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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 753 Bewertungen
Bewertung vom 06.06.2016
Dummheit
Pöppel, Ernst;Wagner, Beatrice

Dummheit


gut

Ich weiß, dass ich nicht(s) weiß

Ernst Pöppel und Beatrice Wagner liefern auf 245 Seiten, verteilt auf 8 wohl strukturierte Kapitel, Beispiele für die Dummheit der Menschen, um dann auf 70 Seiten (1 Kapitel) die Hintergründe aus Sicht der Hirnforschung zu beleuchten. Es wäre im Interesse der Leser gewesen, dieses Verhältnis umzukehren. Oder wollen die Autoren, im Interesse ihrer eigenen Hypothesen, die Leser schützen? Denn auch die Wissenschaft ist, wie die Autoren ab Seite 202 thematisieren, „kein Hort der Weisen“. Dummheit lässt sich, manchmal in Form von Borniertheit, auch in der Wissenschaft nachweisen.

Die Autoren schlachten eine Vielzahl aktueller Themen aus und haben damit die Nase im Wind. Hierzu zählen PISA, Medien, Börsenhandel, Politik, Großprojekte, Smartphone und Facebook, um nur Beispiele zu benennen. Die Präsentation erfolgt in mundgerechten, manchmal Gegensätze betonenden Happen („Schnelligkeit macht dumm“, „Die Ware Freundschaft – oder wahre Freundschaft?“). Damit liefern sie (nebenbei) Stoff, den Comedians und Kabarettisten zu nutzen wissen. Müssen die Thesen der Autoren ernst genommen werden? Ist Dummheit nicht zu vermeiden?

Dummheit gehört zu unserem biologischem Erbe, so die Autoren. Der Mensch sei, so die provokante These, eine peinliche Fehlkonstruktion. Jedenfalls liefern Religion und Philosophie keine zufriedenstellenden Antworten, wie die Autoren an ausgewählten religiösen und philosophischen Textstellen pointiert untermauern. Aber Fehlkonstruktion impliziert einen Konstrukteur, dem Angesichts der beschriebenen Mängel wohl Versagen vorzuwerfen wäre. Wie stellt sich das Thema aus dem Blickwinkel der Evolution dar?

Hinsichtlich der Thematisierung von Dummheit liegt ein Fehlschluss der Autoren vor. Es geht in der Natur nicht um Dummheit bzw. Intelligenz, sondern um Überlebensfähigkeit. In diesem Sinne ist die „dumme“ Ameise viel erfolgreicher als manch hoch entwickelte Art. Jedoch gilt, und das können wir nicht bewusst steuern, wenn wir nicht genau so wären, wie wir heute sind, hätten wir nicht überlebt. Ich gebe den Autoren aber recht, dass die gleichen Eigenschaften bzw. Anpassungsleistungen, die zum heutigen Erfolg geführt haben, auch den Untergang einläuten können. Und das wird die dumme Ameise nicht stören.

Das Buch liefert einige Weisheiten über den Menschen, ohne den Anspruch zu erheben, diesen erklären zu können. Die Autoren suchen Zuflucht in der Literatur, die wesentliche Fragen auch nicht erklären, aber zumindest die Unwissenheit durch Weisheit ersetzen kann. „Dummheit“ ist ein Buch für Leser, die nicht wirklich tief in die Zusammenhänge einsteigen, sondern sich humorvoll unterhalten lassen wollen. Zur Vertiefung gibt es zahlreiche Werke. So ist z.B. auch heute noch „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ von Hoimar von Ditfurth sehr zu empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.06.2016
Perfektionismus
Bonelli, Raphael M.

Perfektionismus


sehr gut

Facetten eines verbreiteten Phänomens moderner Gesellschaften

Viele psychische Krankheiten stehen in Zusammenhang mit dem Hang zum Perfekten. „Das Bessere ist der Feind des Guten“, sagt der Volksmund, dennoch besteht keine Einigkeit darüber, was genau Perfektionismus bedeutet. Der Perfektionist ist ein Kind der Leistungsgesellschaft und ein Merkmal des Perfektionismus ist ein krankhaft überzogenes Leistungsdenken.

Raphael M. Bonelli macht deutlich, dass Perfektionismus mit Angst verknüpft ist, und zwar mit der Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit bzw. Unzulänglichkeit. Der Perfektionist erträgt es nicht, seine Ziele (das SOLL) nicht zu erreichen. Psychisch gesunde Menschen sind bereits zufrieden, wenn sie sich in Richtung SOLL bewegen. Den Perfektionisten zerreißt die SOLL-IST-Spannung.

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil beschreibt Bonelli das „Uhrwerk“ des Perfektionisten. Perfektionismus ist „die Pervertierung der Gewissenhaftigkeit“. (67) Bonelli erläutert die psychischen Zusammenhänge anhand eines einfachen Modells von "Kopf, Bauch und Herz". Dabei steht der Kopf für Vernunft, ist aber nicht die oberste Entscheidungsinstanz.

Bis heute gibt es keine einheitliche wissenschaftliche Definition für Perfektionismus, sondern stattdessen nur Konzepte, die Facetten des Phänomens herausstellen, die sogar scheinbar widersprüchlich sein können. (135) Auffallend ist ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken. In diesem Sinne führt ein kleiner Fehler zum totalen Versagen.

Im zweiten Teil zeigt Bonelli auf, wie sich der Hang zum Perfektionismus im modernen Umfeld auswirkt. Als Beispiele dienen Erwerbstätigkeit, Schlankheits-, Gesundheits- und Schönheitswahn, sowie Erziehung und Partnerschaft. Durch diese Bandbreite wird deutlich, dass Perfektionismus ein Massenphänomen ist und als Erklärungsmodell für viele Fehlentwicklungen herhalten kann.

Bonelli erläutert im dritten Teil die Rahmenbedingungen der Therapeuten und die Möglichkeiten Veränderungen herbeizuführen. „Die Angst muss in der Perfektionismus-Therapie erfassbar werden, … , intellektuell bearbeitbar sein.“ (281) „Der Patient muss lernen, die eigene Unvollkommenheit auszuhalten.“ (299) Imperfektionstoleranz nennt sich das therapeutische Prinzip.

Das Buch enthält zahlreiche Fallbeispiele aus beruflichem und privatem Umfeld, die den Lesern veranschaulichen, worum es geht. Das Phänomen Perfektionismus ist weit verbreitet. In manchen Fällen hätte mich interessiert, welche alternativen Erklärungen existieren. Das Buch ist verständlich, angenehm zu lesen und zu empfehlen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.06.2016
Der Doppelgänger
Dostojewskij, Fjodor M.

Der Doppelgänger


gut

Zwischen Realität und Wahn

Die Novelle erschien erstmals 1846 und gehört zu den Frühwerken von Fjodor Dostojewski. Seine Vorliebe für menschliche Abgründe, wie er sie in „Schuld und Sühne“ perfektioniert hat, zeichnet sich in diesem Werk bereits ab. Dennoch ist „Der Doppelgänger“ weit entfernt von seinen genialen Hauptwerken.

Das Buch handelt von Jakow Petrowitsch Goljadkin, einem Titularrat an einer Petersburger Behörde und seiner psychischen Erkrankung. Bereits zu Beginn des ersten Kapitels deutet sich sein Realitätsverlust an, der sich durch das gesamte Buch zieht. „... ob er aufgewacht ist oder noch schläft, ob alles, was jetzt um ihn herum vorgeht, Wahrheit und Wirklichkeit ist oder eine Fortsetzung seiner wirren Träume.“ (7)

Es geht um verschmähte Liebe, um Verleumdung und um Probleme mit der Identität, alles drei Themen, die Stoff für große Romane liefern. Mit Identitätsproblemen haben sich in der Vergangenheit verschiedene Autoren beschäftigt, z.B. Leo Perutz in „Der schwedische Reiter“ und José Saramago in "Der Doppelgänger". Während es bei Perutz um real vertauschte Identitäten geht, ist es bei Saramago die psychische Zerrissenheit seines Protagonisten Afonso, die im Fokus steht.

Psychisch zerrissen ist auch Protagonist Goljadkin. Schwer verständlich aber vielleicht auch genial ist, dass dieser nicht wechselhaft mit unterschiedlicher Identität agiert, sondern „real“ als zwei Personen in Erscheinung tritt. Phasenweise ist für den Leser die Situation klar („Aber wie groß war das Erstaunen, als [um 8:00 Uhr morgens] nicht nur der Gast [Jakow Petrowitsch Goljadkin], sondern sogar auch das Bett, auf dem der Gast geschlafen hatte, aus dem Zimmer verschwunden war!“ (99)) und phasenweise ist das Thema einfach schwer verständlich umgesetzt worden.

Wer Dostojewski kennen lernen möchte, sollte „Die Brüder Karamasow“ oder „Schuld und Sühne“ lesen. „Der Doppelgänger“ ist m.E. eher was für diejenigen Leser, die sich im Rahmen literarischer Studien mit dem Lebenswerk Dostojewskis beschäftigen. Es ist ein Entwicklungsroman, der deutlich macht, dass die Beschreibung der menschliche Psyche zu Dostojewskis Stärken gehört.

Bewertung vom 05.06.2016
St. Petri-Schnee
Perutz, Leo

St. Petri-Schnee


ausgezeichnet

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

In „Das sogenannte Übersinnliche“ (Essay „Der Weg nach Eleusis“) beschreibt Mathias Bröckers die Bedeutung bewusstseinserweiternder Stoffe auf die Entwicklung der Kultur von der Antike (Mysterium von Eleusis) bis in die Neuzeit (Timothy Learys LSD-Experimente). Bei den Substanzen, die in der Antike verwendet wurden, könnte es sich um Mutterkorn gehandelt haben. Mutterkorn ist ein Pilz, der auf Getreide wächst und halluzinogene Wirkstoffe, vergleichbar dem LSD, enthält. Dieser Pilz, so Bröckers These, ist Ursache für mystische Erfahrungen und damit physiologische Ursache der Religion.

Leo Perutz beschäftigt sich in seinem Roman „St. Petri-Schnee“, wie der Titel bereits andeutet, mit Mutterkorn und seinen halluzinogenen Wirkungen. Damit verarbeitete er bereits 1933 ein Thema, welches Bröckers sechs Jahrzehnte später in einem Sachbuch aufgegriffen hat. Perutz versteht es, dieses Thema geschickt auf mehreren Ebenen darzustellen, einmal unmittelbar in einem der parallelen Erzählstränge und einmal mittelbar als denkbare Erklärung, dafür, dass überhaupt zwei parallele Geschichten existieren. Diese Selbstbezüglichkeit ist genial.

Der Roman ist perfekt konstruiert, wie man es von Perutz gewohnt ist. Er enthält Visionen, Illusionen und politische Bezüge. Von den zwei Geschichten kann nur eine wahr sein. Für beide Varianten sprechen Indizien, die Perutz geschickt integriert hat. Die Perspektive ist die des Ich-Erzählers Georg Amberg. Protagonist Amberg sieht sich gezwungen, diese Widersprüche zu ertragen. Es gibt keine endgültige Antwort für ihn, aber das gilt auch für die Leser des Buches. Perutz ist ein hochkarätiger Meister der Erzählung. Der Roman lässt verschiedene Interpretationen zu und ist sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 04.06.2016
Dann mach doch die Bluse zu
Kelle, Birgit

Dann mach doch die Bluse zu


ausgezeichnet

Männer sind anders, Frauen auch

Autorin Birgit Kelle streitet dafür, dass Frauen ihren Lebensweg frei wählen können und fordert staatliche Unterstützung für diejenigen, die ihre Kinder selbst erziehen möchten. Mit den Auswüchsen des Feminismus hat sie Probleme. „Ein Konzept, oder sagen wir besser, eine Ideologie, die angetreten ist, uns alle gleicher zu machen, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen aufzuheben, hat Verwirrung hinterlassen, aber keine Erfolge.“ (8) Sie pocht darauf, ihr Leben so zu führen, wie es sie glücklich macht. „War der Feminismus nicht einst dafür eingetreten, dass ich genau das machen darf?“ (11)

Im zweiten Kapitel geht die Autorin auf ihren eigenen Lebensweg ein. Dieser individuelle Lebensweg prägt zweifelsohne auch ihre Einstellungen und Vorstellungen. Als Mutter von vier Kindern fragt sie, wer eigentlich Politik im Interesse der Mütter macht? Wer kämpft für ihre gesellschaftliche Anerkennung im Hinblick darauf, was sie für die Gesellschaft leisten? „Die Antwort ist einfach: niemand – und schon gar nicht der Feminismus.“ (47)

Die Feministinnen betreiben ein einseitiges Spiel, wie Autorin Kelle deutlich macht. Hausfrauen und Mütter gelten als nicht befreit, als ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Der Fall, dass Mütter mit ihrer Rolle Glücklichsein können, ist nicht vorgesehen, obwohl europaweite Studien das belegen. Über sechzig Prozent aller Mütter würden am liebsten zuhause bleiben, bis das Kind das dritte Lebensjahr vollendet hat.

Der Feminismus zielt darauf ab, die natürliche Bindung zwischen Eltern und Kind zu kappen. Mutterschaft soll auf ein Minimum reduziert werden. Sie wird in kapitalistischer Manier als ein Hindernis für den Arbeitsmarkt interpretiert. Niemand fragt danach, welche Folgen emotionale Distanz zu den eigenen Kindern in der Zukunft haben kann.

Autorin Kelle untersucht Gender- Mainstreaming, eine Ideologie, die Geschlechterrollen zu sozialen Konstrukten erklären will. Dies steht nicht nur im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, sondern auch zum Empfinden der meisten Menschen. Fakt ist, Menschen werden nicht geschlechtsneutral geboren. Die Biologie lässt sich nicht ausblenden.

Mit der Quotenregelung, einer Zwangsmaßnahme zur Förderung von Frauen, werden, so will es die Politik, Quotenfrauen geschaffen. Ist das im Interesse der Frauen, die eine Karriere auch aus eigener Kraft schaffen würden? Respekt muss erarbeitet und nicht per Gesetz verordnet werden. Birgit Kelle macht deutlich, dass die Argumentation zur Einführung einer Quote selbst unter Gender- Aspekten paradox klingt.

Die Autorin setzt sich mit Konstellationen von Lebenspartnerschaften auseinander. Noch besteht die „normale Familie“ aus Mutter-Vater-Kind, aber Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind im Kommen. Warum sollten Rentner- WGs nicht auch fordern, als Lebenspartnerschaft eingetragen zu werden. „Fakt bleibt: Obwohl totgesagt, existiert [herkömmliche] Familie munter weiter.“ (168)

Wer eigene Kinder großzieht, leistet keinen Beitrag für das System. „Hätte ich jedoch mit meiner Nachbarin die Kinder getauscht … und hätten wir uns gegenseitig für die Arbeit als Tagesmütter bezahlt, dann wären wir voll berufstätig gewesen und bekämen die Anerkennung der Gesellschaft und der Rentenkasse.“ (177) Seltsame Welt.

Wir leben in einer Welt, in der auf Europaebene gefordert wird, den Begriff „Mutter“ als eine „sexistische Stereotype“ zu bekämpfen. Unsere Gesellschaft wird ohne Familien ärmer werden. Birgit Kelle hat das, wie viele andere auch, erkannt und, im Gegensatz zu vielen anderen, auch publiziert. Es gelingt ihr, Widersprüche in unserer heutigen von Feminismus und Gender- Mainstreaming geprägten Gesellschaft plausibel aufzuzeigen. Sie schafft damit eine Gegenthese zu dem Gleichheitswahn in den Medien und in der Politik.

Bewertung vom 04.06.2016
Wenn die Haut zu dünn ist
Sellin, Rolf

Wenn die Haut zu dünn ist


weniger gut

Reizüberflutung

Hochsensible Menschen haben eine überdurchschnittlich differenzierte Wahrnehmung. Sie erfassen mehr Reize als andere Menschen und diese auch besonders intensiv. Es ist so, als ob ihre Antennen im Verhältnis zum Empfangsgerät überdimensioniert sind. Mangels wirksamer Filter entsteht eine Reizüberflutung.

Autor Rolf Sellin beschäftigt sich beruflich als Therapeut mit dem Thema. Er bezeichnet sich selbst als hochsensibel und weiß damit aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Um den persönlichen Bezug zu verdeutlichen, gebraucht er in seinen Ausführungen häufig die Ich-Form. Nach seiner Einschätzung wird das Thema bislang von der Psychologie nicht hinreichend beachtet.

Der Autor bietet einen einfach gestrickten Selbsttest an. Da Hochsensibilität leicht verwechselt werden kann mit anderen psychischen Besonderheiten, wie Sellin in "Therapeutische Wege, therapeutische Abwege" deutlich macht, kann ein Test nur ein Indiz sein, ob Hochsensibilität vorliegt. Letztlich muss ein Fachmann hinzugezogen werden.

Widersprüchlich wird es, wenn hochsensible Menschen gleichzeitig High Sensation Seekers sind und zeitweilig große Risiken eingehen, weil sie den besonderen Kick benötigen. Auch hierfür bietet der Autor einen kleinen Test an. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, erkannte schon Goethe und so stellt sich die Frage, ob die (natürliche) menschliche Zerrissenheit unbedingt kategorisiert werden muss.

Ich bezweifele, dass man Menschen einteilen kann in „hochsensibel“ und „nicht hochsensibel“. Für wahrscheinlicher halte ich, dass es fließende Übergänge gibt und auch zahlreiche Überlagerungen mit anderen psychischen Merkmalen, sodass eine Kategorisierung nur ein künstliches Raster darstellen kann. In diesem Sinne kommt es nur darauf an, ob man mit dem eigenen Profil zufrieden ist oder ob man es als Belastung empfindet.

Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich der Autor in „Wenn die eigene Wahrnehmung immer nur stört“. Eine Reizüberflutung kann dazu führen, dass wir uns selbst nicht mehr wahrnehmen, und damit geht die eigene Perspektive verloren. Wir werden abhängig von der Meinung anderer. Die spannende Frage lautet daher: "Wie lässt sich die eigene Wahrnehmung steuern?"

Die Antworten auf diese Frage sind dürftig. "Wenn man es gelernt hat, bewusst mit seiner Wahrnehmung umzugehen, verändert sich das Leben grundlegend und damit auch das Lebensgefühl." (72) Das mag stimmen, ist aber keine hinreichende Antwort. Es folgen mehr Problembeschreibungen als Lösungen.

In "Leichter leben im Alltag" finden sich Aussagen wie "Hochsensible nehmen mehr Reize auf" (109), "Anpassungsüberforderung löst Stress aus" (110) oder "Sie [die Hochsensiblen] fühlen sich hin und her gerissen, wenn sie wahrnehmen, dass sie nicht Herr ihres eigenen Denkens sind". Auch hier werden mehr Probleme beschrieben als gelöst.

Ja, Hochsensible denken anders, weil sie mehr Reize aufnehmen. (118) "Bewusst arbeiten" (138) klingt recht allgemein und auch die Fragen "Wo bin ich? Und wo will ich hin?" (139) kann man sich unabhängig von der psychischen Befindlichkeit stellen. Zu guter Letzt soll man "Spiritualität leben" (155), weil die tiefe Sehnsucht, die viele von uns spüren, in zwischenmenschlichen Kontakten nicht auf Dauer befriedigt werden kann.

Vieles von dem, was der Autor schreibt, ist sicherlich richtig. Seine Ausführungen, insbesondere seine Lösungen sind recht allgemein gehalten und passen so auch in viele sonstige Psycho-Ratgeber. Das Buch enthält zahlreiche Wiederholungen. Die Beschreibung des Phänomens einschließlich Abgrenzung und Wechselwirkung zu psychischen Erkrankungen kommt m.E. zu kurz. Es mangelt dem Buch an Tiefe.

4 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.06.2016
Das Orangenmädchen
Gaarder, Jostein

Das Orangenmädchen


ausgezeichnet

Eine Hommage an das Leben

Jostein Gaarder begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen Liebe und Trauer, Lebensfreude und Verzweiflung und spannender Erzählung und tiefsinniger Fragestellung. Es besteht kein Zweifel daran, dass Gaarder diesen Themen gewachsen ist. Die Geschichte macht neugierig, ist lesenswert und wirkt nicht aufgesetzt.

Der 15-jährige Georg wohnt mit seiner Schwester, seiner Mutter und seinem Stiefvater in Oslo. Sein Vater Jan Olav ist vor 11 Jahren gestorben. Eines Tages taucht ein Brief auf, den Jan Olav kurz vor seinem Tode an seinen Sohn Georg geschrieben hat. Der Brief war über viele Jahre gut versteckt und wurde zufällig beim Aufräumen entdeckt. Von diesem Brief handelt der Roman.

Das Hubble-Teleskop, welches an mehreren Stellen des Romans erwähnt wird, steht für die unendliche Entfernung zwischen Leben und Tod, aber auch für die tiefe Verbundenheit und geistige Nähe zwischen Georg und seinem Vater. Georg setzt sich mit seinem persönlichen Rätsel auseinander und sein Vater erhält posthum eine Antwort auf seine drängende Frage.

Autor Gaarder schreibt tiefsinnig und originell. Er beweist mit diesem Roman, dass er mit sensiblen Themen umgehen kann. Der Roman ist eine Hommage an das Leben. Es entsteht der Eindruck, dass Gaarder hier ein persönliches Buch geschrieben hat.

Bewertung vom 04.06.2016
Superkids
Schulte-Markwort, Michael

Superkids


sehr gut

Kinder im Optimierungskarussell

"Ich möchte aufzeigen, dass Bemühungen und Fürsorge um Kinder nicht im Optimierungswahn enden müssen, auch wenn es bisweilen ausweglos erscheint, sich den wahnhaften Bestrebungen zu widersetzen." (89)

Damit beschreibt Michael Schulte-Markwort, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit langjähriger Berufserfahrung, treffend den Spagat zwischen Fürsorge und Kontrolle, zwischen Forderung und Förderung, zwischen unbeschwerter Kindheit und realen gesellschaftlichen Lebensbedingungen.

Es geht nicht darum, aus dem Karussell auszusteigen, sondern eher darum, das Tempo zu regulieren. Der Autor beschreibt, wie Familien Einfluss nehmen können auf die Steuerung des Karussells. Zu diesem Zweck untersucht er die Situation der Kinder und der Eltern, beschreibt die familiäre Wirklichkeit und die gesellschaftlichen Zwänge, um im letzten Hauptkapitel das Handwerkszeug für den eigenen Weg vorzustellen.

Schulte-Markwort stellt zahlreiche Fallbeispiele vor. Dadurch werden die Ausführungen lebendiger und greifbarer. Denn viele Begriffe sind relativ und in abstrakten Beschreibungen nur schwer zu deuten. Was für den einen Forderung ist, ist für den anderen Überforderung, was für den einen Fürsorge ist, ist für den anderen Kontrolle. Die Beispiele tragen dazu bei, einen gesunden Mittelweg zu finden.

Auffallend sind die überwiegenden Fälle aus Akademikerfamilien, in denen die Hauptsorge zu sein scheint, die Kinder zum Abitur zu führen. Was ist mit Arbeiterfamilien, was mit Hauptschülern, Förderschülern, Realschülern? Haben die keine Probleme oder sind die Eltern weniger ehrgeizig oder sind die sowieso schon durchs Raster gefallen? Das Thema kommt zu kurz. Der Autor blendet Teile der gesellschaftlichen Realität aus oder wird mit Teilen der gesellschaftlichen Realität beruflich nicht konfrontiert.

Schulte-Markwort kritisiert die gute alte Zeit, dargestellt am Beispiel Bullerbü (248), und relativiert die Smartphone-Abhängigkeit als Randerscheinung (104). Es bedarf der genauen Analyse, ob die Gefahr durch die Beatles-Manie vergleichbar ist mit der heutigen Gefahr durch die Cybertechnik. So ist (nicht nur) Hirnforscher Manfred Spitzer davon überzeugt, dass die heutige Jugend zunehmend unter Empathieverlust leidet. Man muss nicht die Meinung von Spitzer vertreten, sollte argumentativ dann aber mehr zu bieten haben als den Vergleich mit den Beatles oder den alten Griechen.

Die kritischen Anmerkungen sollen nicht den Eindruck entstehen lassen, dass Schulte-Markwort polarisiert. Er argumentiert ausgewogen unter Hinzunahme verschiedener Perspektiven und findet, belegt anhand zahlreicher Fallbeschreibungen, Lösungen, mit denen alle Beteiligten leben können. Insbesondere analysiert er die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten und entwickelt angemessene Gegenmaßnahmen.

"Wenn dieses Buch Ihnen neue Perspektiven vermitteln kann, Denk- und Erlebnisstrukturen ermöglicht, mit denen Sie Ihre Situation zu Hause anders verstehen und angehen können, ist alles gewonnen, was mir am Herzen liegt." (21) Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bewertung vom 03.06.2016
Hoffnung Mensch
Schmidt-Salomon, Michael

Hoffnung Mensch


ausgezeichnet

Ein reifes Werk eines bekannten Aufklärers

"Denn so seltsam es auch klingen mag: Von seiner Veranlagung her ist der Mensch das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste, humorvollste Tier auf dem gesamten Planeten." (8)

Gegen die Ungerechtigkeit der Welt manifestierte sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Religion. Kern aller Religionen ist der Glaube an ein (gerechtes) Jenseits. Michael Schmidt-Salomon, bekannt dafür, den Menschen (supranaturalistische) Illusionen zu rauben, legt mit "Hoffnung Mensch" ein Werk vor, welches auf dem evolutionären Humanismus gründet und unabhängig von jeglichen Gottesbildern von dem Glauben getragen wird, dass sich die Menschheit positiv weiterentwickeln wird.

Auf acht Kapitel verteilt schlägt Schmidt-Salomon einen weiten Bogen durch die Menschheitsgeschichte und analysiert die Rolle und die Entwicklung des Menschen aus verschiedenen Perspektiven. Dabei glänzt er mit einem fundierten Wissen über naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Zusammenhänge, die in dieser komprimierten und auch anschaulichen Form auf dem Büchermarkt ihresgleichen suchen.

"Während traditionelle Weltanschauungen nur solche empirischen Befunde gelten ließen, die den jeweiligen Vorstellungen entsprachen, lässt der evolutionäre Humanismus nur solche Vorstellungen gelten, die empirischen Befunden entsprechen." (94) Nach traditionellen Vorstellungen handelt es sich bei empirischer Forschung und religiöser Weltanschauung um zwei getrennte Gebiete. Der evolutionäre Humanismus setzt dagegen auf die Einheit des Wissens.

Ob Mendel sorgfältig gearbeitet hat, wie der Autor schreibt (131), oder im Sinne seiner eigenen Theorie gemogelt hat, dürfte hier unerheblich sein. Die Ausführungen zu emergenten Phänomenen sind lesenswert, auch wenn Schmidt-Salomon – wie andere Autoren auch – nur den Rahmen abstecken kann, innerhalb dessen Bewusstsein erklärt werden muss. Was Bewusstsein im eigentlichen Sinne ist, liegt außerhalb unserer Erkenntnisfähigkeit.

Spannend wird es, wenn Schmidt-Salomon menschliche Eigenschaften bei Schimpansen und Bonobos beschreibt, einen Zusammenhang zwischen Schönheit und sexueller Auslese herstellt und die Entwicklung der Empathie und der Ethik aus dem Blickwinkel der Evolution erläutert. Dummerweise sind Empathie und Grausamkeit unheilvoll miteinander verknüpft. Dennoch sind in der kulturellen Entwicklung positive Akzente zu finden bis hin zur Forderung nach Grundrechten für Menschenaffen.

In seinem Resümee in den Kapiteln 7 und 8 beschreibt Schmidt-Salomon Krisen der Menschheit und Wege zu deren Beseitigung. Entgegen Huntingtons pessimistischem Ansatz in "Kampf der Kulturen" definiert Schmidt-Salomon personale Identitäten nicht nur über Rasse und Religion, sondern über eine Vielzahl von Kriterien, die erstgenannte Kriterien in den Hintergrund treten lassen. Auf diese Weise erhöhen sich die Gemeinsamkeiten unabhängig von Rasse und Religion. Zudem sind kulturelle Traditionen inhomogen und wandlungsfähig.

Ob es im Lager der religiös denkenden Menschen eine "bedeutsame Kurskorrektur" gegeben hat, vermag ich zu bezweifeln und auch die "humanistische Weltperspektive" erscheint mir im Hinblick auf die derzeitige reale Situation auf der Erde noch in weiter Ferne. (303) Vielleicht muss der zeitliche Rahmen erweitert werden, um zu solchen Ergebnissen zu gelangen. Der Sinn des Lebens ist subjektiv, ob es daneben noch einen objektiven Sinn gibt, kann niemand beantworten.

Schmidt-Salomon vermittelt Hoffnung in einem Maße, wie es der Rahmen des evolutionären Humanismus zulässt. Religionen mit einer jenseitigen Hoffnung werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Sie werden infrage gestellt, aber in einer Welt voller Ungerechtigkeiten auf unbestimmte Zeit als Glaubensmodelle bestehen bleiben. In der Summe handelt es sich um ein aufklärendes und im Kern positives Buch.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.