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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2014
Mein Herz so weiß
Marías, Javier

Mein Herz so weiß


sehr gut

Was nun?

Die Halbwertszeiten aktueller Romane sind oft nach Monaten gezählt, allenfalls ein Bruchteil davon interessiert nach Jahren noch die Leser, einer jahrzehntelangen Wertschätzung aber erfreuen sich nur ganz wenige. Zu diesen besonderen Romanen gehört zweifellos «Mein Herz so weiß» von Javier Marías, einst hoch gelobt vom Feuilleton und seiner damaligen Lichtgestalt Marcel Reich-Ranicki. «Hingehen, kaufen, lesen» hatte Andreas Isenschmid in der «Weltwoche» geschrieben. Auch ich war damals begeistert von diesem Buch, und ich bin es nach erneutem Lesen heute immer noch, soviel sei vorab schon mal gesagt. Lady Macbeth spricht die Worte aus, denen der Titel des Romans entlehnt ist, «I shame to wear a heart so white». Sie hat den Mord an Duncan nicht begangen, ihr Herz ist weiß, aber sie hatte dazu angestiftet, eine Schuld, die sie letztendlich in den Selbstmord treibt. Dies ist auch das Hauptmotiv des vorliegenden Romans, der wie mit einem Paukenschlag beginnt, dem Selbstmord einer jungen Frau unmittelbar nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise. Niemand wird das Buch aus der Hand legen, bevor er nicht erfahren hat, was die Ursache war für diese rätselhafte Verzweiflungstat, der Autor hat seine Leser also fest an der Angel, und das bis zum Schluss.

Es geht um die Macht der Worte in diesem Roman, um die Sprache als Werkzeug, um ihre Auswirkung auf das Geschehen. Ich-Erzähler Juan ist Dolmetscher von Beruf, Worte sind also sein Metier, von ihm überaus virtuos beherrscht. Er arbeitet für internationale Organisationen, ist dauernd unterwegs zwischen seiner Heimatstadt Madrid und New York, Genf, Brüssel. Bei einem seiner Aufträge lernt er Luisa kennen, die ihm als Ko-Dolmetscherin beigestellt ist, seine Übersetzung also überwachen muss. Amüsant zu lesen, wie der Small Talk zwischen zwei drögen Staatslenkern mangels Gesprächsstoff peinlich zu werden droht, wie Juan plötzlich, abweichend von den Politikerworten, eine ganz andere Frage stellt Luisa greift zum Glück nicht ein und damit erst wirklich ein sinnvolles Gespräch in Gang bringt. Als er später Luisa heiratet, nimmt ihn sein Vater bei der Hochzeitsfeier zur Seite und fragt lapidar: «Was nun»? Ehe und Liebe mit allen ihren Gefährdungen sind ein weiteres dominantes Thema dieses Romans, dargestellt an den deprimierenden, zum Scheitern verurteilten, letztendlich rein sexuellen Männerkontakten von Juans New Yorker Kollegin über die drei Ehen seines lebensgierigen Vaters Ranz bis hin zu seiner eigenen, jungen Ehe, die wenig emotional, eher cool dargestellt wird. Ranz ist im berühmten Prado-Museum angestellt, verfasst nebenbei private Gutachten über Gemälde und tätigt mancherlei dubiose, juristisch grenzwertige Geschäfte auf eigene Rechnung. Neben den Details aus der Dolmetscher-Szene erfährt der Leser also auch viel Interessantes aus der Welt der Malerei und der Museen, von Fälschern und von Kunst-Spekulanten.

Der raffiniert aufgebaute Plot ist in einer anspruchsvollen Sprache geschrieben, die mit langen Satzkaskaden und häufig zusätzlich (in Klammern) eingefügten Anmerkungen alles andere als leicht lesbar ist. Das Geschehen ergibt sich zum überwiegenden Teil direkt aus den Schilderungen des Ich-Erzählers, die Geschichte ist auffallend dialogarm aufgebaut. Weite Passagen des Romans werden in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, und oft handelt es sich dabei um ausgesprochen kontemplative Einschübe. Dezidiert leitmotivisch erscheinen mehrmals rätselhafte, nächtliche Beobachter auf der Straße, wartend zu einem Fenster hinaufschauend. Auch das Feuer wird als Leitmotiv verwendet, und das Macbeth-Motiv taucht ebenfalls ein zweites Mal auf, vorspielartig gleich zu Beginn.

«Ich wollte es nicht wissen» beginnt der erste Satz des Romans.Die Wahrheit enthüllt sich weitgehend zufällig durch Gespräche, die unversehens Licht in die düstere Vergangenheit bringen. Auch Juan fragt sich am Ende: «Was nun»? Der Wirkung all dessen kann sich der Leser nur schwer entziehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.10.2014
Stern der Ungeborenen
Werfel, Franz

Stern der Ungeborenen


gut

Auch ohne Graecum lesenswert

Bei seinem letzten, 1946 posthum veröffentlichten Roman «Stern der Ungeborenen» hat der in Prag geborene Schriftsteller Franz Werfel die «Göttliche Komödie» fest im Blick gehabt. «Für mich ist immer Dante das Vorbild» lautet sein Bekenntnis, und darin weist er denn auch einige Parallelen mit seinem Zeitgenossen Thomas Mann auf. Dessen «Doktor Faustus» ist ja ebenfalls von Dante inspiriert, und auch Goethe hat sich dort mehr als nur Anregungen für seinen «Faust II» geholt. Gegenüber den genannten Werken unterscheidet sich der vorliegende Roman vor allem durch eine rigoros futuristische Handlung, bescheidene hunderttausend Jahre nach der realen Lebenszeit des unter dem Kürzel F.W. als Ich-Erzähler fungierenden Autors. Verschmitzt nennt der sein Werk, ganz lapidar, einen Reiseroman. Er kommuniziert darin immer wieder auf amüsante Weise mit dem Leser, bei dem er sich häufig für sein Unvermögen entschuldigt, das phantastische Geschehen in eine aktuelle Sprache umzusetzen, die richtigen Worte für die geschauten Phänomene und die für Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts unfassbaren Geschehnisse zu finden.

Als Wunschgast aus der fernsten Vergangenheit wird F.W. auf Anraten seines wiedergeborenen besten Freundes zu einer Hochzeit geladen, hunderttausend Jahre nach seinem Tode. Mit wahrhaft überbordender Phantasie schildert der Autor eine utopisch ferne Welt, in der die Menschheit den Planeten Erde gründlich umgestaltet hat und nun ein geradezu ideal erscheinendes Leben führt. Man lebt nämlich voll versorgt ohne Arbeit, ohne Geld und Ökonomie, ohne jede Sprachbarriere, wird quasi ohne Krankheiten einige hundert Jahre alt und behält, das wird potentielle Leserinnen besonders begeistern, bis ins Greisenalter immer sein jugendfrisches Aussehen. F.W. wird als Ehrengast überall herumgeführt, spricht mit den bedeutendsten Personen und lernt so die «astromentalen» Errungenschaften der nun staatenlosen Weltbevölkerung kennen, - er unternimmt natürlich auch einen spontanen Spaziergang ins All.

Im ersten Teil dieses dickleibigen Romans steht die hoch entwickelte menschliche Gesellschaft in all ihren sozialen Verflechtungen im Mittelpunkt, im zweiten das futuristisch Technische dieser fernen Zukunft, im dritten und interessantesten aber geht es mit dem Ausflug in den «Wintergarten» ins tiefgründig Philosophische. Interessant ist, dass Werfel Katholizismus und Judentum als einzige Religionen ganz selbstverständlich auch nach hunderttausend Jahren fast unverändert existieren lässt in seinem Roman. Und auch der überwunden geglaubte Krieg bricht in voller Härte wieder los, ausgelöst durch einen an Sarajewo erinnernden Pistolenschuss eines närrischen Waffensammlers. Wenig Hoffnung also, dass die Menschheit läuterungsfähig ist, allem Fortschritt zum Trotz.

Dieser visionäre Plot, den komplett zu erzählen ich mir hier wohlweislich spare, ist trotz vieler Ereignisse und dramatischer Wendungen aber nicht das Wesentliche dieses Romans, sein utopische Handlung war für mich als erklärter Science-Fiction-Verächter sogar eher abschreckend. Was mich dann aber doch bei der Stange gehalten hat, trotz einiger Längen, waren neben dem Renommee des Autors die unzähligen philosophischen Gedanken und historischen Verweise. Das alles wird tiefsinnig präsentiert mit einer unglaublichen Flut an skurrilen Begriffen und Namen, aber auch an eigenwilligen Wortschöpfungen. Von denen viele aus dem Griechischen abgeleitet sind – wohl dem, der eine fundierte humanistische Bildung genossen hat und den Wortwitz auch versteht! Vor dieser kreativen Fülle hat letztendlich selbst der Verlag kapituliert und auf Anmerkungen verzichtet, wie im Nachwort erklärt wird. Man muss das übrigens auch nicht immer alles ernst nehmen, zum Lesespaß tragen die witzigen Wortbildungen allemal bei, auch ohne Graecum, wie ich als Betroffener vergnügt bestätigen kann.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.09.2014
Traumnovelle
Schnitzler, Arthur

Traumnovelle


gut

Verbalerotik

Die «Traumnovelle» gehört zum Spätwerk des österreichischen Schriftstellers Arthur Schnitzler, der mit seiner Dichtung die Öffentlichkeit des Fin de Siècle immer wieder in helle Aufregung versetzt hat. Als promovierter Arzt demaskierte er nämlich unbeirrt die verlogenen sexuellen Konventionen der damaligen Gesellschaft, die er einer ebenso hellsichtigen wie unerbittlichen psychischen Analyse unterzog, was ihn als literarischen Mitstreiter seines Landsmannes Sigmund Freud ausweist. Er nahm in gleicher Schärfe den absurden Ehrenkodex des Militärs ins Visier, aber auch die unverhohlen antisemitische Stimmung breiter Kreise der österreichischen Bevölkerung. Besonderen Anstoß jedoch erregte die Thematisierung von Sexualität in seinem dichterischen Werk, wobei die Szenenreihe «Reigen» von 1901 die wohl heftigsten Skandale heraufbeschwor, denen dann jahrzehntelange Aufführungsverbote folgten. Und auch die 1926 erschienene Traumnovelle mit ihrer den Zeitgenossen unanständig erscheinenden Handlung wurde damals angefeindet. Ist hier doch, seiner Vorliebe für psychische Themen folgend in einer zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierenden Geschichte, unterdrückte Sexualität am Beispiel eines typischen bürgerlichen Ehepaares jener Zeit dargestellt. Deren Triebleben bildet eine – noch Jahrzehnte später anzutreffende – Wirklichkeit ab, in der die Frau völlig naiv und unerfahren jungfräulich in die Ehe geht, der Mann hingegen sich sprichwörtlich «schon die Hörner abgelaufen hat».

Fridolin ist Arzt und treusorgender Ehemann, Albertine brave Ehefrau und Mutter eines kleinen Mädchens. Nach einem Maskenball, durch heftige Flirts in aufgeputschter Stimmung, erzählen sie sich von erotischen Erlebnissen während des Urlaubs in Dänemark. Sie hatte sich in einen markigen Dänen verguckt, er war am Strand einem blutjungen nackten Mädchen begegnet, keiner von ihnen aber war untreu geworden. Entsprechend aufgestachelt hat Fridolin nun am folgenden Tage einige Begegnungen mit willfährigen Frauen, erreicht nachts schließlich voller Neugier sogar unerlaubt Zutritt zu einer geheimnisvollen Orgie mit maskierten nackten Weibsleuten, er widersteht jedoch dem allen und bleibt treu.

Als er früh um Vier nach Hause kommt, wacht Albertine auf und erzählt ihm ihren Traum. Sie waren auf Hochzeitsreise, haben sich auf einer Wiese geliebt, beim Aufwachen seien alle ihre Kleider verschwunden gewesen. Er habe sich auf die Suche danach begeben, da sei der Däne erschienen und habe im Beisein vieler anderer nackter Paare mit ihr geschlafen. Fridolin aber sei verhaftet und nackt in Ketten gelegt worden, die Fürstin wollte ihn begnadigen, wenn er ihr Liebhaber würde, sie habe ausgesehen wie das junge Mädchen am Strand. Fridolin sei standhaft geblieben, wurde deshalb ans Kreuz geschlagen, sie aber, Albertine, habe ihn ausgelacht.

In seiner vor Metaphorik und Symbolik nur so strotzenden, rasant erzählten Geschichte dringt Schnitzler tief hinein in das Seelenleben seiner beiden Figuren, macht ihre einer verlogenen Moral wegen unterdrückte Sexualität sichtbar, deckt unterschwellig vorhandene Triebe auf. Bemerkenswert ist, dass Fridolin reale Erlebnisse hat, Albertine jedoch nur träumt, der Autor also – unbewusst? – damit spezifische Unterschiede der Geschlechter postuliert in seinem Plot. Sie ist auf seine vorehelichen Erfahrungen neidisch, missgönnt sie ihm sogar und kann sich nun, nachträglich nur und, will sie ihm treu bleiben, auch nur im Traume ihre geheimen sexuellen Wünsche erfüllen, ihr bleibt also nur das für sie erregende Gespräch mit ihrem Mann über ihre diesbezüglichen Phantasien. Verbalerotik mithin, Stanley Kubrick hat genau das in «Eyes Wide Shut» – prüde amerikanisch natürlich – filmisch umgesetzt. Schnitzlers Novelle zu lesen hingegen ist deutlich interessanter und regt weit mehr zum Interpretieren und Nachdenken an.

Bewertung vom 13.09.2014
Anna Karenina
Tolstoi, Leo N.

Anna Karenina


ausgezeichnet

Literarische Zauberei

Ohne Zweifel ist «Anna Karenina» von Leo Tolstoi auch ein Eheroman, oft verglichen mit Fontanes «Effi Briest» oder Flauberts «Madame Bovary», primär aber ist er, was man ziemlich unbesorgt den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nennen mag. Der 1878 erschienene, grandiose Roman bedeutet außerdem eine entscheidende Wegmarke hin zu dem radikalen Moralismus dieses russischen Schriftstellers, der sich dann bekanntlich, in seiner geradezu peinlichen Spätphase, ins völlig Absurde hineingesteigert hat. Hier aber, in diesem voluminösen Epos über die adelige russische Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts, fungiert noch eine Art Räsoneur als Statthalter des Autors, ein Sinnsucher und – wie man heute sagen würde – unermüdlicher Querdenker, das Alter Ego von Tolstoi also mit nahezu kongruenter biografischer Konstellation, nur das Künstlertum fehlt seinem Helden Lewin. Genau diese unvergleichliche Begabung aber hat der literarische Olympier zunehmend negiert, hat von «all dem künstlerischen Geschwätz» gesprochen, mit dem sein Werk gefüllt sei und dem dessen Leser «eine unverdiente Bedeutung beimäßen».

Anna also ist nicht die Hauptfigur des Romans, auch wenn sie titelgebend ist und ihr unübersehbar die ganze Sympathie des Autors gilt. «Alles ging drunter und drüber im Hause der Oblonskijs» heißt es im - ursprünglich - ersten Satz, Annas Eingreifen verhindert jedoch das Auseinanderbrechen der Ehe ihres untreuen Bruders und führt zu einem verlogenen Modus Vivendi mit seiner Frau. Deren Schwester gibt Lewin einen Korb, der von ihr als sicher angesehene Heiratsantrag des strahlenden Helden Wronskij aber bleibt aus. Er hat sich nämlich in die mit einem ungeliebten Mann verheiratete Anna Karenia verliebt, ihr leidenschaftliches Verhältnis endet jedoch tragisch. Lewin endlich bekommt beim zweiten Versuch keinen Korb mehr und findet zu seinem späten Eheglück. In mehreren parallelen Handlungssträngen des achtteiligen Romans präsentiert Tolstoi die gescheiterte Ehe- und Liebesgeschichte von Anna Karenina, das heuchlerische Ehe-Arrangement ihrer Schwägerin und die geradezu idealtypisch erscheinende, glückliche Ehe von Lewin.

All das ist eingebettet in ein großartiges Panorama der Adelsgesellschaft Russlands, die in allen ihren Facetten dargestellt ist, mit unzähligen, wunderbar stimmig beschriebenen Figuren, deren mitreißende Dialoge uns Einblick in ihr innerstes Wesen geben. In diesem üppigen personalen Ensemble findet man sich als Leser aber jederzeit zurecht, so markant sind Tolstois literarische Geschöpfe skizziert. Von denen nun der Gutsbesitzer Lewin mir regelrecht ans Herz gewachsen ist, verkörpert er doch, obwohl selbst adelig, den ländlichen Gegenpol zum Luxusleben des Champagner trinkenden städtischen Adels. Sein Wissensdrang, seine Gedankenwelt, seine zahlreichen Dispute, seine Geradlinigkeit und gutmütige Offenheit sind geradezu herzerfrischend, die vielen ihm gewidmeten Kapitel sind außerdem sehr amüsant zu lesen. Man lernt ihn letztendlich so gut kennen, dass man seine Reaktionen, seine Gedanken nicht nur nachvollziehen, sondern oft auch voraussehen kann. Und so findet er als Sinnsucher schließlich durch die Worte eines einfachen Bauern zu der Erkenntnis, dass wir nicht leben, «um unseren Wanst zu füllen», sondern dass man «für das Gute» lebt, ein außerhalb der Vernunft liegender Gedanke, für den der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht gilt. Ein Wunder also, das sich dem Verstande schlichtweg entzieht und doch von jedem begriffen wird.

Dieser Roman selbst aber ist auch ein Wunder, er ist literarische Zauberei, die alle Maßstäbe der Bewertung sprengt. Ich habe noch nie etwas Besseres gelesen!

Bewertung vom 29.08.2014
Fiesta
Hemingway, Ernest

Fiesta


weniger gut

Wär schön gewesen

Um «Fiesta» von Ernest Hemingway habe ich jahrzehntelang einen großen Bogen gemacht, denn untrennbar mit diesem ersten, größeren Roman des späteren Nobelpreisträgers verband sich für mich Pamplona und der Stierkampf. Auf einer Andalusien-Reise vor zwei Jahren erzählte uns ein Reiseleiter während der Busfahrt gedankenverloren so detailliert von der Corrida de Toros, dass ein offensichtlich zartbesaiteter Mitreisender erregt eingeschritten ist und ihn ultimativ aufforderte, sofort diese blutrünstige Schilderung abzubrechen, - das war damals durchaus auch in meinem Sinne. Nach der Lektüre dieses Romans nun muss ich mein diesbezügliches Vorurteil revidieren, Hemingways Schilderung der Fiesta de San Fermin mit den dazugehörigen Stierkämpfen ist überhaupt nicht abstoßend, ja sie hat bei mir sogar ein gewisses Verständnis für die Euphorie der Spanier erzeugt. Insoweit gibt es also wirklich keinen Grund, dieses Buch nicht zu lesen, das vorab!

Hemingway ist ja ein typischer Vertreter der «Lostgeneration», jener durch den Ersten Weltkrieg desillusionierte Gruppe junger Menschen, die in diesem Roman die Protagonisten stellen und deren Ziellosigkeit die eigentliche Thematik der Geschichte bildet. Ich-Erzähler Jake, ein amerikanischer Journalist in Paris, stellt uns zu Beginn Robert vor, ein ehemaliger Box-Champion in Princeton. «Glauben Sie nicht etwa, dass mir so ein Boxtitel imponiert» heißt es dann schon im zweiten Satz, der Autor spricht seinen Leser also direkt an, stellt mit ihm sofort eine gewisse Intimität her. Robert wurde Schriftsteller, und mit Bill gehört noch ein weiterer Schriftsteller zu dem Kreis um Jake. Sie beschließen, zur Fiesta nach Pamplona zu fahren und vorher noch eine Woche lang in den Pyrenäen Forellen zu angeln. Die 34jährige Lady Ashley, ehemalige Krankenschwester, von den Freunden Brett genannt, und Mike, den sie zu heiraten gedenkt, ein Bankrotteur, wie sich später herausstellt, wollen auch nach Pamplona kommen. Brett liebt zwar Jake, sie hatten sich einst im Lazarett kennengelernt, er aber ist durch seine Kriegsverletzung impotent geworden. Darin nun liegt die Tragik dieser lebensgierigen Frau, um die sich im Grunde alles dreht in diesem Roman, sie schätzt nun mal eine robuste Virilität bei ihren Männern.

Der überwiegende Teil des kurzen Romans ist in Dialogform geschrieben, in der für Hemingway typischen, spartanisch knappen Sprache. «In diesem Buch wird viel getrunken. Erst in Paris: Absinth, Champagner, dann in Spanien der funkelnde Fundador. Und es wird auch viel geraucht ... ». Dieses Zitat stammt zwar aus dem Buch, ist aber nicht vom Autor, es ist eine durchaus stimmige, listig in mein historisches Buchexemplar von 1952 eingefügte Zigaretten-Werbung. Und in der Tat, gefühlt ein Drittel des Textes handelt vom Essen, Trinken - oft eher Saufen - und vom Rauchen, was neben Jagen, Fischen, dem Stierkampf und Frauen natürlich die Passionen Hemingways sind. Dass er seinen ihm, dem ausgewiesenen Macho, so ähnlichen Helden nun ausgerechnet impotent sein lässt, verleiht seiner Geschichte eine urkomische Tragik. Und so heißt es denn auch im Schlusssatz melancholisch: «Ach, Jake … wir hätten so glücklich sein können». Der erwidert: «Ja, … wär schön gewesen».

Die Gespräche der Protagonisten sind fast durchweg Geschwafel ohne tieferen Sinn, lebensnah eben in ihrer Banalität. Literarisch erfreulicher fand ich den Ausflug zum Forellenangeln und die wirklich gelungene Beschreibung der Corrida. Die Personen aber bleiben allesamt blass und unkonturiert, ihre Beziehungen zueinander sind oberflächlich, selbst die des Liebespaares. Begeistern konnte mich das alles nicht!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.08.2014
Stiller
Frisch, Max

Stiller


sehr gut

Tonnerwetter

Mit dem Roman «Stiller» gelang dem Schriftsteller Max Frisch 1954 der literarische Durchbruch. Im Prosawerk des Schweizer Autors ist die Identitätssuche des selbstentfremdeten modernen Menschen das zentrale Thema, es findet sich auch in den späteren Romanen «Homo faber» und «Mein Name sei Gantenbein» wieder, die ebenfalls seinem epischen Hauptwerk zuzuordnen sind. Und so wird denn der vorliegende Roman von dem Versuch seines Protagonisten Stiller beherrscht, der Determiniertheit seiner Handlungsweise zu entkommen, die Triebkräfte seines Inneren zu verstehen. Schon Georg Büchner hat in «Dantons Tod» seinem Helden ja die Frage in den Mund gelegt: »Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet»? Hier nun geht der Held den Weg der Selbstverleugnung, indem er einfach seine Identität wechselt, aus dem Schweizer Anatol Ludwig Stiller wird James Larkin White, ein US-Amerikaner.

«Ich bin nicht Stiller!» lautet denn auch der erste Satz, der laut Edgar Allen Poe ja oft schon die ganze Geschichte enthalte. Der bei seiner Einreise Festgenommne leugnet beharrlich, der jahrelang spurlos verschwundene Bildhauer Stiller zu sein, und er setzt auch alles daran, diese Identität nicht annehmen zu müssen, allen Fakten zum Trotz. Seine zunächst ziemlich kafkaesk anmutende Untersuchungshaft bildet den Hauptteil des Romans, in sieben Heften unter dem Titel «Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis» protokolliert er, auf Wunsch seines Verteidigers, das Geschehen aus persönlicher Sicht und kommentiert es. «Die Beziehung zwischen der schönen Julika und dem verschollenen Stiller begann mit der Nussknacker-Suite von Tschaikowsky» schreibt er, eine Musik, die Stiller verächtlich als «virtuose Impotenz» bezeichnete. Er heiratete die grazile Balletteuse ein Jahr später, ihre Ehe aber machte Beide nicht glücklich, ihre Probleme miteinander sind ein zweites Hauptthema des Romans. Und so kommt es zu einer Affäre mit Sibylle, einer verheirateten Frau, die ihren Mann Rolf sehr selbstbewusst darüber informiert. Stiller flieht aus dieser Beziehung und lässt auch seine kranke Frau im Stich, er fährt auf einem Frachter als blinder Passagier in die USA. Der Staatsanwalt, der sich mehr als sechs Jahre später mit seinem Fall zu beschäftigen hat, ist jener Rolf, der nun wieder mit seiner Sibylle zusammenlebt. Er ist es auch, der nach Stillers Verurteilung sein Freund wurde und ein «Nachwort des Staatsanwaltes» schreibt zu den sieben Heften, die er von ihm erhalten hat, wodurch wir Leser den Helden nun noch eine Weile lang begleiten in seiner wahren Identität.

Es ist eine äußerst komplexe Geschichte, in der Max Frisch seine philosophische Thematik, das zu hinterfragende «Ich» also, aufarbeitet. Mit dem Kunstgriff des fingierten «Ichs» in Person von White, aus dessen Perspektive über den Versager Stiller distanziert berichtet werden kann, obwohl die Beiden ja identisch sind, gelingt es ihm, aus einer singulärer Identität auszubrechen und ein zweites, verdecktes «Ich» zu etablieren. Der Ich-Erzähler White berichtet also in der Er-Form über Stiller, aus dieser Position nachdrücklich eine Einheit Stiller/White ausschließend, was dem Text einen gewissen Verfremdungseffekt verleiht und darüber hinaus auch seine Glaubwürdigkeit in Frage stellt. Trotz dieser komplizierten Erzählsituation ist die Geschichte flüssig zu lesen, häufig sogar wird es auch amüsant, so zum Beispiel in den drei gleichnishaften Geschichten, die der Inhaftierte seinem naiven Wärter erzählt, von diesem immer wieder mit einem erstaunten «Tonnerwetter» begleitet. Zum Schmunzeln fand ich ferner die Beschreibungen des Volkscharakters seiner Schweizer Landsleute wie auch der Amerikaner, ebenso köstlich sind die bissigen Anmerkungen zur Architektur in seiner Heimat. Max Frisch erweist sich als ein großartiger, detailversessener Beobachter, seine sprachliche Könnerschaft liegt in der absoluten Treffsicherheit bei der Wortwahl.

Ein anspruchsvoller, aber absolut lesenswerter Roman!

Bewertung vom 22.08.2014
Die Erfindung des Lebens
Ortheil, Hanns-Josef

Die Erfindung des Lebens


gut

Schaut her, ich bin’s

Nicht erfunden, hineingefunden hat sich Johannes, Held des Romans «Die Erfindung des Lebens» von Hanns-Josef Ortheil, in das Leben, nach erheblichen Startschwierigkeiten allerdings, von denen dieser dickleibige Roman im Wesentlichen berichtet. Genau das Gegenteil passiert dem Leser, er wird von der ersten Seite an emotional mitgerissen, hat keinerlei Startprobleme, ist zunehmend fasziniert und taucht gerne immer tiefer in die Geschichte hinein, bei mir war es jedenfalls so. Der Protagonist darf als Alter Ego des Autors angesehen werden, allzu deutlich sind die Parallelen beider Viten. Ein mitreißender Entwicklungsroman also, dessen Stationen ebenso einfühlsam wie detailliert geschildert werden, dabei die Psyche der durchweg sympathischen Figuren auslotend bis in die letzten seelischen Tiefen.

Johannes ist ein kleiner Junge im Vorschulalter, der stumm ist wie seine Mutter. Die hat den Tod von vier Söhnen im Krieg und in der frühen Nachkriegszeit psychisch nicht verarbeiten können und ist in die Sprachlosigkeit geflüchtet, hat sich völlig abgekapselt von der Welt. Zum fünften und letzten Sohn aber ist von Anfang an eine so abnorm innige, regelrecht symbiotische Beziehung entstanden, dass er nicht sprechen lernt und ebenfalls stumm ist. Die Überwindung dieser Sprechblockade, der mühsame Weg von Johannes durch die Schule bis zum Abitur, das anschließende Musikstudium in Rom und dessen jäher Abbruch sowie sein zaghafter Neubeginn als Schriftsteller sind Inhalt des Plots. Ortheil beschreibt all diese Stationen in einer sprachlichen Präzision, die ihrerseits allein schon faszinierend ist. Er schildert minutiös die subtilen Beziehungen der kleinen Familie, die rührenden und letztendlich auch erfolgreichen Bemühungen des Vaters bei der Überwindung der Stummheit von Johannes. Wobei die Musik eine entscheidende Rolle spielt, denn mit dem Klavier vom Onkel wird für ihn ein Tor geöffnet, durch das er allmählich Anschluss an die Außenwelt findet, den mit der Mutter gebildeten Kokon der Sprachlosigkeit verlässt.

Der Autor nimmt sich viel Zeit, seine elegische Geschichte zu entwickeln, er erzählt sie aber so mitreißend, dass beim Leser niemals Ungeduld aufkommt. Im Hintergrund sind dabei stets die psychischen Hemmnisse und sozialen Defizite erkennbar, die das Leben des Protagonisten beeinträchtigen. All das wird in einer äußerst kunstvoll verschachtelten, zweisträngig aufgebauten Geschichte beschrieben, in der die Zeiten, Erzählebenen und Perspektiven häufig und wahrhaft virtuos wechseln. Johannes, der Autor also, ist nämlich mehr als dreißig Jahre später nach Rom zurückgekehrt und schreibt nun in dieser ihm vertrauten Umgebung den Roman über seine Jugendzeit. Aber auch nach so großem zeitlichem Abstand hat er immer noch Probleme mit menschlichen Kontakten, ist einfach für manches nicht ansprechbar, die schwierige Jugend wirkt immer noch nach.

Bei aller Freude über die emphatische und erzählerisch hinreißende Geschichte kommt gegen Ende des Romans Missbehagen auf, denn der Held wird zunehmend idealisiert, erlebt glücklichste Fügungen, alles gelingt ihm und alle Welt schaut bewundernd zu ihm auf. Peinlichste Szene ist das einstündige Debütkonzert seiner Klavierschülerin unter freiem Himmel auf einem Platz im Rom, nach dem er anschließend, ungeplant und widerstrebend zunächst, als Lehrer selbst auf die Bühne geholt wird, um dann das Publikum mit Zugaben zu begeistern, geschlagene zwei Stunden lang! Der Herausgeber des renommiertesten deutschen Verlages reißt ihm das unfertige Manuskript seines ersten Buches geradezu aus der Hand. Es gibt Eitles mehr in dieser zwischen Biografie und Fiktion oszillierenden Geschichte, was die Freude an der Lektüre dann doch einigermaßen trübt, weil sie ins Kitschige abgleitet. Das wäre nicht nötig gewesen!

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2014
Betrug
Karasek, Hellmuth

Betrug


schlecht

Così fan tutte

Was sich hinter dem Buchtitel «Betrug» verbirgt ist ein uraltes Menschheitsthema, nichts Kriminelles, dem sich Autor Hellmuth Karasek da mutig stellt, wohl weil er als Literaturkenner über die Probleme zwischen Mann und Frau bestens Bescheid zu wissen glaubt. Liebe sei, erfährt man in seinem Roman, schließlich das Thema Nummer eins in der Literatur. Hier nun steht das gestörte Liebesverhältnis im Mittelpunkt, es ist der Betrug des Partners und seine Folgen, denen er sich widmet. Der Autor wendet sich dabei auch den wirtschaftlichen Folgen des Betrugs zu, bezieht den finanziellen Niedergang seines Protagonisten und die letztendlich materiellen Motive seiner Geliebten mit in seine Handlung ein.

Robert, der Held der Geschichte, Prototyp des Schürzenjägers, freischaffender Drehbuchautor, Essayist und gelegentlicher Rezensent in Hamburg, ist beruflich wenig erfolgreich, seinen gleichwohl hohen Lebensstandard verdankt er seiner wohlhabenden Ehefrau. Katta, zweite Frau des früh verwitweten Bankers Harald, mit dem Robert befreundet ist, macht ihm plötzlich Avancen, die Beiden beginnen ohne Zögern eine heiße Affäre. «Robert liebte seine Frau, und sie liebte ihn – bestimmt. Er hatte wahrlich keinen Grund, sie zu betrügen, aber er betrog sie bei jeder Gelegenheit. Danach peinigten ihn jedes Mal unbequeme Schuldgefühle». Ein guter Freund hatte ihm vor Jahren «kategorisch erklärt, so als handele es sich um ein naturwissenschaftliches Gesetz, dass man eine Frau maximal sieben Jahre sexuell begehren könne», Seitensprünge also etwas ganz Normales seien. Die nun folgenden heimlicher Treffen der beiden Untreuen sind von der ständigen Gefahr der Entdeckung bestimmt, wobei Robert eine panische Angst davor hat, die Katta geradezu lächerlich findet. Man streitet sich deswegen, trennt sich sogar, findet aber immer wieder zueinander, der tolle Sex zwischen ihnen ist gar zu verlockend. Bald aber stellt der gehörnte Freund ihn doch zur Rede, wenig später zieht Harald mit seiner Frau Katta nach München, die ehebrecherische Beziehung ist damit beendet.

Aber Robert kommt nicht von Katta nicht los, kann nicht verwinden, dass ihm seine Beute abhanden gekommen ist. In seiner Frau sieht er nur noch den Hemmschuh für sein Glück, sie ist es, die alles kompliziert gemacht hat für ihn, die wie ein Racheengel allem im Wege stand. Er verlässt sie ohne Abschied und geht auch nach München, sucht Katta und stellt fest, dass die inzwischen einen anderen Geliebten hat. Schließlich finden die Beiden aber doch wieder zusammen, wobei Robert sie über seine prekäre finanzielle Lage im Unklaren lässt, er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lebt in ärmlichsten Verhältnissen, deren er sich schämt. Katta trennt sich von ihrem Mann, der neue Geliebte aber denkt nicht daran, Frau und Kind zu verlassen und mit ihr zusammen zu ziehen. «Komm, lass uns fort, nur für ein paar Tage», überredet sie Robert und fährt mit ihm in ein sündhaft teures Hotel am Starnberger See, nichtsahnend, dass er sich das eigentlich gar nicht leisten kann. «Jetzt haben wir es endlich geschafft» sagt sie am Morgen, aber Robert ist alles andere als glücklich. Er würde am liebsten alles ungeschehen machen und in den Schoß der Familie zurückkehren - und damit zu den finanziellen Quellen für sein sorgloses Leben. Und auf Katta wartet ein böses Erwachen.

Von Thornton Wilder stammt die Erkenntnis, im Leben der allermeisten Menschen gäbe es nichts anderes als «Geldverdienen, Genüsse und Gequatsche». Und genau dem entspricht auch dieser Roman, er ist nämlich Trivialliteratur durch und durch. Literarische Qualitäten sind keine auszumachen in dieser banalen Erzählung, weder die Thematik ist originell noch der Plot, und sprachlich hat der Autor einfach dem oben erwähnten Volk aufs Maul geschaut und darauf geachtet, es intellektuell nicht zu überfordern, gedankliche Tiefe findet sich nirgends im Roman, - der Auflage wegen, vermute ich mal.

0 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.08.2014
Schweigend steht der Wald
Fleischhauer, Wolfram

Schweigend steht der Wald


weniger gut

… und schüttelt den Kopf

Schon der an das berühmte Gedicht von Mathias Claudius erinnernde Titel «Schweigend steht der Wald» wirkt unheimlich und düster, Autor Wolfram Fleischhauer nutzt geschickt den darin enthaltenen Mythos für seinen Roman. Der Deutsche und sein Wald, eine literarisch immer wieder anzutreffende, ganz spezielle Beziehung, deren Ursprünge in den uralten Märchen und Sagen zu finden sind. Hier nun dient der deutsche Wald sowohl als Bühne wie auch als Hintergrund einer Geschichte, deren Verlauf an einen richtigen Krimi erinnert, obwohl Autor und Verlag es vermutlich ganz bewusst unterlassen haben, den Roman als solchen zu deklarieren.

Und so birgt die Parzelle im Privatwald, in der die 28jährige Studentin der Forstwirtschaft im Rahmen eines Praktikums Bodenproben entnimmt, denn auch prompt ein düsteres Geheimnis. Ihr Vater ist in just diesem Waldstück vor zwanzig Jahren spurlos verschwunden, ein Trauma, welches sowohl Anja als auch ihre Mutter nicht haben überwinden können. Beide leiden an den Folgen, die Mutter hat einen Selbstmordversuch unternommen, die Tochter wird psychologisch betreut, ihr gelegentlich auftretendes Asthma ist psychosomatisch. Anja findet eine von der Umgebung abweichende Bodenprobe, und in den hinterlassenen Unterlagen ihres Vaters entdeckt sie, dass auch er kurz vor seinem Verschwinden genau an dieser Stelle ein ihm unerklärliches, völlig untypisches Brennnesselfeld gefunden hatte, ein Anzeiger für hohen Stickstoffgehalt im Boden, wie er zum Beispiel bei Verwesung auftritt. Der Leser glaubt nun an diesem frühen Punkt natürlich, die weiteren Entdeckungen schon zu kennen, die Anja bei ihren rastlosen Nachforschungen noch machen wird. Aber was sich da wirklich abgespielt hat an jener mysteriösen Stelle im Wald, das erfährt man tatsächlich erst sehr viel später, ganz am Ende des Romans.

In mehreren Handlungssträngen erzählt Fleischhauer eine aufregende Geschichte, die sich, von Rückblenden abgesehen, innerhalb weniger Wochen im Jahre 1999 ereignet. Er tut dies in angenehm klarer, nüchterner Sprache, seine Dialoge sind recht realitätsnah und somit glaubwürdig. Die gleich zu Beginn des Romans geschilderten Details von Anjas Arbeit im Oberpfälzer Wald dürften viele Leser irritieren, gerade darin aber sehe ich eine Stärke dieses Buches. Denn neben dem zweifellos für viele Leser attraktiven, weil ereignisreichen Plot wird hier nämlich auch mal eine andere Sicht auf den Wald geboten, auf die Belange der Forstwirtschaft und auf die Intentionen der Naturschützer, auf seine ökonomischen und ökologischen Funktionen also. Und auch der detailliert geschilderte Abschuss einer Wildsau weitet den Horizont des Normallesers sicherlich ungemein, alles Fachliche ist jedenfalls sorgfältig recherchiert. Also kein reiner Krimi, man könnte das alles sehr wohl auch als historischen Roman oder als Gesellschaftsroman ansehen.

So durchdacht und voller Überraschungen der Plot auch ist, ich empfand ihn letztendlich arg konstruiert, seine Figuren klischeehaft, seine Thematik wird dem realen, grauenhaften Geschehen nicht wirklich gerecht. Und der turbulente Showdown à la Hollywood ist leider derart aufgemotzt und unrealistisch, dass er damit die gesamte Geschichte nachträglich in Misskredit bringt. Besonders ärgerlich auch eine Stelle, wo die ansonsten so clevere Heldin über den Tod ihres Vaters sinniert: »Bären und Wölfe waren zwar selten, aber man musste stets mit ihrem Auftauchen rechnen». Ist es eigentlich Zufall, dass Anja mit Nachnamen Grimm heißt? War nicht auch Rotkäppchen dem Wolf zum Opfer gefallen? Schweigend steht der Wald – und schüttelt den Kopf!

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Bewertung vom 18.08.2014
Deutschstunde
Lenz, Siegfried

Deutschstunde


ausgezeichnet

Als ob man selbst dabei war

Ist es Zufall, dass der Höhepunkt der antiautoritären Bewegung in Deutschland im Jahre 1968, in Zeiten einer quasi oppositionslosen großen Koalition also, gleichzeitig das Erscheinungsjahr des wichtigsten und erfolgreichsten Romans von Siegfried Lenz war, der «Deutschstunde»? Das Buch passte jedenfalls genau in diese Zeit, war eine feinsinnige Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit gerade auch in Hinblick auf die Frage nach der Anpassung des Individuums an die jeweilige gesellschaftliche Situation. Was die Achtundsechziger damals bekämpften war ja nichts anderes als das Wiedererstarken einer kritiklosen, obrigkeitsgläubigen deutschen Bevölkerung, die beflissentlich das tut, was man ihr sagt, ohne weiter darüber nachzudenken.

«Die Freuden der Pflicht» heißt denn auch treffend der Deutschaufsatz, den Siggi, der in einer Hamburger Besserungsanstalt einsitzende Ich-Erzähler, schreiben muss. Die Entstehung dieses Aufsatzes, zu dem er fast unbegrenzt viel Zeit hat, bildet den äußeren Rahmen der Handlung. Im Aufsatz des geradezu schreibwütigen Siggi, der inneren Geschichte, lesen wir von seiner Jugend am Deich, von seinem Elternhaus und den Nachbarn in schleswig-holsteinischen Rugbühl, wo sein Vater als Dorfpolizist den «nördlichsten Polizeiposten Deutschlands» innehat. Die unbeirrbare, sture, geradezu unmenschliche Auffassung des Vaters von Pflicht gipfelt in der Auseinandersetzung mit seinem Nachbarn und Freund Max, einem an Emil Nolde erinnernden, expressionistischen Maler, dem er 1943 das Malverbot aus Berlin überbringt, dessen Einhaltung er persönlich zu überwachen habe. Obwohl Max ihn als Jugendlicher vor dem Ertrinken gerettet hat, ist der Polizist geradezu zwanghaft bemüht, diesen Auftrag akribisch zu erfüllen, menschliche Regungen sind ihm völlig fremd in seiner unreflektierten Pflichterfüllung. Die übrigens noch lange über das Kriegsende hinaus fortdauert, nur weil man ihm nicht gesagt hat, dass damit auch sein Auftrag endet.

Lenz hat autobiografisch inspiriert in seiner schlichten, aber wirkmächtigen Sprache ein großartiges literarisches Portrait der Küstenlandschaft und ihrer Bewohner geschaffen, einer rauen Welt, die immer wieder äußerst detailreich und so liebevoll geschildert wird, dass sie selbst einem ortsfernen, süddeutschen Leser wie mir unwillkürlich ans Herz wächst. Der Plot ist raffiniert in Kapitel gegliedert, die das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und mit Zeitsprüngen voranbringen. So wird zum Beispiel mehrfach das Manuskript eines jungen Psychologen mit einbezogen, in dessen Diplomarbeit das Seelenleben des arretierten Helden wird. Sehr amüsant sind die Einschübe, in denen Siggi als Autor über den Fortgang seiner Geschichte sinniert und damit den Leser an seinen Überlegungen beim Schreiben teilnehmen lässt. Überhaupt ist in diesen Roman voller Trauer und Bitternis häufig ein trockener Humor eingewoben, der die Lektüre angenehm locker werden lässt, ein markantes Merkmal der großartigen und anrührenden Erzählkunst von Siegfried Lenz. Wie er zum Beispiel einen Geburtstagstisch schildert oder minutiös über ungewöhnliche Riten und seltsame Angewohnheiten seiner wahrlich illustren Figuren berichtet, das zeugt von großer Scharfsicht und Lebensklugheit.

Der ruhige und genüssliche, weit ausholende Erzählstil des Autors hat mich tief in eine ereignisreiche «Deutschstunde» hineingezogen, in der die Spannung bis zum Ende anhält. Man mag manche Naturschilderungen als zu langatmig empfinden, die gleiche Detailtreue aber ist bei den vielen Figuren höchst erwünscht, lässt die fast durchweg sympathischen Protagonisten geradezu lebendig werden, man fühlt sich, als ob man selbst dabei war. Mehr kann man von einem Roman nun wirklich nicht erwarten.

8 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.