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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 26.11.2014
Arthur & George
Barnes, Julian

Arthur & George


gut

Very british

Dem Roman «Arthur & George» von Julian Barnes liegt ein der französischen Dreyfus-Affäre ähnlicher Justizskandal zugrunde, die Edalji-Affäre in England, die sich ebenfalls in der Zeit des Fin de Siècle ereignet hat. Wie in Frankreich Émile Zola, so setze sich auch in England ein berühmter Schriftsteller für den offensichtlich zu Unrecht verurteilten George Edalji ein, Sir Arthur Conan Doyle nämlich, der Schöpfer des berühmten Sherlock Holmes. Der Autor verknüpft in seiner weitgehend auf Tatsachen gestützten Geschichte geschickt Wahrheit und Fiktion, zitiert umfangreich aus zeitgenössischen Quellen und lässt andererseits seiner Phantasie freien Lauf, erfindet das, was nicht überliefert ist, ungeniert, aber durchaus stimmig, hinzu. War in Frankreich unverhohlener Antisemitismus der Treibstoff des Skandals, so war in England ein latenter Rassismus im Spiel, das Justizopfer war Sohn eines anglikanischen Pfarrers indischer Herkunft.

In sequenzieller Erzählweise, in jeweils abwechselnd «Arthur» oder «George» betitelten Kapiteln, schildert der für seinen unterschwellig ironischen Schreibstil bekannte Autor in dem vierteiligen Roman den Lebensweg der beiden ungleichen Männer, beginnend in deren frühester Jugend. Arthur stammt aus prekären Verhältnissen und wird Augenarzt, wobei ihm die nicht gerade florierende eigene Praxis viel Zeit lässt zum Schreiben, dem er sich nach ersten Erfolgen denn auch bald ganz zuwendet, und mit seiner faszinierenden Detektivfigur wird er schließlich dann weltberühmt. George, lebensfern und lustfeindlich erzogener Pfarrerssohn, eifert nicht dem Vater nach, er studiert Jura und lässt sich als Rechtsanwalt nieder, lebt aber weiterhin bei seinen Eltern und entwickelt sich allmählich zum Sonderling. Er wird für Straftaten, die er nicht begangen haben kann, zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Als er sich mit seinem Fall hilfesuchend an Doyle wendet, erreicht dieser in an Sherlock Holmes erinnernder, deduktiver Ermittlungsarbeit und mit Hilfe einiger aufsehenerregenden Zeitungsartikel aus seiner Feder eine halbherzige Rehabilitierung Edaljis.

Neben dem zweifellos spannenden Kriminalfall gewährt dieser Roman auch einen aufschlussreichen Einblick in die englische Gesellschaft jener Zeit, entlarvt deren erschreckende Doppelbödigkeit. Barnes erzählt weit ausholend und genüsslich, man fühlt sich regelrecht in das Geschehen hineingezogen in bester Sherlock-Holmes-Manier, sitzt mit Zigarre und Brandy ebenfalls mit am Kamin. Der Disput von Doyle mit dem böswilligen Polizeichef, der die stümperhaften, vorsätzlich einseitigen, sich bewusst auf unqualifizierte Gutachten stützende Ermittlungen zu verantworten hatte, geführt an eben jenem Kamin, gehört für mich zu den Höhepunkten dieses Romans. Geradezu süffisant erzählt sind die köstlichen Passagen, in denen der atheistische Autor die biedere anglikanische Kirche und den rührend naiven Glauben ihrer zumeist engstirnigen Mitglieder karikiert. Amüsant zu lesen auch die Details einiger Séancen des im Alter zunehmend zum Spiritismus neigenden Sir Arthur Conan Doyle, deren Höhepunkt eine grandiose Gedenkfeier nach seinem Tode bildet, die in der Royal-Albert-Hall mit zehntausend Teilnehmern zelebriert wird, unter denen natürlich auch ein zeitlebens dankbarer George Edalji zu finden ist.

Barnes bislang umfangreichster Roman ist nichts für ungeduldige, ihre Lieblingslektüre verschlingende Krimi-Leser. Man muss sich Zeit nehmen dafür, darf auch scheinbare Umwege nicht scheuen, wird aber stets gut unterhalten in diesem spannenden und den eigenen Horizont erweiternden Gesellschaftsroman aus einer längst vergangenen Epoche. Geduld aber, die gehört nun mal zu den elementarsten britischen Tugenden.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.11.2014
San Miguel
Boyle, T. C.

San Miguel


weniger gut

Vom Scheitern des American Dream

«Romane sind wie Rockkonzerte: Entweder bringst du die Leute zum Tanzen, oder sie feuern dir Bierdosen an den Kopf». Wendet man dieses Zitat von T.C. Boyle auf seinen letzten Roman «San Miguel» an, werden wahrscheinlich eher die Bierdosen fliegen, zum Tanzen animiert das elegische Buch wohl kaum. Unter den Fans dieses Romanciers hat es jedenfalls einige Verwirrung ausgelöst, steht es doch wie eine einsame Insel alleine da im üppigen Werk des schreibfreudigen amerikanischen Autors, der für witzige Formulierungen, kreative Plots und skurrile Figuren gleichermaßen bekannt ist (oder war?). Altersweisheit und –milde sei der Grund für den Stilwandel, wird gemutmaßt. «Am schwersten fiel mir, dass mein Buch weder ironisch noch lustig ist» hat der heute 66jährige Boyle geäußert, «Ich wollte sehen, ob ich das kann. Ich hätte tolle Szenen schreiben können, aber ich wollte nicht. Ich wollte, dass alles strikt an den historischen Hintergrund und die Insel gebunden ist. Es geht um San Miguel, diesen bedrohlichen Ort».

Gestützt auf gründliche Recherchen beschreibt der Autor in den drei nach seinen Protagonistinnen benannten Teilen des Romans aus spezifisch weiblicher Sicht das karge Leben auf einer einsamen Insel, im Pazifik vor Santa Barbara in Kalifornien gelegen. Die schwindsüchtige Marantha folgt 1888 ihrem Will auf die Insel, die reine Luft dort würde ihr gut tun, hat er versprochen. Sie hat ihr ganzes Geld hergegeben, er verspricht sich von der dort betriebenen Schafzucht ein gutes Geschäft. Aber schnell wird klar, daraus wird nichts, und für sie und die Stieftochter Edith ist die Insel auch nicht das versprochene Paradies, es ist die Hölle. Beide sind schon bald nur noch von dem einen Wunsch beseelt, der rauen Natur und den primitiven Lebensverhältnissen dort zu entfliehen, aufs Festland zurückzukehren, in die Zivilisation. Als Marantha stirbt, zwingt Will die noch minderjährige Edith, weiterhin mit ihm auf der Insel zu leben, er braucht sie für den Haushalt. Nach einigen gescheiterten Versuchen gelingt Edith schließlich die Flucht, sie strebt eine Karriere als Künstlerin an, wie es ihr ergeht dabei erfahren wir leider nicht. Im dritten Teil übernehmen vierzig Jahre später Elise und ihr Mann die Pacht der Insel, sie bekommen zwei Kinder und leben in deutlich besseren Verhältnissen, die ihnen der technische Fortschritt ermöglicht. Ihr Glück aber währt nicht lange, die Weltwirtschaftskrise und der zweite Weltkrieg bedrohen ihre Idylle, und als Ediths Mann nach einem Unfall depressiv wird und Selbstmord begeht, kehrt sie desillusioniert von einer ihr fremd gewordenen öden Insel aufs Festland zurück.

Geschichten von wagemutigen Pionieren in menschenfeindlicher Natur, der amerikanische Traum also, hier in Form einer auf wahren Geschehnissen basierenden Robinsonade, sind so ganz nach dem Geschmack des Lesepublikums jenseits des Atlantiks. Boyle lässt seine beiden Männerfiguren scheitern, und er erzählt von den tapferen Frauen, die dem stets drohenden Unheil die Stirn bieten, so gut sie eben können. Die Handlung folgt keinem kontinuierlichen Ablauf, sie ist kapitelweise in Einzelszenen gegliedert, die aneinandergereiht jeweils bestimmte Ereignisse fragmentarisch erzählen. Der für Boyle ungewohnt nüchterne Sprachstil ist fast pathetisch, seine Geschichte aber bleibt ohne Spannung und Höhepunkte. Viel wird erzählt, wenig passiert, wobei die gekonnt beschriebene, reizlose Natur der überweideten, baumlosen Insel stets im Mittelpunkt steht, aber irgendwann wird es dann doch langweilig für den Leser. Besser gelungen sind die Beschreibungen der Figuren, deren Innenleben nachvollziehbar und glaubhaft dargestellt ist, ohne wirklich emotionale Tiefe allerdings. Ein historischer Roman, der mich nicht hat überzeugen können, ohne dass ich deshalb nun gleich zum Bierdosen-Werfer werde.

Bewertung vom 14.11.2014
Die Freistatt
Faulkner, William

Die Freistatt


weniger gut

Ein sperriges Prosawerk

Im Werk von William Faulkner nimmt «Die Freistatt» eine Sonderrolle ein, gedacht als Garant für hohe Auflagen durch Sex and Crime, darf man vermuten, denn 1931, als der Roman erschien, wurde allein schon seine Thematik als anrüchig betrachtet im prüden Amerika. Mit feiner Ironie schildert der spätere Nobelpreisträger im Pulp-Fiction-Stil eine wilde Geschichte, in der die damals in den USA verhängte Prohibition Auslöser ist für Schwarzbrennerei und für das daraus entstehende kriminelle Umfeld. Wie üblich bei Faulkner ist sein Roman in den Südstaaten angesiedelt, im Bundesstaat Mississippi, genauer im Yoknapatawpha County, einem von seinen anderen Romanen her wohlbekannten, fiktionalen Verwaltungsbezirk. Mit Gewaltexzessen wie Mord, Vergewaltigung, Lynchmob und mit Unmoral in Form von Nymphomanie, Voyeurismus und Prostitution enthält der Roman typische Zutaten von Schundliteratur, er wurde bei seinem Erscheinen denn auch dementsprechend behandelt. Mit Recht?

Keineswegs, merkt man als Leser schon nach wenigen Zeilen, denn Faulkners Sprache ist anspruchsvoll und hochkomplex, alles andere als leicht zu lesen also, womit der Pulp-Fiction-Verdacht von vornherein ausgeräumt ist. André Malraux spricht bei diesem Roman vom «Einbruch der griechischen Tragödie in den Kriminalroman». Seine Figuren erinnern in ihrer Schicksalhaftigkeit in der Tat an die großen Dramen der Antike, ihre Determiniertheit ist bedingt durch ein unabänderlich scheinendes, schreckliches Geschehen, das kaum aufzuhalten ist. Erzählt wird auktorial in einem chronologischen Handlungsfluss, der durch viele Rückblenden angereichert ist, deren Zuordnung sich allerdings häufig als recht schwierig erweist, dem Leser also die volle Konzentration abverlangt. Die Dialoge werden oft in unvollständigen, wie abgehackt wirkenden Sätzen geführt und enden dann typischerweise mit --- , womit recht treffend die Alltagssprache abgebildet wird in ihrer unkorrekten Syntax. Häufig bleibt unklar, wer da eigentlich spricht, die Dialoge sind durch lapidar verwendete Personalpronomina oder vage Bezeichnungen wie «die Frau» nur mühsam nachvollziehbar.

Ausgangspunkt der komplizierten, hier nur stichwortartig wiedergegebenen Handlung ist eine einsam gelegene Schwarzbrennerei. Ein junges Pärchen strandet dort wegen einer Autopanne und befindet sich nun in Gesellschaft finsterer Gestalten, die den jungen Mann mit Alkohol bewusstlos machen und begehrlich nach dem Mädchen schielen. Einer der Männer, der sie beschützen will, wird erschossen, sie wird mit einem Maiskolben defloriert, missbraucht und in ein Bordell nach Memphis verschleppt. Der des Mordes angeklagte Betreiber der Schwarzbrennerei wird wegen einer bewussten Falschaussage des inzwischen zum verwöhnten Gangsterliebchen verwandelten Mädchens schuldig gesprochen und von einem Lynchmob verbrannt, der wahre Täter, Entführer und impotente «Besitzer» des Mädchens wird, ohne sich verteidigt zu haben, wegen eines anderen Mordes gehängt, den er nicht begangen haben kann.

Faulkner deutet alles Brutale oder Anstößige nur verschämt an in seiner pathetischen Geschichte, er verlässt sich dabei voll auf die Phantasie seiner Leser. Der komplexe Plot handelt im Wesentlichen von menschlicher Schuldhaftigkeit, lässt aber auch ganz versteckt das Gute hervorschimmern aus seinen Figuren. Nicht leicht zu lesen das Alles, man erlebt ein an antike Vorbilder erinnerndes Südstaatendrama des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Feinheiten sich einem nur durch detektivische Mitwirkung erschließen. Das sperrige Prosawerk dürfte also nicht jedermanns Sache sein, für mich selbst war es weder eine bereichernde noch gar eine erfreuliche Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2014
Der Fall Kurilow
Némirovsky, Irène

Der Fall Kurilow


gut

Exekution des Pottwals

Vier Jahre nach dem literarischen Durchbruch von Irène Némirowski erschien 1933 ihr Roman «Der Fall Kurilow». Die Handlung ihrer spannenden Geschichte ist im Russland des Jahres 1903 angesiedelt, in der Zeit kurz vor dem Beginn der revolutionären Umwälzungen, die mit dem «Blutsonntag» 1905 einen ersten Höhepunkt erreichten und mit der «Oktoberrevolution» 1917 endeten.

«Auf der menschenleeren Terrasse eine Cafés von Nizza hatten sich, angezogen durch die Glut eines roten Kohleöfchens, zwei Männer niedergelassen» lautet der erste Satz des Romans. Léon M. ist einer der Beiden, der Andere, ein ehemaliger Polizist, spricht ihn als Marcel Legrand an, den er als mutmaßlichen Revolutionär 1903 zeitweilig beschattet hatte, das Ganze ist dreißig Jahre her. Die in einer Art Geheimdienstjargon nur in Andeutungen geführte, kurze Unterhaltung dreht sich um die revolutionären Aktivitäten im zaristischen Russland, dem von beiden Seiten ohne Rücksicht auf Menschenleben geführten Kampf um die Beseitigung des zaristischen Regimes. Damals war der Polizist als Personenschützer für die Sicherheit eines allseits verhassten Ministers namens Kurilow verantwortlich, auf den der Revolutionär Léon M. ein Attentat verüben sollte. Dieser geschickt vorgeschalteten Szene folgt der «eigentliche» Roman, der rückblickend die damaligen Ereignisse aus der Sicht des Attentäters schildert. «Ich habe im Hinblick auf eine eventuelle Biografie mit der Niederschrift dieser Notizen begonnen» erläutert der Ich-Erzähler Leon den Anlass für seinen umfassenden Bericht.

Es gelingt ihm, sich mit falscher Identität als Arzt bei Kurilow einzuschleichen, der lieber von einem ausländischen Hausarzt betreut werden will, weil er die russischen für unfähig hält. In dieser Position kommt Leon dem krebskranken Opfer sehr nahe, fast zu nahe, denn er beginnt den «Pottwal», wie der skrupellose Minister mit Spitznamen genannt wird, trotz seines hassenswerten Charakters und der verübten Missetaten als bemitleidenswerten, armseligen Menschen zu sehen, eine im Privaten geradezu lächerliche Figur. Denn ohne die Insignien der Macht, ohne sein Ministeramt ist er ein Nichts, wie sich zeigt, als er plötzlich sein Amt verliert und nun, völlig haltlos, mit sich selbst nichts mehr anzufangen weiß. Leon beginnt zu zweifeln, ob die von einem revolutionären Komitee geplante Exekution überhaupt noch sinnvoll ist. Als dem Nachfolger des Ministers ein schwerwiegender Fehler unterläuft, kommt der «Pottwal» doch wieder in Amt und Würden. Kurz darauf wird endlich auch Ort und Zeitpunkt des Attentates festgelegt, von den Terroristen ganz gezielt daraufhin geplant, eine größtmögliche öffentliche Wirkung zu erreichen, das verhasste Zarenregime also vor aller Augen möglichst effektiv bloßzustellen.

Die aus der Täterperspektive erzählte Geschichte entlarvt die Hauptakteure des zaristischen Regimes allesamt als «prächtig ausstaffierte Hampelmänner, von denen nichts geblieben ist». Der Roman gewährt dem Leser Einblick in ein ungerechtes und feudales Regime. Man ist als Leser geneigt, sich auf die Seite der Revolutionäre zu schlagen, Verständnis für ihre Ziele zu entwickeln, auch wenn sich später daraus, mit der UDSSR, ein ebenso schlimmes Unrechtsregime etabliert hat. Welches heute wiederum, mit dem «lupenreinen Demokraten» an der Spitze, als politisches System kaum weniger autoritär ist, und an die Stelle des Adels sind jetzt die Oligarchen getreten, es geht heute mitnichten gerechter zu als damals. Durch ihre einfache, geradlinige Erzählweise, mit einfühlsamer Charakterisierung ihrer beiden Hauptfiguren und einem gut durchdachten Plot erzeugt die Autorin einen erzählerischen Sog, der fast an einen Krimi erinnert und bewirkt, dass man den angenehm lesbaren, kurzen Roman nicht mehr aus der Hand legt, auch wenn man von Anfang an weiß, was passieren wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.10.2014
Landleben
Updike, John

Landleben


weniger gut

Ein inhomogener Mix

Das sich beängstigend schnell schließende Zeitfenster zwischen Eintritt in den Ruhestand und Tod ist Thema des Romans «Landleben» von John Updike. Sein Held Owen lebt im Kleinstadtmilieu an der amerikanischen Ostküste, in einer der »Villages», wie der Originaltitel lautet, in denen das Leben zwar entschleunigt abläuft und überschaubar bleibt, die aber trotzdem keine Gesellschaft hervorbringen, die unverdorben ist im Sinne von Rousseau. Den Menschen ist nämlich, in Zeiten der Libertinage zwischen Antibabypille und Aids, der ungehemmte Sex eminent wichtig, oft realisiert in unbekümmerten Seitensprüngen, glaubt man dem Autor. Genau das ist denn auch das eigentliche Hauptthema dieses Romans, den der Autor als Siebzigjähriger geschrieben hat, seinem Protagonisten an Jahren gleich und ebenfalls in ländlicher Umgebung wohnend, man darf also zumindest teilweise auch sein Alter Ego vermuten in Owen. «Ekelhafte Altmännerliteratur» hatte Elke Heidenreich bei «Der Butt» von Grass konstatiert, Updikes Roman kam bei ihr in dieser Hinsicht deutlich glimpflicher davon, mit Recht?

In Rückblicken wird das Leben des Pensionärs Owen erzählt, angefangen von Kindheit und Schule über das Studium am MIT in Boston und die frühe Selbständigkeit als Teilhaber eines Software-Unternehmens bis hin zu seinem Rückzug aus dem Beruf. Während des Studiums lernt er Phyllis kennen, eine glänzende Mathematikerin, die eine sichere Karriere aufgibt, um ihn zu heiraten. Sie ziehen aufs Land, Owens neue Firma erweist sich als erfolgreich, die Beiden führen ein saturiertes Leben und bekommen vier Kinder. Eines schönen Tages aber passiert das, wovon Männer auf der ganzen Welt immer nur träumen, die Frau eines befreundeten Ehepaares bietet sich ihm unverhohlen zum Sex an, ohne jedwede Präliminarien. Trotz Skandal und Ehekrach nach der Entdeckung seiner Untreue entwickelt Owen nun eine neue Passion, er ist unermüdlich auf der Suche nach ähnlichen Abenteuern. Oft aber muss er sich gar nicht darum bemühen, die Ehefrauen seiner Nachbarn und Freunde fallen ihm zu wie reife Früchte, und auf seinen Geschäftsreisen kommen noch diverse One-Night-Stands hinzu. Bis er dann schließlich an Julia gerät, die Frau des Pfarrers, die aber resolut auf Scheidung drängt. Er heiratet sie denn auch und zieht mit ihr, wohlversorgt durch den Erlös aus dem Verkauf der Firma, in eine entfernte Gegend, um im Ruhestand einen Neubeginn zu machen, den peinlichen Skandalen zu entfliehen, die seine verhängnisvolle Promiskuität verursacht hat.

Ergänzt wird die einfühlsam dargestellte Thematik vom Altwerden sowie der genüsslich ausgebreitete Ehebruch- und Sexstrang der Handlung durch immer wieder eingestreute, detaillierte Beschreibungen der Computer-Historie, beginnend an deren Anfängen bis hin zu den Vorläufern des PCs als erschwingliches Massenprodukt. Dieser inhomogene Mix erweist sich beim Lesen als ziemlich störend, eine Verflechtung der Themen zu einem erzählerischen Fluss ist nicht mal als Versuch erkennbar. Sprachlich folgt Updike dem amerikanischen Mainstream, einem wenig inspirierten Erzählstil, kurz und knapp in einfacher Syntax ein großes Lesepublikum ansprechend, immer bestsellertauglich also. Gedankliche Tiefe ist allenfalls beim Thema Altwerden zu finden, und interessante Figuren wie die verlassene Ehefrau Phyllis bleiben in einer Art Statistenrolle, über ihr Innenleben erfährt man so gut wie nichts. Die Sexpassagen aber sind als dümmliche Männerphantasien nur peinlich, insoweit also deutlich unter dem Niveau dessen, was Grass, zu Unrecht übrigens, angekreidet wurde. Große Literatur ist dieser Roman jedenfalls nicht, und man vergisst ihn, kaum hat man das Buch zugeklappt.

Bewertung vom 28.10.2014
Die Kunst des Lesens
Nabokov, Vladimir

Die Kunst des Lesens


sehr gut

Wer sucht, der findet

Ist Lesen eine Kunst? Das wird sich so mancher Literaturfreund verblüfft fragen, wenn er auf das Buch «Die Kunst des Lesens» von Vladimir Nabokov stößt. Gemeint ist hier natürlich die Rezeption von Literatur, genauer gesagt von Epik. Wie daraus größtmöglicher Nutzen zu ziehen ist, die größte Bereicherung und höchste Erbauung, das erfahren wir in eindrucksvoller Weise aus diesem informativen Buch. Es beschäftigt sich exemplarisch mit europäischer und russischer Prosaliteratur und zeigt detailliert auf, wodurch Literatur zu Kunst wird.

Die ursprünglich in zwei Bänden aus dem Nachlass des Literaturwissenschaftlers herausgegebenen Niederschriften seiner Vorlesungen sind mit weiteren Vortagstexten angereichert, es ist also kein originäres Werk aus einem Guss, und in der hier vorliegenden Ausgabe wurde das Ganze auch noch zu einem Band gekürzt. Dass dabei ausgerechnet die beiden literarischen Giganten Proust und Joyce weggefallen sind, war mir besonders schmerzlich, man bekommt die vollständigen Bände aber problemlos antiquarisch. Die deutschsprachige Literatur ist einzig durch den Roman «Die Verwandlung» von Franz Kafka vertreten, wobei Nabokov seine Auswahl folgendermaßen begründet: «Er ist der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller unseres Zeitalters; im Vergleich zu ihm sind Lyriker wie Rilke oder Romanciers wie Thomas Mann Zwerge oder Gipsheilige». Damit hat sich der Professor weit aus dem Fenster gelehnt, und er tut dies auch mit der weiteren Auswahl der «Meisterwerke der europäischen Literatur», Jane Austen – Mansfield Park, Charles Dickens – Bleakhouse, Flaubert – Madame Bovary, Stevenson – Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Im zweiten Teil, «Meisterwerke der russischen Literatur», finden wir Gogol – Der Mantel, Dostojewski, Tolstoi – Anna Karenina und Tschechow – Die Dame mit dem Hündchen. Eine Sonderrolle nimmt dabei Dostojewski ein, von dem er nicht das einzelne Werk untersucht, den er vielmehr insgesamt beurteilt: «Unter diesem Blickpunkt [zeitloses Kunstwerk, individueller Genius] ist Dostojewski kein bedeutender Schriftsteller, sondern eher mittelmäßig mit dem gelegentlichen Aufblitzen brillanten Humors, aber, ach!, mit Wüsteneien literarischer Plattheiten dazwischen».

Nabokov, einem größeren Publikum meist nur als Autor eines Bestsellers zum Thema Pädophilie bekannt, steuert viele kluge Gedanken bei zum Umgang mit Literatur. Im Vorwort macht er mit einem Zitat von Flaubert deutlich, dass fünf oder sechs gute Bücher gründlich zu kennen optimal wäre für jeden Leser, woraus natürlich folgt, man müsse sie mehrmals und mit Bedacht lesen. Darin stimmt er übrigens mit Seneca überein, der die gleiche Empfehlung schon zweitausend Jahre früher, in seinen berühmten Briefen an Lucillius, ausgesprochen hat. Man solle außerdem tunlichst ganz unvoreingenommen an seine Lektüre herangehen, sich dem literarischen Kunstwerk unbeschwert und offen nähern. Und man dürfe auch nie vergessen, «in Wahrheit sind bedeutende Romane nichts anderes als großartige Märchen», wer Realität suche und wissenschaftliche Exaktheit, der sei hier falsch. Das höchste Glück des sich um Zugang zu seinen Lesern bemühenden, wahrhaftigen Dichters hat er in einem wundervollen Bilde beschrieben: «Der große Künstler erklettert den weglosen Hang, und was meinen Sie, wen er oben, auf einem windumtosten Felsband, trifft? Den keuchenden und glücklichen Leser. Dort fallen sie sich in die Arme und bleiben auf immer vereint». Ein guter Leser, postuliert Nabokov, ist jemand, der über «Vorstellungskraft, ein Gedächtnis, ein Wörterbuch und eine gewisse künstlerische Einfühlungsgabe verfügt – und letztere bemühe ich mich in mir selbst und in anderen zu entwickeln».

Ob ihm das bei den Lesern dieser höchst interessanten Sammlung seiner literarischen Vorträge gelingt, liegt allein bei jedem Leser selbst. Wer sucht, der findet! Mich jedenfalls hat diese Lektüre sehr bereichert.

Bewertung vom 25.10.2014
Das Sandkorn
Poschenrieder, Christoph

Das Sandkorn


gut

Hält das Böse drin, oder draußen

In seinem dritten Roman «Das Sandkorn» verblüfft Christoph Poschenrieder seine Leser mit einem jungen Mann, der auf den Straßen von Berlin Sand ausstreut, misstrauisch beäugt von den Passanten, und so dauert es auch nicht lange, bis die Polizei einschreitet und den seltsamen Mann zur Vernehmung mitnimmt. Es ist Krieg, später wird man ihn den Ersten Weltkrieg nennen, und da muss man auf der Hut sein, alles ist verdächtig. Mit seinem famosen Anfang erzeugt der Autor einen erzählerischen Sog, der bis zum überraschenden Schluss seiner Geschichte anhält, ja sogar bis zum Nachwort, der Notiz zur Geschichte der Geschichte, in der erst man schließlich die letzte Aufklärung findet.

Der mysteriöse Sandstreuer entpuppt sich auf der Polizeiwache als der Kunsthistoriker Jacob Tolmeyn, der im Auftrag des Königlich Preußischen Historischen Instituts in Rom die steinernen Zeugen der Herrschaft des Stauferkaisers Friedrich II in Süditalien untersucht hat. Mit dem Kriegseintritt Italiens endete seine Mission, er musste nach Berlin zurückkehren. Poschenrieder erzählt seine Geschichte zweisträngig, einerseits wird chronologisch über die Erlebnisse seines Protagonisten berichtet, andererseits wird das Geschehen aus der Perspektive des verhörenden Kommissars Treptow dargestellt, dessen Manuskript mit Lebenserinnerungen in Einschüben zitiert wird. Beides ist interessant zu lesen und obendrein recht aufschlussreich, der kunstgeschichtliche Teil ebenso wie der kriminalistische.

Tolmeyn ist homosexuell, eine Neigung, die auszuleben vor hundert Jahren mit dem Strafgesetzbuch, dem berühmt-berüchtigten §175, kollidierte und entsprechend geahndet wurde. Als er deswegen erpresst wird, flüchtet er aus Berlin in eine Anstellung in Rom, von wo aus er schon bald als Forschungsleiter, immer auf den Spuren des zu seiner Zeit als Stupor mundi bewunderten Kaisers Friedrich II, verschiedene süditalienische Regionen bereist. Bei den Vermessungen, Ausgrabungen und fotografischen Dokumentationen der Bauwerke hilft ihm sein Kollege Beat, ein junger Wissenschaftler aus der Schweiz. Die Beiden verstehen sich nach anfänglicher Skepsis allmählich immer besser, entwickeln schließlich sogar große Sympathie füreinander, ohne dass über das rein Freundschaftliche hinaus eine weitergehende Beziehung entsteht. Der Autor schildert all dies extrem distanziert, die gleichgeschlechtliche Neigung wird von ihm kaum angedeutet, geschweige denn thematisiert. Tolmeyn entdeckt bei der mikroskopischen Untersuchung von Sandproben deren für jeden Fundort unterschiedliche, charakteristische Struktur, er sammelt daraufhin fleißig Proben aller besuchten Orte zur späteren Auswertung. Bei einer weiteren Reise in gleicher Mission werden die beiden Forscher dann von Letizia begleitet, die als Aufpasserin für den italienischen Staat fungiert. Auf ihren Wunsch hin unternimmt man gemeinsam einen privaten Ausflug zur Hexe von Barile, einer Seherin, die einem von ihnen großes Unglück prophezeit. Als die alte Frau am Ende murmelnd und Sand streuend ihr Haus umkreist, lautet ihre Antwort auf die erstaunte Frage nach dem Warum: «Hat immer geholfen. Hält das Böse drin, oder draußen».

Mit dem gut durchdachten Aufbau des Plots, von dem der Spannung wegen hier nicht mehr verraten werden soll, in einer leicht lesbaren Sprache unpretiös erzählt, ruft Poschenrieder nicht nur bei Italienliebhabern glänzende Augen hervor mit seiner netten Geschichte. Man lässt sich gern einfangen vom Zauber der besuchten Stätten, deren wichtigste, den Höhepunkt bildend, das Castell del Monte ist, von dem uns schon im Vorspann des Buches ein Foto aus dem Jahre 1908 empfängt, die «Kaiserkrone aus Stein» jenes Federico Secondo, des heimlichen Helden dieses Romans.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.10.2014
Vor dem Fest
Stanisic, Sasa

Vor dem Fest


gut

Ohne Abgang

Der zweite Roman des aus Bosnien-Herzegowina stammenden jungen Autors Saša Stanišic rückt ein fiktives Dorf in der Uckermark ins Rampenlicht. Dessen Bewohner feiern, der Titel «Vor dem Fest» deutet es schon an, alljährlich das traditionelle Annenfest. Es mag an der Herkunft des Autors liegen, dass in seiner sich um ein trostloses Kaff rankenden Geschichte, wenig mehr als zwanzig Jahre nach der Wende, die politische Vergangenheit nicht im Blickpunkt steht. Er erzählt weitgehend losgelöst davon, und wie er das macht, mit welchen literarischen Mitteln und in welcher Fülle an originellen Einfällen, das ist wahrlich nicht alltäglich. Sein Augenmerk gilt den individuellen Befindlichkeiten der Einwohner dieses sich langsam entvölkernden Dorfes, die er am Beispiel seiner durchaus skurrilen Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, ergänzt um historische Ereignisse aus dem Heimatarchiv der kleinen Gemeinde.

Der in fünf Teile gegliederte Roman wird dreisträngig erzählt, er behandelt in seinem Hauptstrang die vierundzwanzig Stunden vor und während des Annenfestes 2013. Erzählt wird aus einer kollektiven Wir-Perspektive, die das ganze Dorf einschließt, in der jeder Protagonist Teil des dorfgeschichtlichen Chores ist. Da ist zum Beispiel der ehemalige Soldat, der sich als Rentner etwas hinzuverdienen muss und als Protestwähler zur den Neoliberalen tendiert. Oder der Briefträger, der wie selbstverständlich die Post der gesamten Dorfgemeinschaft mitliest und sich hingebungsvoll der Hühnerzucht verschrieben hat. Es gibt die neunzigjährige Malerin, die Szenen aus dem Dorfleben in Ölbildern festhält, als Beispiel sei das Bild «Der Neonazi schläft» genannt. Oder die depressive Frau Schwermuth (sic), die ebenso argwöhnisch wie erfolgreich über das beachtenswerte Dorfarchiv wacht. Und der uralte Fährmann, in dessen Logbuch über die Jahrzehnte hinweg nur sieben Einträge von Passagieren verzeichnet sind, einer davon ist von Angela Merkel. Schließlich tauchen unvermutet zwei fremde junge Männer auf, die in Reimen sprechen, ein durchaus verblüffendes Stilmittel des kreativen Autors. Der im Übrigen den Leser durch seinen subtilen Humor und seine überbordende Erzähllust für sich einzunehmen versteht.

Aufgebaut ist diese vielschichtige Erzählung wie ein Reigen aus vielen kurzen, zunächst voneinander unabhängigen Abschnitten, die erst allmählich innere Bezüge erkennen lassen und sich dann teilweise ergänzen. Parallel zum eigentlichen Erzählstrang wird von einer Fähe, deren Bild übrigens auch den Buchumschlag ziert, und ihrem rastlosen Bemühen erzählt, beim Hühnerzüchter Eier zu stehlen, und diese Tiergeschichte ist ebenfalls häppchenweise in viele kleine Abschnitte über den gesamten Text verteilt und lose mit der Geschichte der Menschen verwoben. Gleiches gilt für den historischen Strang, der aus diversen anekdotenhaft zitierten Auszügen aus der Dorfchronik besteht, ohne erkennbare Beziehungen zueinander und mit zum Teil drastischen Berichten, zurückreichend bis ins 16ten Jahrhundert, die das Geschehen stilecht in nicht immer einfach zu lesender, dem Altdeutschen nachempfundener Sprache anreichern. Verbindungen zur eigentlichen Handlung sind nicht auszumachen, es wird vielmehr ein historischer Hintergrund beleuchtet, der das aktuelle Geschehen eindrucksvoll relativiert, schlechte Zeiten gab es schon immer, soll so dem Leser wohl bedeutet werden.

Ich muss gestehen, dass ich das Buch am Ende etwas irritiert aus der Hand gelegt habe. Aber manchmal stellen sich die Wirkungen eines Textes ja erst später ein, dem Abgang beim Wein vergleichbar, der den Genuss erst perfekt macht als letztes, wichtigstes Kriterium. Genau das fehlt hier aber, wie ich inzwischen weiß, allenfalls einige amüsante Wendungen sowie der flockige Schreibstil des Autors insgesamt bleiben haften, mehr nicht. Ist das Weltliteratur, wie der Klappentext uns suggeriert? Mitnichten, da bin ich mir sicher!

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.10.2014
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Sonderausgabe
Kundera, Milan

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Sonderausgabe


gut

Es muss sein

Irrte die Feuilletonredaktion der Süddeutschen Zeitung, als sie «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera im Jahre 2004 in den Kanon der 50 großen Romane des Zwanzigsten Jahrhunderts aufnahm? Dieser Roman des tschechischen Autors wurde zwanzig Jahre vorher im Exil in Paris veröffentlicht und gilt seither als sein erfolgreichstes Buch. Schon der Titel lässt ahnen, dass Philosophie einen breiten Raum einnimmt darin, und zur Gewissheit wird diese Vermutung, wenn man den ersten Satz gelesen hat: «Die ewige Wiederkehr ist ein geheimnisvoller Gedanke, und Nietzsche hat damit manchen Philosophen in Verlegenheit gebracht». Erst drei Seiten später erfolgt dann der Schwenk von der philosophischen Betrachtung hin zur Epik, zum «eigentlichen» Roman, den man als Liebesroman in einem schwierigen politischen Umfeld bezeichnen könnte, der Prager Frühling und seine brutale Niederwerfung bilden den zeitlichen Hintergrund. Die Gratwanderung des Autors zwischen mehr oder weniger tiefsinniger Philosophie und der zu erzählenden Geschichte ist gewagt. Sie ist auch nicht jedermanns Sache und polarisiert die Leserschaft selbst heute noch.

Zwei Paare bilden die Protagonisten einer Geschichte um Liebe, Ehe und Treue. Der notorisch polygame Arzt Tomas aus Prag lernt die schüchterne Kellnerin Teresa durch eine, wie es ihm vorkommt, seltsame Reihung von nicht weniger als sechs bemerkenswerten Zufällen kennen. Er heiratet sie kurz entschlossen, womit er sie in das seelische Chaos der Eifersucht stürzt. Franz, Universitätsdozent in Zürich, betrügt seine Frau mit der Künstlerin Sabina, einer ehemaligen Geliebten von Tomas, die ins Exil gegangen ist. Sie verlässt ihn ohne Abschied, weil Franz sich plötzlich von seiner Frau scheiden lassen will, was in Sabinas Augen ihrer Beziehung das erregend Verbotene, Versteckte nimmt und sie damit profan werden lässt. Kundera beleuchtet intensiv die psychischen Befindlichkeiten seiner Figuren, wobei der schnelle Sex und dessen strikte Trennung von der seelischen Liebe zu vorhersehbaren Verwicklungen führen.

Ein zweiter Themenschwerpunkt des Romans sind die Verhältnisse unter der kommunistischen Diktatur in der CSSR, die zu einer aberwitzigen Gemengelage aus Bespitzelungen, Verleumdungen und Verdächtigungen führen. Nach dem Sturz von Dubçek hatte sich ein verlogenes und heuchlerisches politisches System etabliert, in dem Tomas, einst Star-Chirurg in Prag, nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil zunächst Fensterputzer werden muss und schließlich als LKW-Fahrer endet. Der Autor deckt die subtilen Methoden der Staatsmacht auf, die im Kampf um den Machterhalt kein Mittel scheut, Kritiker des nicht nur wirtschaftlich maroden Systems einzuschüchtern und mundtot zu machen. Was bei Tomas allerdings nicht gelingt, er bleibt unbeugsam und nimmt die Konsequenzen auf sich.

Trotz diverser Reflexionen über seine Autorschaft kann Kundera letztendlich nicht verbergen, dass er den Roman ungeniert als Vehikel zur Verkündung eigener philosophischer Thesen benutzt. So zum Beispiel, wenn er Chirurgie als Sakrileg hinstellt, der Absicht Gottes widersprechend, oder wenn er der Frage der Defäkation nachgeht in Hinblick auf Gott, den man sich auf der Toilette schlichtweg nicht vorstellen könne, obwohl der Mensch doch nach seinem Ebenbilde geformt sei. Seine Stichwörter reichen vom Kitsch über Platons Symposion bis zum Prager Fenstersturz, von den Motiven des Machos auf der Frauenjagd bis zum Imperativ «Es muss sein» in Beethovens Streichquartett opus 135, der sogar in Notenschrift mit abgedruckt ist. In seiner thematischen Mixtur bleibt Kunderas Buch bis zum Schluss gleichermaßen unterhaltend wie bereichernd.