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miss.mesmerized
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Deutschland
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2018
Der aufblasbare Engel
Burchuladze, Zaza

Der aufblasbare Engel


ausgezeichnet

Langeweile ist der Grund, weshalb Nino und Niko in ihrer Küche eine Geisterbeschwörung durchführen. Ernsthaft daran glauben tun sie beide nicht und als der Geist von George Gurdjieff vor ihnen steht, sind sie einigermaßen überrascht. Dieser würde gerne nach einer kurzen Stippvisite wieder verschwinden, aber das will einfach nicht klappen und so muss er wohl notgedrungen für ein paar Tage bei dem georgischen Pärchen unterkommen. Nino und Niko sind fasziniert von dem Mann und seinen Fähigkeiten, eine Internetrecherche enthüllt ihnen, dass sie es wahrhaftig mit einem erstaunlichen Mann zu tun haben und als dieser ihnen Reichtum in Aussicht stellt, können sie das kaum ablehnen – auch wenn dafür eine Entführung notwendig wird.

Zaza Burchuladze konnte mich mit „Der aufblasbare Engel“ einmal mehr durch seinen lakonischen Schreibstil mir subtilem Humor begeistern. Die Handlung ist hochgradig absurd, aber viel entscheidender als das, was erzählt wird, ist das wie und damit kann der Schriftsteller, der seit Jahren im deutschen Exil leben muss, punkten.

Die Figuren sind allesamt auf ihre Weise schräg, allen voran der Geist: ehemaliger Gymnast, Heiler und auch Magier, der nun ein therapeutisches Korsett tragen muss, da er eben auch nicht mehr der Jüngste ist. Seine magische Mütze hilft ihm leider nicht aus dem Dilemma aus der Wohnung der Gorosias verschwinden zu können. Aber das ist nicht das Einzige, was ihn akut belastet, denn auch seine Erinnerung funktioniert nur noch mäßig, wenn er seinen unfreiwilligen Gastgebern seine Lehren nahebringen will, zeichnen sich immer wieder große Lücken ab:

Insbesondere vom vierten Weg. Neben dem Weg des Fakirs, dem Weg des Mönchs und dem Weg des Yogis, sagte er, der sich von den anderen dreien prinzipiell unterscheide. Doch an den Unterschied könne er sich leider nicht mehr erinnern. Übrigens könne er sich ebenfalls nicht erinnern, wie die letzte Folge von Dr. House ausgegangen war, die er am Vorabend gesehen habe.

Das schnelle Geld ist verlockend für Nino und Niko und so stimmen sie der Entführung Nugsar Tschikobawas zu, der in ihrem Haus immer seine Geliebte besucht. Um eine Million reicher halten sie Ausschau nach einer besseren Wohnung, aber nun haben sie neben dem Geist auch noch einen weiteren Mann an der Backe und dieser beginnt auch schon zu stinken und die Polizei wird ebenfalls auf das Treiben in der Wohnung aufmerksam...

Eine kurzweilige Geschichte, die von der Situationskomik und vor allem dem trockenen Humor des Autors lebt. Die Absurditäten und Ironien des Alltags in Georgien, das zwischen Vergangenheit und Zukunft steckt und wo Aberglaube und Kriminalität genauso ihren Platz haben wie das rechtschaffene Leben der einfachen Leute, wird so glaubwürdig abgebildet.

Bewertung vom 09.09.2018
Macbeth
Nesbø, Jo

Macbeth


ausgezeichnet

Schottland, 1970. In Fife herrscht Krieg, die Motorradgang der Norse Riders hat das Drogengeschäft gut im Griff, hinter ihnen steht der unheimliche Hecate, die dunkle Macht, die aus dem verborgenen heraus über die Stadt herrscht. Es gibt nur einen Mann, der sie wird aufhalten können: Inspector Macbeth und sein SWAT Team. Doch Macbeth ist selbst drogenabhängig und hat wenig eigenen Antrieb, seine Frau Lady ist es, die ihn pusht und der ihr eigener Erfolg mit ihrem Hotel und Casino nicht genügt. Sie beansprucht den Platz der Königin der Stadt und Macbeth soll zuerst den obersten Posten bei der Polizei übernehmen und dann Bürgermeister werden. Macbeth schafft seine Gegner nach einander aus dem Weg, clever befehligt er die Menschen um sich wie Spielfiguren – doch er hat sich verkalkuliert und im Geheimen baut sich eine Gegenwehr auf.

„Macbeth“ ist der siebte von den insgesamt acht geplanten Neuauflagen von Shakespeares Werken in der Hogarth Reihe. Wieder bekam ein großer Autor den Auftrag, den Klassiker in die Neuzeit zu transferieren und wie auch Tracy Chevalier hat Jo Nesbø sich für die 1970er entschieden, wenn er auch den Handlungsort in Schottland beibehielt. Dem norwegischen Krimimeister ist es dennoch gelungen, dem bekannten Stoff seine unverkennbare Marke aufzudrücken und es ist nicht leicht zu sagen, ob am Ende Shakespeare oder Jo Nesbø überwiegt.

Die Handlung ist komplex angelegt, folgt jedoch relativ stringent der Tragödie, so dass man, da die Namen der Figuren ebenfalls übernommen wurden, bereits weiß, wie es ausgeht, hier ist ganz eindeutig der Weg das Ziel. Überzeugend gelungen ist die Übertragung in die Stadt der Neuzeit, die von einer Rockerbande kontrolliert wird, in der der Drogenhandel floriert und seine eigenen Könige hervorbringt. Es sind immer noch die gleichen Laster wie schon zu Beginn der Menschheit an, die die Figuren antreiben: Hochmut, Zorn und Neid leiten ihr Handeln und bestimmen den Verlauf. Was vor 500 Jahren bei Shakespeare stimmte, ist heute noch genauso zutreffend.

Als Thriller hat der Roman alle wesentlichen Zutaten, die es braucht, um spannend zu sein: ebenbürtige Gegner, verstecke Doppelagenten, Sex und Liebe, alte Verbindungen, jede Menge Mord und Totschlag. Allerdings ist für mein Geschmack Nesbøs Macbeth ein wenig zu lang geraten, grade weil man den Ausgang kennt, wäre ein etwas stringenterer Zug Richtung Showdown wünschenswert gewesen, denn so entstehen doch vor allem im letzten Drittel einige Längen und bei den unzähligen detailliert ausgeführten Blutbädern hätten vielleicht auch auf das eine oder andere verzichtet werden können. Alles in allem, aber eine gelungene Umsetzung der Tragödie in einen Thriller.

Bewertung vom 08.09.2018
Slow Horses / Jackson Lamb Bd.1 (eBook, ePUB)
Herron, Mick

Slow Horses / Jackson Lamb Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Slough House, das Abschiebegleis der Geheimdienste. In diesem unscheinbaren Haus sammeln sich all diejenigen, die ihren Vorgesetzen auf die Füße getreten sind, wie der Abteilungsleiter Jackson Lamb, oder die eine Operation grandios vermasselt haben, wie River Cartwright. Wobei sich letzterer sicher ist, dass er von seinem Ex-Kollegen reingelegt wurde, damit dieser karrieretechnisch freie Fahrt hat. Als ein pakistanischer Junge entführt wird und die Geiselnehmer drohen, ihm innerhalb von 48 Stunden den Kopf abzuschneiden, um Rache an den Attentaten zu nehmen, die Islamisten im Königreich verübt haben, bleibt das Team zunächst unbeteiligt. Mit solchen Fällen haben sie nichts mehr zu tun. Jackson Lamb war immer ein unbequemer Agent, aber einer der besten und er kommt mit seinen Slow Horses, wie man seine Mitarbeiter scherzhaft wegen ihres Arbeitsplatzes und ihrer Vergangenheit getauft hat, schnell darauf, dass hinter dem inzwischen angelaufenen Medienspektakel eine unglaubliche Verschwörung steckt.

Mick Herrons Spionagethriller „Slow Horses“ ist der erste Band der Serie um Jackson Lamb, die inzwischen bereits aus sieben Bänden besteht. Sie gilt als die aktuell stärkste Agentenserie Großbritanniens und „Slow Horses“ war unter anderem für den Steel Dagger Award nominiert, den Herron dann mit dem zweiten Band „Dead Lions“ auch gewann.

Der Thriller beginnt rasant mitten in einem Einsatz, der jedoch sensationell scheitert und River Cartwright in das Slough Hosue befördert. Slough – das Sumpfloch – macht seinem Namen alle Ehre, betrachtet man die Vorgeschichten der dorthin versetzten MI5 Agenten; überhaupt sind die Namen von Herron hervorragend gewählt: Lamb, das unscheinbare Lamm, das zur Schlachtbank geführt und geopfert werden soll; James Webb, genannt Spider, der am Regent’s Park sein Netzt spinnt, um seine Karriere voranzutreiben; Standish, die keineswegs nur Garnitur ist und die zu unterschätzen ein böser Fehler wäre.

Herron gelingt es vor allem durch das Agieren seiner Figuren einen guten Eindruck nicht nur ihrer grenzwertigen psychischen Verfassung, sondern auch der Lage beim MI5 zu vermitteln. Er muss nicht langatmig beschreiben, sondern zeigt implizit, was schief läuft und wo sich der eigentliche Sumpf befindet. Seine Serie wurde schnell mit jener um George Smiley verglichen, die den Dienst auch so manches Mal eher zweifelhaft aussehen ließ. Der Fall wird sehr clever aufgebaut, man weiß schnell, was im Zentrum der Ermittlungen stehen wird, aber die Rolle, die die Slow Horses darin haben werden, bleibt zunächst unklar. Insgesamt lebt der Roman hauptsächlich von den eigenwilligen Figuren, die Herron interessant und überzeugend geschaffen hat und die mit viel Cleverness, aber ohne Zufälle, die Verschwörung aufdecken. Ein überzeugender Auftakt, der auch in den weitern Bänden viel Spannung verspricht.

Bewertung vom 08.09.2018
Hysteria
Nickel, Eckhart

Hysteria


gut

Wie immer geht Bergheim auf den Biomarkt. Beim Inspizieren der Himbeeren fällt ihm deren Farbe und Beschaffenheit auf, die seltsam unnatürlich anmuten. Auch ein Jungtier wirkt verstörend seltsam, er will der Sache auf den Grund gehen und landet direkt im Kulinarischen Institut, wo seine Ex-Freundin Charlotte, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, eine Leitungsstelle innehat. Bergheims Hypersensibilität erlaubt es, dass er Veränderungen wahrnehmen kann, die andere entgehen und bald schon befindet er sich in dem Institut, das in den Händen der sogenannten „Spurenloses Leben“ Bewegung ist, gefangen in einer unheimlichen Dystopie. Die Natur existiert nicht mehr, sie wurde durch eine neue Künstlichkeit ersetzt, die mit normaler Wahrnehmung kaum zu erkennen ist.

Eckhart Nickels Roman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018 steht, ist eine Herausforderung. Zunächst fasziniert der Text durch Bergheims sensorische Empfindungen, die en détail wiedergegeben werden und den Leser in ungeahnte Höhen der Sensorik führen. Textur, Farbe und Geschmack von alltäglichen Lebensmitteln und Dingen werden mit einer Intensität beschrieben, die man selten gelesen geschweige denn selbst wahrgenommen hat. Von Weinbeschreibungen ist man dergleichen gewohnt, bei Himbeeren überrascht dies.

Der Protagonist Bergheim – ich frage mich rückblickend, ob dieser überhaupt über einen Vornamen verfügt – ist schon arg schräg, seine Ordnungsliebe mutet etwas autistisch an, sein Verhältnis zu Charlotte geradezu obsessiv. Da passt die Hypersensibilität, die ihn etwas pedantisch wirken lässt. Ausgerechnet dieser Sonderling kommt einer unheimlichen Verschwörung auf die Spur. Viele Aspekte der Anhänger des „Spurenlosen Lebens“ sind auch in unserer Realität allgegenwärtig: Umweltschutz, nachhaltiges Leben, Achtung vor Flora und Fauna – aber sie werden hier auf die Spitze getrieben und geradezu ad absurdum geführt. Koffein und Nikotin sind verboten, aber durchaus auf dem Schwarzmarkt gegen Altgeld noch beschaffbar, Ersatzdrogen waren ebenso schnell gefunden wie die alten verboten waren – die Menschheit ist halt doch begrenzt in ihrer Evolutionsfähigkeit und kreativ im Finden von Schlupflöchern.

Der Roman verirrt sich für mein Empfinden irgendwann etwas in Absurdität und ist in der Handlung nur noch schwer zu folgen. Vieles an der Dystopie ist eine berechtigte Warnung, aber mit einem ansprechenderen Protagonisten wäre die Message vermutlich überzeugender dargeboten worden. Auch das Ende fand ich eher als etwas verunglückter Horrorschocker denn als überzeugender Abschluss.

Bewertung vom 06.09.2018
Das Verschwinden des Josef Mengele
Guez, Olivier

Das Verschwinden des Josef Mengele


ausgezeichnet

Josef Mengele – Todesengel von Auschwitz, der wohl grausamste und rücksichtsloseste Arzt der Geschichte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gelingt ihm die Flucht über mehrere europäische Länder nach Südamerika, wo er dank der Hilfe eifriger Unterstützer und mit falscher Identität untertauchen kann. Unter Perón führt er in Argentinien zunächst ein sicheres Leben, die deutsche Community ist gut vernetzt und steht unter dem Schutz des Diktators, doch nach dessen Sturz wird die Lage unbequem. Es folgen Jahrzehnte des Irrens über mehrere Länder, immer wieder auf der Flucht und in Angst vor Entdeckung. Mehrfach sind ihm Israelis wie auch andere auf den Spuren, aber dank eines guten Netzes starker Verbündeter gelingt es dem tausendfachen Mörder immer wieder, sich seiner gerechten Strafe zu entziehen.

Olivier Guez‘ Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ zeichnet die Spuren eines der schlimmsten Verbrecher des Nazi-Regimes nach. Dies gelingt dem Autor eindrucksvoll und dafür wurde er 2017 völlig zurecht mit den renommierten französischen Literaturpreis Prix Renaudot ausgezeichnet. Drei Jahre hat er an dem Buch gearbeitet, das auf wahren Eckdaten basiert, in weiten Teilen jedoch fiktiv bleiben muss, da bis heute das komplette Leben des Arztes nicht lückenlos dokumentiert ist.

In erster Linie besticht der Roman natürlich durch die Person des Josef Mengele. Er ist sicher eine der bekanntesten Figuren des Hitler-Regimes und viel wurde über ihn berichtet und geschrieben. Am beeindruckendsten war für mich jedoch die Haltung, die er bis zum letzten Tag standhaft beibehielt: er leugnete seine Taten nicht, aber die Bewertung dessen, was er getan hat, steht in starkem Kontrast zu Realität. Vermutlich um sich selbst zu schützen und sich nicht dem stellen zu müssen, was er verbrochen hat, sah er sich als Wissenschaftler und Forscher, der der Menschheit einen Dienst erweisen wollte:

„Was ist denn nun mit Auschwitz, Papa? Mengele weist die Schuld von sich. Er hat gekämpft, um „unbestrittene traditionelle Werte“ zu verteidigen, nie jemanden umgebracht. Im Gegenteil: Indem er bestimmte, wer arbeitsfähig ist, konnte er Leben retten. Er verspürt keinerlei Schuld.“


Seine grenzenlose Angst gerade von den Israelis entdeckt zu werden, zeigt jedoch auch, dass ihm trotz allem sehr bewusst gewesen sein muss, dass diese nicht nur Rache an ihm walten lassen würden, sondern durchaus mit guten Grund und Recht eine Verurteilung forderten. Womöglich ist das Leben in Angst schon die irdische Strafe, die ihm mehr zusetzt, als man vermuten mag:

„Nun ist er dem Fluch Kains ausgeliefert, dem ersten Mörder der Menschheit: ein Getriebener, der über die Erde irrt, wer ihm begegnet, wird ihn töten.“

Aber auch Guez Sprachgewalt ist überzeugend. Die nuancierten Zwischentöne, die die Verachtung seines Protagonisten deutlich hervortreten lassen, sind glänzend platziert. Aber auch die Kritik an den nachlässigen deutschen Behörden, die Mengele schon zeitnah nach Kriegsende hätten auffinden können, wird nachhaltig zum Ausdruck gebracht.

Man spürt eine gewisse Fassungslosigkeit ob der Haltung Mengeles, aber auch, weil auf Erden die Taten nicht gesühnt wurden. Auch wenn der Text letztlich eine fiktive Erzählung ist, was jedoch dem Erzählfluss zugutekommt, kann er als Mahnmal verstanden werden, das in breiter Masse gelesen werden sollte, damit die Geschichte sich nicht wiederholt.

Bewertung vom 31.08.2018
Verdammt perfekt und furchtbar glücklich
Mackintosh, Anneliese

Verdammt perfekt und furchtbar glücklich


sehr gut

Ottila McGregor hat sich viel vorgenommen für 2014, sie will nicht nur vom Alkohol loskommen, sondern glücklich werden, verdammt glücklich. Doch das Leben macht es ihr nicht einfach, zum einen wird ihre Schwester in die Psychiatrie eingewiesen, wo sie hochgradig selbstmordgefährdet ist und Ottila sich fragt, inwieweit ihr Verhalten dazu geführt hat, dass Mina nicht mehr leben möchte. Zum anderen muss sie feststellen, dass sie eine Affäre mit der Schwester von Thales, ihrer aktuellen Flamme, hatte. Mit Hilfe ihres „Kleinen Buchs vom Glück“, in dem sie ihren Alkoholkonsum und ihre Gedanken notiert, und ihrer Therapeutin will sie alles auf die Reihe bekommen, aber so einfach wie gedacht ist das nicht.

Ottila McGregor erinnert zunächst stark an Bidget Jones, die ihre kleinen Sorgen und Nöte mit ihrem Tagebuch teilt und ebenfalls in einer unglücklichen Affäre mit ihrem Chef feststeckt und viel zu gerne viel zu viel Alkohol konsumiert. Noch stärker jedoch als bei Helen Fieldings Heldin gestaltet Anneliese Mackintosh ihren Debütroman jedoch als Kaleidoskop verschiedenster Textsorten – Tagebucheinträge, E-Mails zwischen Mutter und Tochter, Textnachrichten, Transkripte der Therapiesitzung etc. – aus denen sich erst die Handlung konstruiert. Und auch wenn humorvolle Passagen und urkomische Dialoge vorkommen, dominieren für mich in „Verdammt perfekt und furchtbar glücklich“ doch die ernsthaften Aspekte.

In erster Linie sind es Ottilas schwierige Beziehungen, zum einen mit ihrem Vater bzw. dem nicht verarbeiteten Tod des Vaters. Aber auch zu ihrer psychisch kranken Schwester und der Frage, ob sie etwas für sie hätte tun können oder gar die Situation durch ihr Verhalten verschlimmert hat. Vorwürfe, die sie sich selbst macht und die nur bedingt entkräftet werden können. Auch die Therapieformen, die Mina ausgesetzt wird, werden durchaus kritisch angesprochen, vor allem der Aspekt, dass die Angehörigen zwar informiert werden, aber letztlich doch passiv zuschauen müssen, hat einen etwas faden Beigeschmack. Wie viele Frauen Anfang 30 will Ottila eigentlich nur eine funktionierende Beziehung, die ihr Stabilität und Sicherheit gibt, doch den passenden Partner zu finden scheint ein Ding der Unmöglichkeit.

Die Art, wie Mackintosh den Leser in Ottilas Leben blicken lässt, gestaltet Roman authentisch und lebendig. Die Protagonistin ist sympathisch, gerade weil sie weit davon entfernt ist, perfekt zu sein und dies eigentlich auch gar nicht anstrebt. Sie hätte nur gerne ein kleines Stück vom Glück – wer würde ihr das übelnehmen wollen?

Bewertung vom 31.08.2018
Marlène
Djian, Philippe

Marlène


ausgezeichnet

Wer ist Marlène? Und hat sie wirklich so eine böse Aura, wie Richard vermutet? Schwanger flüchtet Marlène zu ihrer Schwester Nath, die sie aus Pflichtgefühl aufnimmt, auch wenn die Situation gerade schwierig ist. Mit ihrer 18-jähirgen Tochter Mona liegt sie im Clinch, so dass diese zu Dan zieht, dem besten Freund ihres Vaters Richard. Dieser saß drei Monate im Gefängnis und steht kurz vor der Entlassung. Dan versucht in das bürgerliche Leben zurückzukehren, was nach den Erfahrungen im Jemen und Afghanistan nicht einfach ist, doch im Gegensatz zu Richard scheint es ihm zu gelingen. Er ist bemüht seinem Job regelmäßig nachzugehen, die Nachbarn zu grüßen und seine Hilfe anzubieten, um wieder aufgenommen zu werden in die Gesellschaft. Doch dann kommt Marlène und macht ihm eindeutige Avancen. Er wehrt sich und ahnt noch nicht, dass er besser die Flucht ergreifen sollte, denn Marlène zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her.

Philippe Dijan ist als Autor in der französischen Literaturszene seit Jahrzehnten eine feste Größe. Vor allem die komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen haben es ihm angetan, seinen Durchbruch hatte er 1985 mit „37°2 le matin“ (dt. „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“), in dem er die obsessive Liebe zwischen Betty und Zorg schildert. Sein Roman „Oh...“ aus dem Jahr 2012 wurde mit dem Prix Interallié ausgezeichnet und beschreibt die verstörende Anziehung zwischen einer Frau und ihrem Vergewaltiger.

Die Protagonistin, die dem aktuellen Roman den Titel verleiht, bleibt über weite Teile der Handlung erstaunlich blass. Es wird mehr über sie gesprochen als dass man sie selbst erleben würde und man fragt sich, wie die anderen Figuren zu ihrer Einschätzung kommen und inwieweit sie mit dieser richtig liegen. Richard hasst Marlène und macht keinen Hehl daraus. Die Probleme, die Richard und Dan haben, wieder festen Boden unter den Füßen zu finden, nehmen viel mehr Raum ein und man fragt sich fast, wie Marlène zu ihrer Ehre kommt, kann sie Dan vielleicht doch von seinem Trauma befreien?

„Er kannte nicht nur Angst, Blut und Schmerz, aber er konnte sich schrubben, so viel er wollte, es ging nicht ab, es kam immer wieder, und jedes Mal färbte es auf den Rest ab (...) Er hatte sich daran gewöhnt. In gewisser Weise war er schon tot, dachte er. Weder Marlène noch sonst jemand konnte etwas dafür. Wer einmal in der Hölle gewesen war, kam nicht wieder zurück.“

Die zarte Verbindung scheint jedoch eine Zukunft zu haben, zumindest in Dans Augen. Er ist bereit sich dafür auch gegen seinen Freund zu stellen und Marlène zu verteidigen. Doch dann folgt unweigerlich der Moment des Schreckens und Grauens. Völlig unvorbereitet trifft es einem als Leser und Dijan legt sofort nach, kaum ein Herzschlag vergeht zwischen den Schlägen, die er uns zumutet.

In kurzen Sequenzen erzählt Dijan seine Geschichte, wechselnd zwischen den Figuren erlaubt er Innen- und Außensicht, was ein komplexes Bild entstehen lässt und die Zwänge, denen sie ausgesetzt sind, anschaulich verdeutlicht. Dialoge und Beschreibungen gehen fließend ineinander über und entwickeln so die Figuren und die Handlung unentwegt fort. Kaum scheint man sie greifen zu können, entweichen sie wieder.

Dijan ist keine leichte Kost, aber ein sprachlicher Virtuose, der ein Auge für die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele hat.

Bewertung vom 29.08.2018
Fear
Kurbjuweit, Dirk

Fear


sehr gut

Randolph Tiefenthaler is a successful Berlin based architect. With his wife Rebecca and their two kids, they just moved into the stylish old houses of the German capital where they have find the seemingly perfect home. Yet, it doesn’t take too long until the neighbour from the basement, Dieter Tiberius, becomes more and more awkward and strange. He writes love letters to Rebecca, which is just annoying, but then he accuses her of child abuse and repeatedly calls the police to check on them. Randolph gets a lawyer, he contacts the youth welfare service, but there is nothing he can do to protect his family from the crazy man in the basement. The fear that he might attack his wife or hurt the children grows and with it the marriage become increasingly fragile. There nerves are on the edge until the day they cannot support it anymore and they need to help themselves to protect the family.

Dirk Kurbjuweit plays with the family idyll which is threatened in the core: the home. The loving father who has built the perfect life for himself and his wife, becomes suddenly incapable of action. He cannot protect his beloved, there is a danger close at hand that he cannot control and sees himself exposed defencelessly. The pressure which is on Randolph and Rebecca is palpable and you as a reader also feel the growing impression of being helpless, powerless and most of all vulnerable.

Even though from the start it is clear what the outcome of all will be, the thriller is full of suspense and the development of the plot gives you the creeps. Kurbjuweit has a very lively style of writing and making Randolph the narrator underlines the feeling of being a part of the story and makes it easy to sympathise with him and to commiserate with him.