuma in dem gleichnamigen Meisterwerk von Nagib Machfus und auch nicht um einen Lebenskünstler, wie er in Büchern von Wilhelm Genazino zelebriert wird. Robert Kisch geht seinen eigenen Weg.

Auf seiner Tour durch Themen der Hirnforschung, der Grundlagenphysik, der Philosophie, des Taoismus und der Betriebswirtschaft reflektiert Kisch sein eigenes Leben. Er erkennt bei seinen Streifzügen durch Wissenschaft und Alltag, dass es manchmal die einfachen Dinge im Leben sind, die Glück produzieren. Manchmal reicht ein einfaches „Danke“ aus.

Die Botschaft ist angekommen. Die Verpackung ist anders als bei Coelhos „Der Alchimist“ oder bei Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ und gerade dadurch lesenswert. Robert Kisch hat seinen Weg in Richtung Glück gefunden, ohne dass dieser Weg sentimental oder kitschig wirkt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.06.2016
Die andere Seite
Kubin, Alfred

Die andere Seite


weniger gut

Ein destruktiver Roman

„Die andere Seite“ von Alfred Kubin ist ein phantastischer Roman, der ein düsteres, ins Irreale abgleitendes, grauenvolles Untergangsszenario beschreibt.

Dem Ruf seines ehemaligen Schulfreundes Patera folgend, siedelt der Erzähler mit seiner Frau in das weit entfernt liegende Traumreich Perle, irgendwo in Asien, über. Er soll teilhaben an der Erschaffung einer neuen Welt.

Das fehlende Sonnenlicht in Perle ist ein erster Hinweis auf das Grauen, das sich dort allmählich entwickelt. Patera, verantwortlich für Perle, ist ein gottähnlicher Herrscher eines Traumreichs (Zitat: „Du siehst, ich bin der Herr! - Auch ich war verzweifelt, da baute ich mir aus den Trümmern meines Gutes ein Reich. - Ich bin der Meister!“).

Mit dem Erscheinen von Herkules Bell, einem Amerikaner, spitzt sich die Situation zu. Bell entwickelt sich zum erbitterten Gegenspieler von Patera. Der Machtkampf führt zur Apokalypse. Bell ist zwar der Gegner von Patera, aber alles andere als eine Lichtgestalt. Dies wird bereits in seiner Proklamation „Werdet alle Söhne Luzifers!“ deutlich. Das Reich löst sich allmählich auf.

Insbesondere in der zweiten Hälfte des Romans verschmelzen Traum und Realität miteinander. Die Beschreibungen wirken grotesk. Die Auseinandersetzung zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht führt zur Apokalypse.

Fazit: Wenn das Ziel darin Bestand, die Hölle zu beschreiben, ist dem Autor das auch gelungen. Wegen der surrealistischen destruktiven Beschreibungen würde ich den Roman nicht empfehlen.

Bewertung vom 16.06.2016
Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns
Watzlawick, Paul

Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns


gut

Eine unterhaltsame Bettlektüre

Erfinden wir die Wirklichkeit? Die Frage klingt provokativ, beschreibt aber eine Kernaussage des Konstruktivismus. Paul Watzlawick, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, ist ein bekannter Vertreter dieser Theorie des Wissens. Wie der Titel bereits andeutet, liebt Watzlawick den Widerspruch. Er beschreibt gesellschaftliche Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven. Der konstruktive Gedanke wird deutlich. Eine interessante Folgerung aus dieser Lehre lautet: Der Mensch ist verantwortlich für seine eigene Wirklichkeit. Wer eine wissenschaftliche Abhandlung erwartet, wird enttäuscht. Wer eine unterhaltsame Bettlektüre sucht, sollte das Buch lesen.

Bewertung vom 16.06.2016
Balzac und die kleine chinesische Schneiderin
Dai Sijie

Balzac und die kleine chinesische Schneiderin


sehr gut

Bildung und seine Folgen ...

1967 startete Mao Zedong eine Kampagne, die das kommunistische China zutiefst verändern sollte: Die Universitäten wurden geschlossen und die jungen Intellektuellen einschließlich der Gymnasiasten wurden zur Umerziehung durch die revolutionären Bauern aufs Land geschickt. Luo und der Ich-Erzähler, gerade mal achtzehn bzw. siebzehn Jahre alt, sind zwei dieser jungen Menschen. Sie werden 1971 in ein abgelegenes Bergdorf gebracht. Ihre Eltern sind Ärzte und gehören damit selbst zur Zielgruppe der Kulturrevolution.

Dai Sijie beschreibt das politische Umfeld nur am Rande. Die Intention des Autors ist es nicht, Verstöße gegen die Menschenrechte aufzuarbeiten. Die Kulturrevolution mit ihren menschenverachtenden Auswirkungen dient als Handlungsrahmen für die Abenteuer der beiden, mit allen Wassern gewaschenen, jugendlichen Akteure.

Was vermisst man besonders in einem einsamen Bergdorf, abseits der bekannten Zivilisation? Kaum zu glauben, aber Luo und der Ich-Erzähler vermissen die Meisterwerke der westlichen Literatur. Jedes Jahr erscheinen weltweit Zehntausende neuer Bücher, aber in China sind diese Werke verboten und daher nirgends zu haben. So dreht sich in Dai Sijies Roman alles um einen geheimnisvollen Koffer voller Bücher, den jemand ins Dorf geschmuggelt hat. Diese Liebeserklärung an die Literatur ist die Kernaussage des Romans.

Auch die Romantik kommt nicht zu kurz. Die kleine chinesische Schneiderin ist der Traum der jüngeren Dorfbewohner und ihr Vater behütet sie entsprechend. Liebesszenen sind punktuell in die Geschichte eingewoben und sorgen für die notwendige Prise Erotik. Auch die kleine chinesische Schneiderin ist sehr an Bildung interessiert, mit unerwarteten Folgen ...

In diesem Roman wird die Zeit der Kulturrevolution auf humorvolle, teilweise satirische Weise aufgearbeitet. Die Geschichte zeigt ungewohnte Perspektiven auf und besticht durch besonderen Charme. Sie wird getragen von der Lockerheit der beiden jugendlichen Protagonisten. In der Schlusspointe werden der Humor und die Schlitzohrigkeit des Autors erkennbar.

Dai Sijie, geboren 1954 in der Provinz Fujian in China, wurde von 1971 bis 1974 im Zuge der kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf verschickt. Nach Maos Tod studierte er Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ ist sein erster Roman. Er wurde ein großer internationaler Erfolg und in einer französisch-chinesischen Produktion verfilmt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.06.2016
Welt-Formeln
Stewart, Ian

Welt-Formeln


sehr gut

Mathematische Wahrheiten und fundamentale Naturgesetze

Genau genommen geht es in diesem Buch um mathematische Gleichungen und um physikalische Gesetze, die ebenfalls in Form von Gleichungen ausgedrückt werden. Autor Ian Stewart, Professor für Mathematik, stellt 17 bedeutende Formeln vor, erläutert ihre Entwicklungsgeschichten und gibt Einsatzmöglichkeiten an. Dass diese anfänglich häufig unterschätzt wurden, wird bereits beim „Satz des Pythagoras“ deutlich. So schlägt Stewart den Bogen von Pythagoras im alten Griechenland über den Gauß-Schüler Riemann und seiner Metrik bis hin zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie.

Weniger geläufig dürften logische Schwächen sein, die sich zu Beginn in der Infinitesimalrechnung von Newton und Leibniz verbargen und erst später durch Bolzano und Weierstraß beseitigt wurden. „Zum Glück warteten die damaligen Physiker und Mathematiker nicht, bis die logischen Fundamente der Infinitesimalrechnung geklärt worden waren, bevor sie die neue Methode anwandten.“ (81) Denn sie funktionierte trotz dieser Schwächen.

Der Autor klärt auf über die in der Landesvermessung eingesetzte „Methode der kleinsten Quadrate“, über den Zusammenhang von digitalen Fotos und der Fourier-Transformation, über die Maxwell-Gleichungen und ihre Bedeutung für die Erfindungen von Radio und Fernsehen sowie über die Dynamik nichtlinearer Gleichungen in der Chaostheorie. Die Themenauswahl ist gelungen. Der Autor deckt ein breites Spektrum ab, dabei liegt ihm die Physik besonders am Herzen.

Das längste Kapitel ist der Relativitätstheorie gewidmet. Stewart macht deutlich, dass die Navigation mittels GPS nur funktioniert, weil relativistische Korrekturen berücksichtigt werden. Er erläutert, dass die Allgemeine Relativitätstheorie zwar die beste Erklärung für den Ursprung des Universums liefert, das kosmologische Paradigma „Urknall“ aber dennoch Risse enthält. Dunkle Materie und Dunkle Energie bereiten Probleme, die Stewart zu der Schlussfolgerung verleiten, dass Kosmologen „einfallsreichere mathematische Modelle in Betracht ziehen sollten, bevor sie neue und nicht weiter untermauerte physikalische Phänomene einführen“. (384)

Die Ausführungen wären unvollständig, wenn sich Stewart nicht auch der Quantentheorie widmen würde. Die erfolgreichste Theorie der Physik ist so seltsam, dass man sie eigentlich nicht verstehen kann. Der Autor erläutert das „i“ in Schrödingers Differentialgleichung und beschreibt das berühmte Gedankenexperiment mit der Katze in der Box. Aufschlussreich ist Stewarts Beispiel mit dem Brechungsgesetz, wo das unberechenbare Verhalten einzelner Photonen durch sämtliche Verhaltensmöglichkeiten überlagert wird und dadurch aus der Quantenwelt die klassische Welt mit ihren bekannten Gesetzmäßigkeiten generiert wird.

Stewart versteht sein Handwerk, er vermittelt auf sachliche Art und Weise Erkenntnisse aus Mathematik und Physik. Aber seine Stärke ist auch seine Schwäche. Das Buch ist kein Drama wie "Fermats letzter Satz" von Simon Singh, es vermittelt nicht die Faszination ungelöster mathematischer Probleme wie "Die Musik der Primzahlen" von Marcus du Sautoy, es ist nicht humorvoll wie „Darf ich zahlen?“ von Günter M. Ziegler und auch keine Forschungsreise zu den Grenzen von Raum und Zeit wie "Das elegante Universum" von Brian Greene. Im Vergleich zu den genannten Büchern fehlt das letzte Quäntchen Atmosphäre, welches den Leser in seinen Bann zieht und die Welt drumherum vergessen lässt. Dennoch ist es informativ und lesenswert.

„Weltformeln“ ist ein populärwissenschaftliches Buch, welches überdurchschnittliche Kenntnisse in Mathematik und Physik und auch ein entsprechendes Interesse an mathematischen und physikalischen Fragestellungen voraussetzt. Es ist ein Buch für Leser, die sich von Formeln nicht abschrecken lassen und neugierig genug sind, die Strukturen unserer Welt, soweit sie mathematischer und physikalischer Natur sind, verstehen zu wollen.

Bewertung vom 15.06.2016
Ich denke, also spinn ich
Mai, Jochen;Rettig, Daniel

Ich denke, also spinn ich


weniger gut

Der Mensch – ein irrationales Wesen

"Ich denke, also spinn ich" ist ein Buch über psychologische Effekte, die unseren Alltag bestimmen. Die Autoren, Diplom-Volkswirte, haben mehr als 120 solcher Phänomene zusammengetragen und beschrieben. Das Buch ist übersichtlich strukturiert wie ein Nachschlagewerk. Die behandelten Effekte sind nach Oberbegriffen kategorisiert. Am Ende der unterschiedlichen Kategorien befinden sich kurze Zusammenfassungen.

Viele der aufgeführten Phänomene sind allgemein bekannt. Dies gilt z.B. für den Jo-Jo-Effekt (Warum wir nach einer Diät wieder zunehmen) oder den Placebo-Effekt (Substanzen, von denen wir glauben, dass sie eine bestimmte Wirkung haben, können diese auch entfalten). Bei manchen Effekten sind Zweifel angebracht, ob diese wissenschaftlich belegt sind. So z.B. beim Gore-Effekt. Dass die Temperatur überall dort in den Keller geht, wo Al Gore auftaucht, um vor der Klimakatastrophe zu warnen, riecht nach selektiver Wahrnehmung. Sind Phänomene wie "Die Kasse, an die man sich anstellt, ist immer die längste" oder "Die Ampel springt immer auf Rot, wenn man sich dieser nähert" nicht nach dem gleichen Muster gestrickt?

Das Besondere an dem Buch ist die Zusammenfassung zahlreicher unterschiedlicher, überwiegend psychologischer Phänomene in einem leicht lesbaren populärwissenschaftlichen Werk. Deutlich wird: Der Mensch ist ein irrationales Wesen. Wer mehr wissen will bzw. ausführliche Begründungen haben möchte, muss auf Fachliteratur zurückgreifen.

Bewertung vom 15.06.2016
Was ist Leben?
Schrödinger, Erwin

Was ist Leben?


sehr gut

Ein Klassiker der Wissenschaftsgeschichte

Es handelt sich um ein historisches Werk aus dem Jahr 1944. Erwin Schrödingers betrachtet die Grundlagen des Lebens aus dem Blickwinkel des Physikers. Die Frage, was Leben denn nun ist, wird nicht beantwortet. Es wäre auch naiv, das zu erwarten. Die Naturwissenschaft beschäftigt sich damit, wie Leben funktioniert, nicht damit, was es ist.

Der Biologe und Physiker Ernst Peter Fischer führt ausführlich in das Thema ein, beschreibt Hintergründe, zeitliche Abhängigkeiten und Folgen. Basis ist eine Arbeit von Timoféef-Ressovsky, Zimmer und Delbrück aus dem Jahre 1935, in der sie nahelegen, Gene als Makromoleküle zu betrachten. Schrödinger greift diese Gedanken auf und entwickelt sie weiter.

Schrödinger erklärt Grundlagen der statistischen Physik, prägt den Begriff „genetischer Code“, erläutert Vererbungsmechanismen und Mutationen und spekuliert über Zusammenhänge von Quantensprung und Mutation. „Nach der Auffassung die wir uns vom Mutationvorgang gebildet haben, genügt bereits die Verlagerung ganz weniger „regierender Atome“ in der Keimzelle, um eine deutlich erkennbare Veränderung der großmaßstäblichen Erbmerkmale des Organismus zu verursachen.“

Leben ist ein geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten der Materie mit der Tendenz, eine bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten und nicht in Unordnung überzugehen. Aufrecht erhalten bleibt sie durch Stoffwechsel (Essen, Trinken, Atmen). Das thermodynamische Gleichgewicht wird durch die Aufnahme von negativer Entropie verzögert, gleichzeitig wird Entropie (Wärme) abgegeben.

Die vielfältigen Erscheinungen des Lebens sind auch heute noch nicht geklärt. Die Ausgangsfrage bleibt ungelöst. Schrödinger stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einer physikalischen und einer biologischen Betrachtung heraus. In einer Schlussbetrachtung setzt er sich mit Determinismus und Willensfreiheit auseinander.

Bewertung vom 14.06.2016
Die weiße Löwin / Kurt Wallander Bd.4
Mankell, Henning

Die weiße Löwin / Kurt Wallander Bd.4


ausgezeichnet

Ein spannender Polit-Thriller

„Die weiße Löwin“ ist mehr als ein spannender Krimi. Es ist ein hervorragender Polit-Thriller mit Bezug zu Personen der Gegenwart. Alles beginnt damit, dass eine schwedische Immobilienmaklerin spurlos verschwindet. Schon bald deuten die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass es um ein Komplott mit internationalen Verstrickungen geht. Das Ziel: Eine berühmte Person des öffentlichen Lebens soll ermordet werden.

Henning Mankell ist ein begnadeter Erzähler. Er vermittelt glaubhaft das Milieu in den beiden Handlungsorten Schweden und Südafrika. Die Konfrontation mit der eiskalten Gewalt einer südafrikanischen Geheimorganisation lässt Kleinstadtkommissar Wallander konventionelle Grenzen überschreiten. Der Fall wird gelöst, ohne dass unrealistische Helden aufgebaut werden müssen. Dies ist einer der besten Wallander-Krimi von Henning Mankell.

Bewertung vom 14.06.2016
Stress
Willmann, Urs

Stress


sehr gut

Stress und seine Bedeutung

„Ohne Stress wäre unsere Spezies nie entstanden, und es gibt kaum einen Bereich des Lebens, in dem Stress nicht in Erscheinung tritt.“ (10)

Das Ziel des Buches besteht darin, die Sicht auf das Phänomen Stress zu verändern. „Er macht uns gesund, glücklich und stark, er verlängert das Leben.“ (37) Autor Urs Willmann stellt Untersuchungsergebnisse und Erfahrungsberichte vor, die veranschaulichen, welche Bedeutung Stress für den einzelnen Menschen und die Entwicklung der Menschheit hat.

Die Leser erfahren, warum Glücksspieler nicht überzeugend bluffen können, wenn sie sichtbar vor Stress frösteln (89), dass Schüchternheit keine psychische Störung ist (128) und welchen Einfluss Männerschweiß auf die Empfindlichkeit von Schmerz hat. (134) Der Autor erläutert die Aufgaben von Botenstoffen, beschreibt psychische und physische Reaktionen auf Stress und stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Verhalten in Stresssituationen und der Evolution.

Angst und Stress stehen in engem Zusammenhang. Beide Zustände können Euphorie auslösen, wie der Autor anhand zahlreicher Beispiele deutlich macht. Auf Adrenalin folgt als Belohnung Endorphin und das führt zur Euphorie und manchmal zur Sucht. Natürlicher und auch künstlicher Rausch ist auch in der Tierwelt bekannt, wie der Autor nicht nur am Beispiel tasmanischer Känguruhs (170) deutlich macht.

In „Zumutungen“ untersucht Willmann menschliche Abgründe und liefert Erklärungsansätze für das Böse im Menschen. Der Körper honoriert, was dem eigenen Überleben hilft und das ist ein zweischneidiges Schwert. „In der Geschichte der Menschheit wurden Dominanz, Macht und Aggressivität immer durch eine Endorphinausschüttung im Gehirn belohnt.“ (203) Die Erregung durch das Böse ist physiologisch nicht von einer (positiven) Stressreaktion zu unterscheiden.

Welche Schlussfolgerungen für den Alltag können aus den Untersuchungen des Phänomens Stress gezogen werden? Willmann gibt hierzu, unterstützt von dem Mediziner und ehemaligen Leistungssportler Thomas Wessinghage, den er interviewt hat, aufschlussreiche Antworten. Es ist ein Mythos, dass Manager den größten Stress haben. Ob man sich gestresst fühlt, korreliert mit dem Grad der Autonomie, der sich bei einer Verkäuferin an der Kaufhauskasse oder bei einem Arbeiter am Fließband auf einem niedrigen Level befindet.

Entspannung ist auf verschiedenen Wegen möglich und hängt davon ab, was für ein Typ man ist. Umgekehrt sind herausfordernde Tätigkeiten auch im Alter sinnvoll, um Demenz vorzubeugen. Die Einsichten und Rezepte im Buch sind nicht spektakulär, wenngleich die These „Stress macht glücklich“ provokativ wirkt. Willmann untermauert seine These durch Erkenntnisse aus Psychologie, Hirnforschung und Medizin. Entstanden ist ein verständlich aufbereitetes Buch, welches aktuelle Erkenntnisse zusammenfasst und insgesamt lesenswert ist.

Bewertung vom 13.06.2016
Die große Welt
McCann, Colum

Die große Welt


sehr gut

Facetten einer Großstadt

Der Roman spielt (überwiegend) in New York und besteht aus zehn Einzelgeschichten und der sie zeitlich und räumlich verknüpfenden Rahmenhandlung über das Leben und den Auftritt eines Hochseilartisten. Dieser spannt heimlich ein Seil zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers und führt auf diesem Kunststücke vor. Auch inhaltlich gibt es in diesem Werk Verknüpfungen, da manche Akteure in mehreren Episoden vorkommen.

Colum McCann zeigt Facetten einer Großstadt auf. Seine Protagonisten stammen aus allen gesellschaftlichen Schichten (Artisten, Computerhacker, Ordensleute, Straßenmädchen, Richter, Altenpfleger); ein Hang zu Milieubeschreibungen sozialer Unterschichten – ähnlich wie in „Der Himmel unter der Stadt“ - ist unverkennbar. Die Einzelgeschichten sind zwar in sich abgeschlossen, aber auch gleichzeitig Teil eines größeren Zusammenhangs.

Das Vorhaben des Hochseilartisten ist riskant. Die Frage, ob er stürzt taucht mehrfach auf. Die Spannung, die der Akrobat erzeugt, ist ein Spiegel für die Spannungen der Protagonisten in ihrem Lebensalltag. Dieser Alltag in New York, insbesondere in der Bronx, ist gefährlich, wie einige Akteure erfahren müssen. Zwischen Hoffnung und Realität klaffen Lücken. Einige Retrospektiven sind in die Handlungen eingewoben. Autor McCann moralisiert nicht und klagt nicht an.

Die Verbindungen zwischen den Geschichten wirken natürlich und ausgereift. Es entsteht nicht der Eindruck von Konstruktionen wie z.B. in Daniel Kehlmanns "Ruhm", der das gleiche Stilmittel einsetzt. Nicht alle Erzählungen fesseln gleichermaßen. Zu den Highlights gehören die Geschichten über John Corrigan ("Nichts gegen den Himmel, aber mir gefällt's hier") und Tillie Henderson ("Auf H gebaut").